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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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mehr allerdings schon eine nicht ohne ein gewisses Bewußtsein
vollbrachte Schöpfung des Menschen, wenn auch noch keine
selbstbewußte That. Sie ist eine Stufe der geistigen Entwicke-
lung der Seele und verlangt eine Ableitung aus den ihr voran-
gehenden Stufen. Mit ihr beginnt das eigentlich menschliche
Thun und Treiben; sie ist die Brücke, die aus dem Thierreiche
in das Menschenreich führt. Die Materialien dazu können nur
aus ersterm entlehnt werden; im Thier-Menschen muß die Mög-
lichkeit zur Sprache nachgewiesen werden. Warum sich aber
nur die menschliche Seele diese Brücke baut, warum nur der
Mensch vom Thierstande zur reinen Menschheit vermittelst der
Sprache schreitet, und nicht auch das Thier: das wollten wir
uns durch eine Vergleichung des Thieres mit dem Thier-Men-
schen klar machen. Diese Vergleichung zeigte uns, daß der
Mensch, wie wir ihn uns ohne Sprache fingiren müssen, zwar
ein Thier-Mensch, aber kein Menschenthier, noch sonst eine Art
Thier ist, sondern immer schon eine Art Mensch.

Wir fügen nun zum Beschlusse dieser Vergleichung des
Menschen mit dem Thiere noch eine Bemerkung hinzu, die das
Wesen der Sprache näher als alles früher Erwähnte betrifft und
diese Betrachtung mit der vorangehenden über den Zusammen-
hang von Leib und Seele zusammenschließt. Nämlich: die Thier-
seele wird von jeder leiblichen, sinnlichen Affection, vom Schmerz-
und Lustgefühl, wie von den Empfindungen, aufs lebhafteste mit
ergriffen, ohne Herr der Affection zu werden; umgekehrt wird
beim Menschen der Leib durch die Affectionen der Seele mit-
bewegt. Denn hat die menschliche Seele die Uebermacht über
den Leib, muß sie ihn ernähren, wahren, schützen, bleibt sie
den Sinneseindrücken gegenüber ihrer selbst mächtig und wird
nicht hingerissen in den Strudel sinnlicher Empfindung: so wirkt
sie auch aus eigener Erregung so kräftig auf den Leib zurück,
daß dieser zum treuen Spiegel ihrer Bewegungen wird. Die
Thierseele ist der Reflex des thierischen Leibes; beim Menschen
reflectirt der Leib die Seele. Sicht- und hörbare leibliche Ver-
änderungen, veranlaßt durch Seelenerregungen, verrathen uns
die unsichtbaren Seelenbewegungen, deren Reflex sie sind. Dies
ist der Quell der Sprache. Der Körper ist stumm, wenn er
seine eigene Masse, sein eigenes Gewicht gelten läßt; er
spricht, indem er die Form annimmt, die ihm die Seele auf-
prägt. Die Herrschaft des Geistes über den Körper

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mehr allerdings schon eine nicht ohne ein gewisses Bewußtsein
vollbrachte Schöpfung des Menschen, wenn auch noch keine
selbstbewußte That. Sie ist eine Stufe der geistigen Entwicke-
lung der Seele und verlangt eine Ableitung aus den ihr voran-
gehenden Stufen. Mit ihr beginnt das eigentlich menschliche
Thun und Treiben; sie ist die Brücke, die aus dem Thierreiche
in das Menschenreich führt. Die Materialien dazu können nur
aus ersterm entlehnt werden; im Thier-Menschen muß die Mög-
lichkeit zur Sprache nachgewiesen werden. Warum sich aber
nur die menschliche Seele diese Brücke baut, warum nur der
Mensch vom Thierstande zur reinen Menschheit vermittelst der
Sprache schreitet, und nicht auch das Thier: das wollten wir
uns durch eine Vergleichung des Thieres mit dem Thier-Men-
schen klar machen. Diese Vergleichung zeigte uns, daß der
Mensch, wie wir ihn uns ohne Sprache fingiren müssen, zwar
ein Thier-Mensch, aber kein Menschenthier, noch sonst eine Art
Thier ist, sondern immer schon eine Art Mensch.

