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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Urtheil durch drei Sätze aus -- oder mehre --, liegt aber
weder in einem derselben, noch in ihrer Summe, sondern in die-
ser und in dem Verhältnisse der Sätze zu einander. Folglich
drückt keiner jener Sätze ein Urtheil aus, und Urtheil und Satz
sind nicht dasselbe.

Vielmehr leben Satz und Urtheil außer einander; das Ur-
theil schwebt über den Sätzen, der Gedanke über der Sprache,
die Logik über der Grammatik, und darum ist auch das Ver-
hältniß von Sätzen und Urtheilen verschiebbar gegen einander.
So eben schien es, daß das disjunctive Urtheil sich durch meh-
rere Sätze ausspreche. Von einer anderen Seite betrachtet aber
können wir hier umgekehrt sehen, wie ein Satz drei und mehre
Urtheile zusammenfassend ausspricht. Bleiben wir, um Weitläu-
figkeiten zu vermeiden, bei der allgemeinen Formel: so drückt
das disjunctive Urtheil "m ist entweder a oder b oder c...."
mehrere hypothetische Urtheile aus: "m ist a, wenn es nicht b
oder c ist; m ist b, wenn es nicht a oder c ist, und m ist c,
wenn es nicht a oder b ist." Es ist willkürlich, hier ein Urtheil
in sechs Sätzen -- und da jeder Satz für jedes Oder noch ei-
nen Satz in sich schließt, in 12, in 24 u. s. w. Sätzen -- oder
einen Satz mit mehreren Urtheilen zu sehen.

Wenn diese Anschauungsweise vielleicht manchem künstlich
und gesucht erscheinen sollte, so bieten die hypothetischen Sätze
eine durchaus einfache und natürliche Verschiebung des oben
angenommenen Verhältnisses von Satz und Urtheil dar. Statt
nämlich zu sagen: "wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist,
so wird der beharrlich Böse bestraft", können wir eben so na-
türlich und einfacher sagen: bei oder von einer vollkommenen
Gerechtigkeit wird der u. s. w. und noch einfacher: eine voll-
kommene Gerechtigkeit bestraft den beharrlich Bösen.

Ferner: "Rosen und Tulpen und Nelken sind Blumen" ist
ein Satz, schließt aber drei Urtheile in sich; und endlich,
wenn durch Induction allgemeine Sätze gebildet werden, so ha-
ben wir einen Satz, aber viele Urtheile. Denn, bemerkt Her-
bart mit Recht (Einleitung in die Philosophie §. 57), "in diesem
Falle ist gar nicht dem Begriffe, der die Stelle des Subjects
einnimmt, ein Prädicat beigelegt worden; sondern das Wort
für diesen Begriff verhüllt nur die Vielheit der in jenem Be-
griffe, als ihrem gemeinsamen Merkmale, sich begegnenden Sub-
jecte, welchen allen das nämliche Prädicat zugedacht war. Viele

Urtheil durch drei Sätze aus — oder mehre —, liegt aber
weder in einem derselben, noch in ihrer Summe, sondern in die-
ser und in dem Verhältnisse der Sätze zu einander. Folglich
drückt keiner jener Sätze ein Urtheil aus, und Urtheil und Satz
sind nicht dasselbe.

Vielmehr leben Satz und Urtheil außer einander; das Ur-
theil schwebt über den Sätzen, der Gedanke über der Sprache,
die Logik über der Grammatik, und darum ist auch das Ver-
hältniß von Sätzen und Urtheilen verschiebbar gegen einander.
So eben schien es, daß das disjunctive Urtheil sich durch meh-
rere Sätze ausspreche. Von einer anderen Seite betrachtet aber
können wir hier umgekehrt sehen, wie ein Satz drei und mehre
Urtheile zusammenfassend ausspricht. Bleiben wir, um Weitläu-
figkeiten zu vermeiden, bei der allgemeinen Formel: so drückt
das disjunctive Urtheil „m ist entweder a oder b oder c....“
mehrere hypothetische Urtheile aus: „m ist a, wenn es nicht b
oder c ist; m ist b, wenn es nicht a oder c ist, und m ist c,
wenn es nicht a oder b ist.“ Es ist willkürlich, hier ein Urtheil
in sechs Sätzen — und da jeder Satz für jedes Oder noch ei-
nen Satz in sich schließt, in 12, in 24 u. s. w. Sätzen — oder
einen Satz mit mehreren Urtheilen zu sehen.

