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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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die Theile bestimmt, und jeder Theil als bestimmtes, besonde-
res Glied des Ganzen charakterisirt ist, könnten wir mit dem
Worte Organismus bezeichnen. Doch wozu? die gebrauchten
Wörter tragen eine geistigere Bedeutung in sich; und so ziehen
wir es vor, jede Sprache ein aus einem einheitlichen Principe
geflossenes System, ein individuelles geistiges Gebilde, zu nen-
nen. Der Grund aber dieser Einheit und Individualität der Spra-
chen liegt in der Eigenthümlichkeit des Volksgeistes. Wir ha-
ben schon im ersten Theile dieses Buches gezeigt, wie wir hier-
mit ganz im Sinne Humboldts verfahren.

Die individuelle Einheit, das besondere Princip jeder Sprache
ist nach drei Seiten darzustellen: nach der Seite des Lautes an
sich, der innern Form an sich, und des Verhältnisses beider zu
einander. So liegt z. B. das Individuelle der semitischen Spra-
chen schon in ihrem Alphabete und in der Verknüpfung der
Laute. Vielleicht geschieht es ausschließlich in diesen Spra-
chen, daß man Lautverbindungen wie tk, tp, kp im Anlaute des
Wortes bildet. Ferner ist die innere Form dieser Sprachen
durchaus individuell, und eben so ist es drittens die Weise, wie
die innere Form durch die Lautform ihre Bezeichnung findet,
wobei namentlich der Unterschied zwischen der Verwendung der
Vocale und der der Consonanten eine so auffallende Erschei-
nung darbietet. Höchst wichtig ist nun bei dem Princip der
Sprachen die Consequenz, mit welcher es durchgeführt wird;
und in dieser Beziehung, fürchte ich, sind die semitischen Spra-
chen von dem Vorwurf der Inconsequenz nicht frei. Ihre Wort-
beugung geschieht theils durch innern Wandel des Wurzelvo-
cals, theils durch Affixa.

Die Darstellung der Einheit der Sprachen zerfällt aber nach
einer andern Beziehung in zwei Theile: Einheit des Wortschatzes,
des materialen Elements der Sprache, und Einheit der Formbil-
dung. In jedem dieser Theile treten die obigen drei Rücksich-
ten auf. Die Einheit der Grammatik wird allemal eine engere
sein, als die des Wortschatzes, und ist auch besser begriffen
worden, als diese, rücksichtlich welcher noch Mißverständniß
herrscht. Beckers verunglückten Versuch, die lexikalische Ein-
heit darzulegen, haben wir schon kennen gelernt. Wir sehen
aber jetzt seinen Fehler klarer. Er wendet sich an die Begriffe
statt an die Sprachform, und so giebt er eine logische Constru-
ction statt einer lexikalischen.

die Theile bestimmt, und jeder Theil als bestimmtes, besonde-
res Glied des Ganzen charakterisirt ist, könnten wir mit dem
Worte Organismus bezeichnen. Doch wozu? die gebrauchten
Wörter tragen eine geistigere Bedeutung in sich; und so ziehen
wir es vor, jede Sprache ein aus einem einheitlichen Principe
geflossenes System, ein individuelles geistiges Gebilde, zu nen-
nen. Der Grund aber dieser Einheit und Individualität der Spra-
chen liegt in der Eigenthümlichkeit des Volksgeistes. Wir ha-
ben schon im ersten Theile dieses Buches gezeigt, wie wir hier-
mit ganz im Sinne Humboldts verfahren.

Die individuelle Einheit, das besondere Princip jeder Sprache
ist nach drei Seiten darzustellen: nach der Seite des Lautes an
sich, der innern Form an sich, und des Verhältnisses beider zu
einander. So liegt z. B. das Individuelle der semitischen Spra-
chen schon in ihrem Alphabete und in der Verknüpfung der
Laute. Vielleicht geschieht es ausschließlich in diesen Spra-
chen, daß man Lautverbindungen wie tk, tp, kp im Anlaute des
Wortes bildet. Ferner ist die innere Form dieser Sprachen
durchaus individuell, und eben so ist es drittens die Weise, wie
die innere Form durch die Lautform ihre Bezeichnung findet,
wobei namentlich der Unterschied zwischen der Verwendung der
Vocale und der der Consonanten eine so auffallende Erschei-
nung darbietet. Höchst wichtig ist nun bei dem Princip der
Sprachen die Consequenz, mit welcher es durchgeführt wird;
und in dieser Beziehung, fürchte ich, sind die semitischen Spra-
chen von dem Vorwurf der Inconsequenz nicht frei. Ihre Wort-
beugung geschieht theils durch innern Wandel des Wurzelvo-
cals, theils durch Affixa.

