Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

fläche die einzelnen zu der Anschauung gehörenden Wahrneh-
mungen bilden, die aber alle in die eine Spitze auslaufen, wel-
che das Wort bildet.

§. 104. Das Wort -- das Ding an sich.

So erhält nun das Wort die Bedeutung des Dinges an
sich:
es bezeichnet die Einheit, an welcher die Summe der
Wahrnehmungen haftet, den unveränderlichen Kern, welcher fest
bleibt, was er ist, wenn auch einzelne Merkmale sich ändern.
Der Mensch kennt z. B. den Wolf, d. h. er hat diesen bestimm-
ten, aus solchen und so verbundenen Wahrnehmungen bestehen-
den Complex. Die innere Sprachform, das instinctive Selbst-
bewußtsein, erfaßt diesen Complex an einer besonders hellen
Stelle, an der Anschauung des Zerreißens. Das Bewußt-
sein bildet also eine einheitliche Anschauung von diesem An-
schauungscomplex, indem es den Wolf sich vorstellt als den
Zerreißer. Nun ist der Zerreißer der Wolf an sich. Der
sich darbietende Wolf, die einzelne wirkliche Anschauung, ist
nicht immer ganz dasselbe: das Grau ist bald heller, bald dunk-
ler; die Größe, das Alter, die Wuth, die Kraft das eine Mal
geringer, als das andere Mal. In allen diesen Anschauungen
aber bleibt trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Wahr-
nehmungen, die in dem jedesmaligen Falle die Anschauungs-
summe ausmachen, die Einheit, in welcher die Summe vorgestellt
wird, der Zerreißende, durchaus beständig. Diese Einheit ist
also das Band aller einzelnen Wahrnehmungen; sie scheint der
Grund, welcher uns nöthigt, die Wahrnehmungen so, in solcher
Anzahl und solcher Form zusammenzufassen -- und diese Ein-
heit ist das Wort; so bezeichnet das Wort das Ding an sich.
Auch hatte ja das einfache Volksbewußtsein und die Mystik
immer den Glauben, im Worte liege das Wesen des Dinges,
sein Leben; daher seine Bedeutung für alle Zauberei.

§. 105. Das Wort -- Allgemeines, die Art.

Dies ist nun ein unermeßlicher Gewinn fär das Bewußt-
sein: diese Verwandlung der Anschauungssumme in die vor-
gestellte Einheit eines Dinges,
an welchem jene Summe
hängt, und welches eben die Ursache ist, daß die Summe so
groß und gerade so gebildet ist. Mit dieser Einheit ist sogleich
zum ersten Male ein Allgemeines gegeben. Eine allgemeine sinn-
liche Anschauung ist an sich ein Widerspruch. Die Vorstel-
lung ist das erste allgemeine Erzeugniß des Bewußtseins; und

fläche die einzelnen zu der Anschauung gehörenden Wahrneh-
mungen bilden, die aber alle in die eine Spitze auslaufen, wel-
che das Wort bildet.

§. 104. Das Wort — das Ding an sich.