Wir fügen nun zum Beschlusse dieser Vergleichung des
Menschen mit dem Thiere noch eine Bemerkung hinzu, die das
Wesen der Sprache näher als alles früher Erwähnte betrifft und
diese Betrachtung mit der vorangehenden über den Zusammen-
hang von Leib und Seele zusammenschließt. Nämlich: die Thier-
seele wird von jeder leiblichen, sinnlichen Affection, vom Schmerz-
und Lustgefühl, wie von den Empfindungen, aufs lebhafteste mit
ergriffen, ohne Herr der Affection zu werden; umgekehrt wird
beim Menschen der Leib durch die Affectionen der Seele mit-
bewegt. Denn hat die menschliche Seele die Uebermacht über
den Leib, muß sie ihn ernähren, wahren, schützen, bleibt sie
den Sinneseindrücken gegenüber ihrer selbst mächtig und wird
nicht hingerissen in den Strudel sinnlicher Empfindung: so wirkt
sie auch aus eigener Erregung so kräftig auf den Leib zurück,
daß dieser zum treuen Spiegel ihrer Bewegungen wird. Die
Thierseele ist der Reflex des thierischen Leibes; beim Menschen
reflectirt der Leib die Seele. Sicht- und hörbare leibliche Ver-
änderungen, veranlaßt durch Seelenerregungen, verrathen uns
die unsichtbaren Seelenbewegungen, deren Reflex sie sind. Dies
ist der Quell der Sprache. Der Körper ist stumm, wenn er
seine eigene Masse, sein eigenes Gewicht gelten läßt; er
spricht, indem er die Form annimmt, die ihm die Seele auf-
prägt. Die Herrschaft des Geistes über den Körper

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[291/0329] mehr allerdings schon eine nicht ohne ein gewisses Bewußtsein vollbrachte Schöpfung des Menschen, wenn auch noch keine selbstbewußte That. Sie ist eine Stufe der geistigen Entwicke- lung der Seele und verlangt eine Ableitung aus den ihr voran- gehenden Stufen. Mit ihr beginnt das eigentlich menschliche Thun und Treiben; sie ist die Brücke, die aus dem Thierreiche in das Menschenreich führt. Die Materialien dazu können nur aus ersterm entlehnt werden; im Thier-Menschen muß die Mög- lichkeit zur Sprache nachgewiesen werden. Warum sich aber nur die menschliche Seele diese Brücke baut, warum nur der Mensch vom Thierstande zur reinen Menschheit vermittelst der Sprache schreitet, und nicht auch das Thier: das wollten wir uns durch eine Vergleichung des Thieres mit dem Thier-Men- schen klar machen. Diese Vergleichung zeigte uns, daß der Mensch, wie wir ihn uns ohne Sprache fingiren müssen, zwar ein Thier-Mensch, aber kein Menschenthier, noch sonst eine Art Thier ist, sondern immer schon eine Art Mensch. Wir fügen nun zum Beschlusse dieser Vergleichung des Menschen mit dem Thiere noch eine Bemerkung hinzu, die das Wesen der Sprache näher als alles früher Erwähnte betrifft und diese Betrachtung mit der vorangehenden über den Zusammen- hang von Leib und Seele zusammenschließt. Nämlich: die Thier- seele wird von jeder leiblichen, sinnlichen Affection, vom Schmerz- und Lustgefühl, wie von den Empfindungen, aufs lebhafteste mit ergriffen, ohne Herr der Affection zu werden; umgekehrt wird beim Menschen der Leib durch die Affectionen der Seele mit- bewegt. Denn hat die menschliche Seele die Uebermacht über den Leib, muß sie ihn ernähren, wahren, schützen, bleibt sie den Sinneseindrücken gegenüber ihrer selbst mächtig und wird nicht hingerissen in den Strudel sinnlicher Empfindung: so wirkt sie auch aus eigener Erregung so kräftig auf den Leib zurück, daß dieser zum treuen Spiegel ihrer Bewegungen wird. Die Thierseele ist der Reflex des thierischen Leibes; beim Menschen reflectirt der Leib die Seele. Sicht- und hörbare leibliche Ver- änderungen, veranlaßt durch Seelenerregungen, verrathen uns die unsichtbaren Seelenbewegungen, deren Reflex sie sind. Dies ist der Quell der Sprache. Der Körper ist stumm, wenn er seine eigene Masse, sein eigenes Gewicht gelten läßt; er spricht, indem er die Form annimmt, die ihm die Seele auf- prägt. Die Herrschaft des Geistes über den Körper 19*

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/329>, abgerufen am 26.04.2024.