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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Soll das System der Wörter einer Sprache gebildet wer-
den, so ist als leitendes Prinzip die innere Sprachform in ihrem
Zusammenhange mit dem Laute zu nehmen (vergl. Humboldt,
Einl. S. 108 ff. oder CXXIV.). Zuerst sind die Wörter auf
ihre Wurzeln zu reduciren, wobei mit aller Vorsicht die ur-
sprünglichste Lautform und innere Anschauung der Wurzel fest-
zustellen ist. Dann werden sich die Wurzeln, nach der Aehn-
lichkeit ihrer Laute und ihrer innern Anschauung zugleich, in
Gruppen oder Familien zusammenstellen. Es ist danach zu stre-
ben, solcher Gruppen möglichst große und möglichst wenige zu
erhalten. Doch muß man sich vor Uebertreibung hüten; es
wird nicht bloß nicht möglich sein, die Wurzeln alle von einer
abzuleiten, sondern auch nicht von zehn oder zwölf. Auch
wird es Wurzeln geben, die ganz isolirt bleiben und sich gar
keiner Gruppe anschließen. Für die hebräische Sprache und
für die griechische hat man solche Gruppirung der Wurzeln
schon längst versucht, indem man Wurzeln, welche ein wesent-
liches consonantisches Element gemeinsam haben, so daß sie
wie Variationen eines Wurzellautes erscheinen, und welche zu-
gleich eine verwandte Bedeutung haben, zusammenfaßte; z. B.
hebr. qara (rufen), engl. to cry, hebr. karas, krazo krozo, ke-
russo; oder hebr. zahal, zahar, sahar, halal, zalal; zacha, zachar;
zaha, zahab; saha, sahab; tahar, tachar, welche alle in verschie-
denen Abstufungen und Färbungen das Hell ausdrücken, das
Glänzen, das Reine, das Gelbe (Gold), das moralisch Reine,
den hellen Klang; oder das griechische kello, killo, kulintho,
illo, eilo, elisso u. s. w.

Schon hierbei kann man wahrnehmen, wie dieselbe Grund-
bedeutung sich mannigfach umgestaltet durch verschiedenartige
Färbung und metaphorische Verwendung. Das Wichtigste bleibt
aber, die eigenthümlichen Grundsätze aufzufinden, nach denen
in der Sprache sowohl durch Wortbildung, als im Laufe der
Zeit, mit der Entwickelung des Geistes, die Grundbedeutungen
sich entwickeln. Diese Einheit der in allen Bildungen, Wand-
lungen und Ableitungen herrschenden Gesetze ist die wahre Ein-
heit des Wortschatzes.

Soll das System der Wörter einer Sprache gebildet wer-
den, so ist als leitendes Prinzip die innere Sprachform in ihrem
Zusammenhange mit dem Laute zu nehmen (vergl. Humboldt,
Einl. S. 108 ff. oder CXXIV.). Zuerst sind die Wörter auf
ihre Wurzeln zu reduciren, wobei mit aller Vorsicht die ur-
sprünglichste Lautform und innere Anschauung der Wurzel fest-
zustellen ist. Dann werden sich die Wurzeln, nach der Aehn-
lichkeit ihrer Laute und ihrer innern Anschauung zugleich, in
Gruppen oder Familien zusammenstellen. Es ist danach zu stre-
ben, solcher Gruppen möglichst große und möglichst wenige zu
erhalten. Doch muß man sich vor Uebertreibung hüten; es
wird nicht bloß nicht möglich sein, die Wurzeln alle von einer
abzuleiten, sondern auch nicht von zehn oder zwölf. Auch
wird es Wurzeln geben, die ganz isolirt bleiben und sich gar
keiner Gruppe anschließen. Für die hebräische Sprache und
für die griechische hat man solche Gruppirung der Wurzeln
schon längst versucht, indem man Wurzeln, welche ein wesent-
liches consonantisches Element gemeinsam haben, so daß sie
wie Variationen eines Wurzellautes erscheinen, und welche zu-
gleich eine verwandte Bedeutung haben, zusammenfaßte; z. B.
hebr. qārā (rufen), engl. to cry, hebr. kāras, κϱάζω κϱώζω, κη-
ϱύσσω; oder hebr. zāhal, zāhar, sāhar, hālal, zālal; zāchā, zachar;
zāhā, zāhab; sāhā, sāhab; tāhar, tāchar, welche alle in verschie-
denen Abstufungen und Färbungen das Hell ausdrücken, das
Glänzen, das Reine, das Gelbe (Gold), das moralisch Reine,
den hellen Klang; oder das griechische κέλλω, κίλλω, κυλίνϑω,
ἴλλω, εἴλω, ἑλίσσω u. s. w.

