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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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der Logik; sondern die Kategorien sind schon in ein be-
stimmtes, nicht durch die Logik gegebenes, Verhältniß zu
einander gebracht, und in bestimmter, nicht von der Logik vor-
gezeichneter, Weise modificirt worden. Das Leitende dieser
Verhältnisse und Modificationen aber ist die Rücksicht auf die
Grammatik, auf die Bedürfnisse der Sprache. Diese logische
Grammatik, welche weder Grammatik noch Logik ist, bildet das
vermittelnde Glied zwischen beiden und spricht, wenn man einer-
seits von der Logik ausgeht, die Forderungen der Logik an die
Sprache, wenn man andererseits von der Grammatik ausgeht,
das Bedürfniß der Sprache nach ihrer logischen Seite aus.

Zu dieser logischen, idealen Grammatik, welche die wirk-
lichen Sprachen noch nicht berührt, käme nun erst die wirkliche
Grammatik, welche nicht bloß zu sehen hätte, welche Lautfor-
men in jeder Sprache für die Kategorien der idealen Gramma-
tik existiren, sondern auch, ob das ideale Kategoriensystem in
einer Sprache vollständig und ohne Lücke, rein nach der idea-
len Bedeutung oder im Gegentheil nur mit getrübter Bedeutung,
ausschließlich oder mit fremdartigen Elementen vermischt, ent-
halten ist. Denn nach allen diesen Beziehungen weichen die
wirklichen Sprachen von der idealen Grammatik ab. Sie be-
sitzen theils das ideale Schema nicht vollständig, theils haben
sie die Bedeutung einzelner Kategorien getrübt, theils haben sie
ganz eigenthümliche, weder der Logik angehörige, noch dem
Wesen der Sprache nothwendige Kategorien geschaffen und nicht
nur mit letztern den Mangel des Schemas ersetzt, sondern sogar
dieselben in wuchernder Ueppigkeit entwickelt. Diese wirkliche
Grammatik zerfiele in eine besondere und eine allgemeine. Die
besondere hätte die eben bestimmte Aufgabe für die besondere
Sprache zu erfüllen; die allgemeine hätte zu zeigen, welche Ka-
tegorien wohl überhaupt in der Sprache der Menschheit auftre-
ten, und welchen Grad, welchen Umfang die Verschiedenheit,
in der in Wirklichkeit jene idealen Kategorien der logischen
Grammatik umgestaltet worden sind, und welche Größe und
Bedeutung der Abstand der einzelnen Sprachen von einander
erreicht hat. Für diese allgemeine Grammatik würde die ideale
gewissermaßen das Knochengerüste bilden. Die ideale würde
aber auch erst durch die allgemeine mit sprachlichem Fleisch
und Blut bekleidet werden und erst durch sie etwas anderes
sein als ein todtes, trocknes Gerippe -- lebendiger Leib; denn

der Logik; sondern die Kategorien sind schon in ein be-
stimmtes, nicht durch die Logik gegebenes, Verhältniß zu
einander gebracht, und in bestimmter, nicht von der Logik vor-
gezeichneter, Weise modificirt worden. Das Leitende dieser
Verhältnisse und Modificationen aber ist die Rücksicht auf die
Grammatik, auf die Bedürfnisse der Sprache. Diese logische
Grammatik, welche weder Grammatik noch Logik ist, bildet das
vermittelnde Glied zwischen beiden und spricht, wenn man einer-
seits von der Logik ausgeht, die Forderungen der Logik an die
Sprache, wenn man andererseits von der Grammatik ausgeht,
das Bedürfniß der Sprache nach ihrer logischen Seite aus.