Wenn diese Anschauungsweise vielleicht manchem künstlich
und gesucht erscheinen sollte, so bieten die hypothetischen Sätze
eine durchaus einfache und natürliche Verschiebung des oben
angenommenen Verhältnisses von Satz und Urtheil dar. Statt
nämlich zu sagen: „wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist,
so wird der beharrlich Böse bestraft“, können wir eben so na-
türlich und einfacher sagen: bei oder von einer vollkommenen
Gerechtigkeit wird der u. s. w. und noch einfacher: eine voll-
kommene Gerechtigkeit bestraft den beharrlich Bösen.

Ferner: „Rosen und Tulpen und Nelken sind Blumen“ ist
ein Satz, schließt aber drei Urtheile in sich; und endlich,
wenn durch Induction allgemeine Sätze gebildet werden, so ha-
ben wir einen Satz, aber viele Urtheile. Denn, bemerkt Her-
bart mit Recht (Einleitung in die Philosophie §. 57), „in diesem
Falle ist gar nicht dem Begriffe, der die Stelle des Subjects
einnimmt, ein Prädicat beigelegt worden; sondern das Wort
für diesen Begriff verhüllt nur die Vielheit der in jenem Be-
griffe, als ihrem gemeinsamen Merkmale, sich begegnenden Sub-
jecte, welchen allen das nämliche Prädicat zugedacht war. Viele

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[170/0208] Urtheil durch drei Sätze aus — oder mehre —, liegt aber weder in einem derselben, noch in ihrer Summe, sondern in die- ser und in dem Verhältnisse der Sätze zu einander. Folglich drückt keiner jener Sätze ein Urtheil aus, und Urtheil und Satz sind nicht dasselbe. Vielmehr leben Satz und Urtheil außer einander; das Ur- theil schwebt über den Sätzen, der Gedanke über der Sprache, die Logik über der Grammatik, und darum ist auch das Ver- hältniß von Sätzen und Urtheilen verschiebbar gegen einander. So eben schien es, daß das disjunctive Urtheil sich durch meh- rere Sätze ausspreche. Von einer anderen Seite betrachtet aber können wir hier umgekehrt sehen, wie ein Satz drei und mehre Urtheile zusammenfassend ausspricht. Bleiben wir, um Weitläu- figkeiten zu vermeiden, bei der allgemeinen Formel: so drückt das disjunctive Urtheil „m ist entweder a oder b oder c....“ mehrere hypothetische Urtheile aus: „m ist a, wenn es nicht b oder c ist; m ist b, wenn es nicht a oder c ist, und m ist c, wenn es nicht a oder b ist.“ Es ist willkürlich, hier ein Urtheil in sechs Sätzen — und da jeder Satz für jedes Oder noch ei- nen Satz in sich schließt, in 12, in 24 u. s. w. Sätzen — oder einen Satz mit mehreren Urtheilen zu sehen. Wenn diese Anschauungsweise vielleicht manchem künstlich und gesucht erscheinen sollte, so bieten die hypothetischen Sätze eine durchaus einfache und natürliche Verschiebung des oben angenommenen Verhältnisses von Satz und Urtheil dar. Statt nämlich zu sagen: „wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft“, können wir eben so na- türlich und einfacher sagen: bei oder von einer vollkommenen Gerechtigkeit wird der u. s. w. und noch einfacher: eine voll- kommene Gerechtigkeit bestraft den beharrlich Bösen. Ferner: „Rosen und Tulpen und Nelken sind Blumen“ ist ein Satz, schließt aber drei Urtheile in sich; und endlich, wenn durch Induction allgemeine Sätze gebildet werden, so ha- ben wir einen Satz, aber viele Urtheile. Denn, bemerkt Her- bart mit Recht (Einleitung in die Philosophie §. 57), „in diesem Falle ist gar nicht dem Begriffe, der die Stelle des Subjects einnimmt, ein Prädicat beigelegt worden; sondern das Wort für diesen Begriff verhüllt nur die Vielheit der in jenem Be- griffe, als ihrem gemeinsamen Merkmale, sich begegnenden Sub- jecte, welchen allen das nämliche Prädicat zugedacht war. Viele

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/208>, abgerufen am 27.04.2024.