So erhält nun das Wort die Bedeutung des Dinges an
sich:
es bezeichnet die Einheit, an welcher die Summe der
Wahrnehmungen haftet, den unveränderlichen Kern, welcher fest
bleibt, was er ist, wenn auch einzelne Merkmale sich ändern.
Der Mensch kennt z. B. den Wolf, d. h. er hat diesen bestimm-
ten, aus solchen und so verbundenen Wahrnehmungen bestehen-
den Complex. Die innere Sprachform, das instinctive Selbst-
bewußtsein, erfaßt diesen Complex an einer besonders hellen
Stelle, an der Anschauung des Zerreißens. Das Bewußt-
sein bildet also eine einheitliche Anschauung von diesem An-
schauungscomplex, indem es den Wolf sich vorstellt als den
Zerreißer. Nun ist der Zerreißer der Wolf an sich. Der
sich darbietende Wolf, die einzelne wirkliche Anschauung, ist
nicht immer ganz dasselbe: das Grau ist bald heller, bald dunk-
ler; die Größe, das Alter, die Wuth, die Kraft das eine Mal
geringer, als das andere Mal. In allen diesen Anschauungen
aber bleibt trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Wahr-
nehmungen, die in dem jedesmaligen Falle die Anschauungs-
summe ausmachen, die Einheit, in welcher die Summe vorgestellt
wird, der Zerreißende, durchaus beständig. Diese Einheit ist
also das Band aller einzelnen Wahrnehmungen; sie scheint der
Grund, welcher uns nöthigt, die Wahrnehmungen so, in solcher
Anzahl und solcher Form zusammenzufassen — und diese Ein-
heit ist das Wort; so bezeichnet das Wort das Ding an sich.
Auch hatte ja das einfache Volksbewußtsein und die Mystik
immer den Glauben, im Worte liege das Wesen des Dinges,
sein Leben; daher seine Bedeutung für alle Zauberei.

§. 105. Das Wort — Allgemeines, die Art.