Zu dieser logischen, idealen Grammatik, welche die wirk-
lichen Sprachen noch nicht berührt, käme nun erst die wirkliche
Grammatik, welche nicht bloß zu sehen hätte, welche Lautfor-
men in jeder Sprache für die Kategorien der idealen Gramma-
tik existiren, sondern auch, ob das ideale Kategoriensystem in
einer Sprache vollständig und ohne Lücke, rein nach der idea-
len Bedeutung oder im Gegentheil nur mit getrübter Bedeutung,
ausschließlich oder mit fremdartigen Elementen vermischt, ent-
halten ist. Denn nach allen diesen Beziehungen weichen die
wirklichen Sprachen von der idealen Grammatik ab. Sie be-
sitzen theils das ideale Schema nicht vollständig, theils haben
sie die Bedeutung einzelner Kategorien getrübt, theils haben sie
ganz eigenthümliche, weder der Logik angehörige, noch dem
Wesen der Sprache nothwendige Kategorien geschaffen und nicht
nur mit letztern den Mangel des Schemas ersetzt, sondern sogar
dieselben in wuchernder Ueppigkeit entwickelt. Diese wirkliche
Grammatik zerfiele in eine besondere und eine allgemeine. Die
besondere hätte die eben bestimmte Aufgabe für die besondere
Sprache zu erfüllen; die allgemeine hätte zu zeigen, welche Ka-
tegorien wohl überhaupt in der Sprache der Menschheit auftre-
ten, und welchen Grad, welchen Umfang die Verschiedenheit,
in der in Wirklichkeit jene idealen Kategorien der logischen
Grammatik umgestaltet worden sind, und welche Größe und
Bedeutung der Abstand der einzelnen Sprachen von einander
erreicht hat. Für diese allgemeine Grammatik würde die ideale
gewissermaßen das Knochengerüste bilden. Die ideale würde
aber auch erst durch die allgemeine mit sprachlichem Fleisch
und Blut bekleidet werden und erst durch sie etwas anderes
sein als ein todtes, trocknes Gerippe — lebendiger Leib; denn

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[119/0157] der Logik; sondern die Kategorien sind schon in ein be- stimmtes, nicht durch die Logik gegebenes, Verhältniß zu einander gebracht, und in bestimmter, nicht von der Logik vor- gezeichneter, Weise modificirt worden. Das Leitende dieser Verhältnisse und Modificationen aber ist die Rücksicht auf die Grammatik, auf die Bedürfnisse der Sprache. Diese logische Grammatik, welche weder Grammatik noch Logik ist, bildet das vermittelnde Glied zwischen beiden und spricht, wenn man einer- seits von der Logik ausgeht, die Forderungen der Logik an die Sprache, wenn man andererseits von der Grammatik ausgeht, das Bedürfniß der Sprache nach ihrer logischen Seite aus. Zu dieser logischen, idealen Grammatik, welche die wirk- lichen Sprachen noch nicht berührt, käme nun erst die wirkliche Grammatik, welche nicht bloß zu sehen hätte, welche Lautfor- men in jeder Sprache für die Kategorien der idealen Gramma- tik existiren, sondern auch, ob das ideale Kategoriensystem in einer Sprache vollständig und ohne Lücke, rein nach der idea- len Bedeutung oder im Gegentheil nur mit getrübter Bedeutung, ausschließlich oder mit fremdartigen Elementen vermischt, ent- halten ist. Denn nach allen diesen Beziehungen weichen die wirklichen Sprachen von der idealen Grammatik ab. Sie be- sitzen theils das ideale Schema nicht vollständig, theils haben sie die Bedeutung einzelner Kategorien getrübt, theils haben sie ganz eigenthümliche, weder der Logik angehörige, noch dem Wesen der Sprache nothwendige Kategorien geschaffen und nicht nur mit letztern den Mangel des Schemas ersetzt, sondern sogar dieselben in wuchernder Ueppigkeit entwickelt. Diese wirkliche Grammatik zerfiele in eine besondere und eine allgemeine. Die besondere hätte die eben bestimmte Aufgabe für die besondere Sprache zu erfüllen; die allgemeine hätte zu zeigen, welche Ka- tegorien wohl überhaupt in der Sprache der Menschheit auftre- ten, und welchen Grad, welchen Umfang die Verschiedenheit, in der in Wirklichkeit jene idealen Kategorien der logischen Grammatik umgestaltet worden sind, und welche Größe und Bedeutung der Abstand der einzelnen Sprachen von einander erreicht hat. Für diese allgemeine Grammatik würde die ideale gewissermaßen das Knochengerüste bilden. Die ideale würde aber auch erst durch die allgemeine mit sprachlichem Fleisch und Blut bekleidet werden und erst durch sie etwas anderes sein als ein todtes, trocknes Gerippe — lebendiger Leib; denn

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/157>, abgerufen am 26.04.2024.