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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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len. Denn die Sprache oder Rede umfaßt mehr als bloß die
Darstellung, da sie nicht jedes Allgemeine darstellt, sondern
manches Allgemeine nur ausspricht und in dem Geiste des Hö-
renden voraussetzt. Die Grammatik als Wissenschaft des Dar-
stellens würde somit nicht die ganze Wissenschaft der Spra-
che sein.

Ferner müssen wir hier aber wieder eine Sophisterei Beckers
aufdecken. Er hat mehrmals wiederholt, Darstellen heiße, das
Allgemeine auf Individuelles zurückführen. Ganz dasselbe heißt
aber bei ihm auch Verstehen. Man kann also nur darstellen,
was man verstanden hat, und beide sind nur dadurch verschie-
den, daß Verstehen ein Darstellen des Denkenden für ihn selbst
ist, Darstellen aber heißt: einem Andern zu verstehen geben.
So sagt auch Becker (S. 157): "Ein uns mitgetheilter Gedanke
wird um desto leichter verstanden, und um desto vollkomm-
ner in unsern Geist aufgenommen, je mehr in dem Gedanken
die Dinge in concreter Individualität dargestellt und
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen An-
schauung zurückgeführt
werden." Hier wird offenbar dem
von uns Gesagten gemäß Darstellen als gleichbedeutend mit
Verstehen genommen. Das Dargestellte wird dann "wieder er-
kannt
." Ist denn nun aber das, was in der sprachlichen Dar-
stellung geschieht und nur geschehen kann, die Versetzung des
Artbegriffes in eine individuelle Beziehung zum Denkenden, ein
Darstellen "in concreter Individualität" und ein "Zurückführen
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen Anschauung"?

Hiernach finden wir aber auch eine neue, noch größere
Schwierigkeit, Grammatik von Logik zu scheiden. Oben sahen
wir nur, daß die Grammatik als Wissenschaft des Darstellens
nicht die ganze Sprache umfasse; jetzt sehen wir, daß die Dar-
stellung selbst wesentlich nichts anderes ist als Verständniß.
Da nun aber dieses eine wesentliche Ergänzung des Erkennens
ist und mit letzterem zusammen erst das Denken ausmacht, so
gehört auch Verständniß und also auch Darstellen in die Lehre
vom Denken, die wir hier kurzweg Logik nannten. Auch nennt
Becker ausdrücklich das Darstellen einen Vorgang "im Den-
ken."

Endlich ist es wohl überflüssig, darauf aufmerksam zu ma-
chen, wie dieser Unterschied auf dem Spiel mit dem Allgemei-
nen und Besondern beruht, also in sich zusammenfällt. Ich bitte

len. Denn die Sprache oder Rede umfaßt mehr als bloß die
Darstellung, da sie nicht jedes Allgemeine darstellt, sondern
manches Allgemeine nur ausspricht und in dem Geiste des Hö-
renden voraussetzt. Die Grammatik als Wissenschaft des Dar-
stellens würde somit nicht die ganze Wissenschaft der Spra-
che sein.

Ferner müssen wir hier aber wieder eine Sophisterei Beckers
aufdecken. Er hat mehrmals wiederholt, Darstellen heiße, das
Allgemeine auf Individuelles zurückführen. Ganz dasselbe heißt
aber bei ihm auch Verstehen. Man kann also nur darstellen,
was man verstanden hat, und beide sind nur dadurch verschie-
den, daß Verstehen ein Darstellen des Denkenden für ihn selbst
ist, Darstellen aber heißt: einem Andern zu verstehen geben.
So sagt auch Becker (S. 157): „Ein uns mitgetheilter Gedanke
wird um desto leichter verstanden, und um desto vollkomm-
ner in unsern Geist aufgenommen, je mehr in dem Gedanken
die Dinge in concreter Individualität dargestellt und
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen An-
schauung zurückgeführt
werden.“ Hier wird offenbar dem
von uns Gesagten gemäß Darstellen als gleichbedeutend mit
Verstehen genommen. Das Dargestellte wird dann „wieder er-
kannt
.“ Ist denn nun aber das, was in der sprachlichen Dar-
stellung geschieht und nur geschehen kann, die Versetzung des
Artbegriffes in eine individuelle Beziehung zum Denkenden, ein
Darstellen „in concreter Individualität“ und ein „Zurückführen
auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen Anschauung“?