Die Darstellung der Einheit der Sprachen zerfällt aber nach
einer andern Beziehung in zwei Theile: Einheit des Wortschatzes,
des materialen Elements der Sprache, und Einheit der Formbil-
dung. In jedem dieser Theile treten die obigen drei Rücksich-
ten auf. Die Einheit der Grammatik wird allemal eine engere
sein, als die des Wortschatzes, und ist auch besser begriffen
worden, als diese, rücksichtlich welcher noch Mißverständniß
herrscht. Beckers verunglückten Versuch, die lexikalische Ein-
heit darzulegen, haben wir schon kennen gelernt. Wir sehen
aber jetzt seinen Fehler klarer. Er wendet sich an die Begriffe
statt an die Sprachform, und so giebt er eine logische Constru-
ction statt einer lexikalischen.

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[380/0418] die Theile bestimmt, und jeder Theil als bestimmtes, besonde- res Glied des Ganzen charakterisirt ist, könnten wir mit dem Worte Organismus bezeichnen. Doch wozu? die gebrauchten Wörter tragen eine geistigere Bedeutung in sich; und so ziehen wir es vor, jede Sprache ein aus einem einheitlichen Principe geflossenes System, ein individuelles geistiges Gebilde, zu nen- nen. Der Grund aber dieser Einheit und Individualität der Spra- chen liegt in der Eigenthümlichkeit des Volksgeistes. Wir ha- ben schon im ersten Theile dieses Buches gezeigt, wie wir hier- mit ganz im Sinne Humboldts verfahren. Die individuelle Einheit, das besondere Princip jeder Sprache ist nach drei Seiten darzustellen: nach der Seite des Lautes an sich, der innern Form an sich, und des Verhältnisses beider zu einander. So liegt z. B. das Individuelle der semitischen Spra- chen schon in ihrem Alphabete und in der Verknüpfung der Laute. Vielleicht geschieht es ausschließlich in diesen Spra- chen, daß man Lautverbindungen wie tk, tp, kp im Anlaute des Wortes bildet. Ferner ist die innere Form dieser Sprachen durchaus individuell, und eben so ist es drittens die Weise, wie die innere Form durch die Lautform ihre Bezeichnung findet, wobei namentlich der Unterschied zwischen der Verwendung der Vocale und der der Consonanten eine so auffallende Erschei- nung darbietet. Höchst wichtig ist nun bei dem Princip der Sprachen die Consequenz, mit welcher es durchgeführt wird; und in dieser Beziehung, fürchte ich, sind die semitischen Spra- chen von dem Vorwurf der Inconsequenz nicht frei. Ihre Wort- beugung geschieht theils durch innern Wandel des Wurzelvo- cals, theils durch Affixa. Die Darstellung der Einheit der Sprachen zerfällt aber nach einer andern Beziehung in zwei Theile: Einheit des Wortschatzes, des materialen Elements der Sprache, und Einheit der Formbil- dung. In jedem dieser Theile treten die obigen drei Rücksich- ten auf. Die Einheit der Grammatik wird allemal eine engere sein, als die des Wortschatzes, und ist auch besser begriffen worden, als diese, rücksichtlich welcher noch Mißverständniß herrscht. Beckers verunglückten Versuch, die lexikalische Ein- heit darzulegen, haben wir schon kennen gelernt. Wir sehen aber jetzt seinen Fehler klarer. Er wendet sich an die Begriffe statt an die Sprachform, und so giebt er eine logische Constru- ction statt einer lexikalischen.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/418>, abgerufen am 26.04.2024.