Dies ist nun ein unermeßlicher Gewinn fär das Bewußt-
sein: diese Verwandlung der Anschauungssumme in die vor-
gestellte Einheit eines Dinges,
an welchem jene Summe
hängt, und welches eben die Ursache ist, daß die Summe so
groß und gerade so gebildet ist. Mit dieser Einheit ist sogleich
zum ersten Male ein Allgemeines gegeben. Eine allgemeine sinn-
liche Anschauung ist an sich ein Widerspruch. Die Vorstel-
lung ist das erste allgemeine Erzeugniß des Bewußtseins; und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0358" n="320"/>
fläche die einzelnen zu der Anschauung gehörenden Wahrneh-<lb/>
mungen bilden, die aber alle in die <hi rendition="#g">eine</hi> Spitze auslaufen, wel-<lb/>
che das Wort bildet.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 104. Das Wort &#x2014; das Ding an sich.</head><lb/>
                <p>So erhält nun das Wort die Bedeutung des <hi rendition="#g">Dinges an<lb/>
sich:</hi> es bezeichnet die Einheit, an welcher die Summe der<lb/>
Wahrnehmungen haftet, den unveränderlichen Kern, welcher fest<lb/>
bleibt, was er ist, wenn auch einzelne Merkmale sich ändern.<lb/>
Der Mensch kennt z. B. den Wolf, d. h. er hat diesen bestimm-<lb/>
ten, aus solchen und so verbundenen Wahrnehmungen bestehen-<lb/>
den Complex. Die innere Sprachform, das instinctive Selbst-<lb/>
bewußtsein, erfaßt diesen Complex an einer besonders hellen<lb/>
Stelle, an der Anschauung des <hi rendition="#g">Zerreißens</hi>. Das Bewußt-<lb/>
sein bildet also eine einheitliche Anschauung von diesem An-<lb/>
schauungscomplex, indem es den Wolf sich <hi rendition="#g">vorstellt</hi> als den<lb/>
Zerreißer. Nun ist der Zerreißer der Wolf <hi rendition="#g">an sich</hi>. Der<lb/>
sich darbietende Wolf, die einzelne wirkliche Anschauung, ist<lb/>
nicht immer ganz dasselbe: das Grau ist bald heller, bald dunk-<lb/>
ler; die Größe, das Alter, die Wuth, die Kraft das eine Mal<lb/>
geringer, als das andere Mal. In allen diesen Anschauungen<lb/>
aber bleibt trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Wahr-<lb/>
nehmungen, die in dem jedesmaligen Falle die Anschauungs-<lb/>
summe ausmachen, die Einheit, in welcher die Summe vorgestellt<lb/>
wird, der Zerreißende, durchaus beständig. Diese Einheit ist<lb/>
also das Band aller einzelnen Wahrnehmungen; sie scheint der<lb/>
Grund, welcher uns nöthigt, die Wahrnehmungen so, in solcher<lb/>
Anzahl und solcher Form zusammenzufassen &#x2014; und diese Ein-<lb/>
heit ist das Wort; so bezeichnet das Wort das Ding an sich.<lb/>
Auch hatte ja das einfache Volksbewußtsein und die Mystik<lb/>
immer den Glauben, im Worte liege das Wesen des Dinges,<lb/>
sein Leben; daher seine Bedeutung für alle Zauberei.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 105. Das Wort &#x2014; Allgemeines, die Art.</head><lb/>
                <p>Dies ist nun ein unermeßlicher Gewinn fär das Bewußt-<lb/>
sein: diese Verwandlung der Anschauungssumme in die <hi rendition="#g">vor-<lb/>
gestellte Einheit eines Dinges,</hi> an welchem jene Summe<lb/>
hängt, und welches eben die Ursache ist, daß die Summe so<lb/>
groß und gerade so gebildet ist. Mit dieser Einheit ist sogleich<lb/>
zum ersten Male ein Allgemeines gegeben. Eine allgemeine sinn-<lb/>
liche Anschauung ist an sich ein Widerspruch. Die Vorstel-<lb/>
lung ist das erste allgemeine Erzeugniß des Bewußtseins; und<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0358] fläche die einzelnen zu der Anschauung gehörenden Wahrneh- mungen bilden, die aber alle in die eine Spitze auslaufen, wel- che das Wort bildet. §. 104. Das Wort — das Ding an sich. So erhält nun das Wort die Bedeutung des Dinges an sich: es bezeichnet die Einheit, an welcher die Summe der Wahrnehmungen haftet, den unveränderlichen Kern, welcher fest bleibt, was er ist, wenn auch einzelne Merkmale sich ändern. Der Mensch kennt z. B. den Wolf, d. h. er hat diesen bestimm- ten, aus solchen und so verbundenen Wahrnehmungen bestehen- den Complex. Die innere Sprachform, das instinctive Selbst- bewußtsein, erfaßt diesen Complex an einer besonders hellen Stelle, an der Anschauung des Zerreißens. Das Bewußt- sein bildet also eine einheitliche Anschauung von diesem An- schauungscomplex, indem es den Wolf sich vorstellt als den Zerreißer. Nun ist der Zerreißer der Wolf an sich. Der sich darbietende Wolf, die einzelne wirkliche Anschauung, ist nicht immer ganz dasselbe: das Grau ist bald heller, bald dunk- ler; die Größe, das Alter, die Wuth, die Kraft das eine Mal geringer, als das andere Mal. In allen diesen Anschauungen aber bleibt trotz aller Verschiedenheit in den einzelnen Wahr- nehmungen, die in dem jedesmaligen Falle die Anschauungs- summe ausmachen, die Einheit, in welcher die Summe vorgestellt wird, der Zerreißende, durchaus beständig. Diese Einheit ist also das Band aller einzelnen Wahrnehmungen; sie scheint der Grund, welcher uns nöthigt, die Wahrnehmungen so, in solcher Anzahl und solcher Form zusammenzufassen — und diese Ein- heit ist das Wort; so bezeichnet das Wort das Ding an sich. Auch hatte ja das einfache Volksbewußtsein und die Mystik immer den Glauben, im Worte liege das Wesen des Dinges, sein Leben; daher seine Bedeutung für alle Zauberei. §. 105. Das Wort — Allgemeines, die Art. Dies ist nun ein unermeßlicher Gewinn fär das Bewußt- sein: diese Verwandlung der Anschauungssumme in die vor- gestellte Einheit eines Dinges, an welchem jene Summe hängt, und welches eben die Ursache ist, daß die Summe so groß und gerade so gebildet ist. Mit dieser Einheit ist sogleich zum ersten Male ein Allgemeines gegeben. Eine allgemeine sinn- liche Anschauung ist an sich ein Widerspruch. Die Vorstel- lung ist das erste allgemeine Erzeugniß des Bewußtseins; und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/358
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/358>, abgerufen am 26.04.2024.