Hiernach finden wir aber auch eine neue, noch größere
Schwierigkeit, Grammatik von Logik zu scheiden. Oben sahen
wir nur, daß die Grammatik als Wissenschaft des Darstellens
nicht die ganze Sprache umfasse; jetzt sehen wir, daß die Dar-
stellung selbst wesentlich nichts anderes ist als Verständniß.
Da nun aber dieses eine wesentliche Ergänzung des Erkennens
ist und mit letzterem zusammen erst das Denken ausmacht, so
gehört auch Verständniß und also auch Darstellen in die Lehre
vom Denken, die wir hier kurzweg Logik nannten. Auch nennt
Becker ausdrücklich das Darstellen einen Vorgang „im Den-
ken.“

Endlich ist es wohl überflüssig, darauf aufmerksam zu ma-
chen, wie dieser Unterschied auf dem Spiel mit dem Allgemei-
nen und Besondern beruht, also in sich zusammenfällt. Ich bitte

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[104/0142] len. Denn die Sprache oder Rede umfaßt mehr als bloß die Darstellung, da sie nicht jedes Allgemeine darstellt, sondern manches Allgemeine nur ausspricht und in dem Geiste des Hö- renden voraussetzt. Die Grammatik als Wissenschaft des Dar- stellens würde somit nicht die ganze Wissenschaft der Spra- che sein. Ferner müssen wir hier aber wieder eine Sophisterei Beckers aufdecken. Er hat mehrmals wiederholt, Darstellen heiße, das Allgemeine auf Individuelles zurückführen. Ganz dasselbe heißt aber bei ihm auch Verstehen. Man kann also nur darstellen, was man verstanden hat, und beide sind nur dadurch verschie- den, daß Verstehen ein Darstellen des Denkenden für ihn selbst ist, Darstellen aber heißt: einem Andern zu verstehen geben. So sagt auch Becker (S. 157): „Ein uns mitgetheilter Gedanke wird um desto leichter verstanden, und um desto vollkomm- ner in unsern Geist aufgenommen, je mehr in dem Gedanken die Dinge in concreter Individualität dargestellt und auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen An- schauung zurückgeführt werden.“ Hier wird offenbar dem von uns Gesagten gemäß Darstellen als gleichbedeutend mit Verstehen genommen. Das Dargestellte wird dann „wieder er- kannt.“ Ist denn nun aber das, was in der sprachlichen Dar- stellung geschieht und nur geschehen kann, die Versetzung des Artbegriffes in eine individuelle Beziehung zum Denkenden, ein Darstellen „in concreter Individualität“ und ein „Zurückführen auf die leiblichen Besonderheiten der sinnlichen Anschauung“? Hiernach finden wir aber auch eine neue, noch größere Schwierigkeit, Grammatik von Logik zu scheiden. Oben sahen wir nur, daß die Grammatik als Wissenschaft des Darstellens nicht die ganze Sprache umfasse; jetzt sehen wir, daß die Dar- stellung selbst wesentlich nichts anderes ist als Verständniß. Da nun aber dieses eine wesentliche Ergänzung des Erkennens ist und mit letzterem zusammen erst das Denken ausmacht, so gehört auch Verständniß und also auch Darstellen in die Lehre vom Denken, die wir hier kurzweg Logik nannten. Auch nennt Becker ausdrücklich das Darstellen einen Vorgang „im Den- ken.“ Endlich ist es wohl überflüssig, darauf aufmerksam zu ma- chen, wie dieser Unterschied auf dem Spiel mit dem Allgemei- nen und Besondern beruht, also in sich zusammenfällt. Ich bitte

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/142>, abgerufen am 26.04.2024.