Schon hierbei kann man wahrnehmen, wie dieselbe Grund-
bedeutung sich mannigfach umgestaltet durch verschiedenartige
Färbung und metaphorische Verwendung. Das Wichtigste bleibt
aber, die eigenthümlichen Grundsätze aufzufinden, nach denen
in der Sprache sowohl durch Wortbildung, als im Laufe der
Zeit, mit der Entwickelung des Geistes, die Grundbedeutungen
sich entwickeln. Diese Einheit der in allen Bildungen, Wand-
lungen und Ableitungen herrschenden Gesetze ist die wahre Ein-
heit des Wortschatzes.

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[381/0419] Soll das System der Wörter einer Sprache gebildet wer- den, so ist als leitendes Prinzip die innere Sprachform in ihrem Zusammenhange mit dem Laute zu nehmen (vergl. Humboldt, Einl. S. 108 ff. oder CXXIV.). Zuerst sind die Wörter auf ihre Wurzeln zu reduciren, wobei mit aller Vorsicht die ur- sprünglichste Lautform und innere Anschauung der Wurzel fest- zustellen ist. Dann werden sich die Wurzeln, nach der Aehn- lichkeit ihrer Laute und ihrer innern Anschauung zugleich, in Gruppen oder Familien zusammenstellen. Es ist danach zu stre- ben, solcher Gruppen möglichst große und möglichst wenige zu erhalten. Doch muß man sich vor Uebertreibung hüten; es wird nicht bloß nicht möglich sein, die Wurzeln alle von einer abzuleiten, sondern auch nicht von zehn oder zwölf. Auch wird es Wurzeln geben, die ganz isolirt bleiben und sich gar keiner Gruppe anschließen. Für die hebräische Sprache und für die griechische hat man solche Gruppirung der Wurzeln schon längst versucht, indem man Wurzeln, welche ein wesent- liches consonantisches Element gemeinsam haben, so daß sie wie Variationen eines Wurzellautes erscheinen, und welche zu- gleich eine verwandte Bedeutung haben, zusammenfaßte; z. B. hebr. qārā (rufen), engl. to cry, hebr. kāras, κϱάζω κϱώζω, κη- ϱύσσω; oder hebr. zāhal, zāhar, sāhar, hālal, zālal; zāchā, zachar; zāhā, zāhab; sāhā, sāhab; tāhar, tāchar, welche alle in verschie- denen Abstufungen und Färbungen das Hell ausdrücken, das Glänzen, das Reine, das Gelbe (Gold), das moralisch Reine, den hellen Klang; oder das griechische κέλλω, κίλλω, κυλίνϑω, ἴλλω, εἴλω, ἑλίσσω u. s. w. Schon hierbei kann man wahrnehmen, wie dieselbe Grund- bedeutung sich mannigfach umgestaltet durch verschiedenartige Färbung und metaphorische Verwendung. Das Wichtigste bleibt aber, die eigenthümlichen Grundsätze aufzufinden, nach denen in der Sprache sowohl durch Wortbildung, als im Laufe der Zeit, mit der Entwickelung des Geistes, die Grundbedeutungen sich entwickeln. Diese Einheit der in allen Bildungen, Wand- lungen und Ableitungen herrschenden Gesetze ist die wahre Ein- heit des Wortschatzes.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/419>, abgerufen am 27.04.2024.