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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Das Athmen ist ein durchaus physischer Vorgang, durchaus im
Gebiete der Stoffbewegung; es kommen dabei nur Gesetze in
Betracht, die anderweitig vielfach angewandt und bestätigt sind.
Dagegen sieht man gar nicht ein, welch ein Zusammenhang,
welch eine Beziehung zwischen Gedanken und Stimmwerkzeug
Statt habe, so daß jener als Reiz auf dieses wirken könne, daß
es töne, und auf die Mundhöhle und Zunge, daß sie den Ton
articuliren. Hier nur kurzweg von der äußeren Erscheinung
eines Geistigen im Leiblichen reden, ist eine sophistische Phrase!

Hieraus folgt nun weiter, daß auch die ganze Weise, wie
der Reiz wirkt und das Reizende in den Vorgang eingreift, und
das Erzeugniß des Vorgangs auf beiden Seiten so verschieden
ist, daß die Analogie schwindet. Luft, das Reizmittel, dringt
in die Lungen; in Berührung mit dem Blute erfährt sie Ver-
änderungen und wird hiernach ausgetrieben -- alles nach ge-
meinen Gesetzen. Geht etwa so der Gedanke in die Sprach-
werkzeuge, wird er dort in bekannter Weise verändert und dann
wieder entsendet? Verhält sich der Gedanke zur Thätigkeit und
zum Erzeugniß der Sprachwerkzeuge, wie die Luft zu den Ath-
mungswerkzeugen und dem, was sie entsenden? Bei Becker aber
sind äußerliche Wirkungen, Vollführung des Willens, Darstel-
lung eines Unsichtbaren durch Zeichen, alles leibliche Erschei-
nungen eines Geistigen -- Phrasen!

Die größte Schwierigkeit endlich, wodurch die Analogie
nicht nur nichtssagend wird, sondern die Anschauung vom or-
ganischen Wesen der Sprache zerstört, liegt in Folgendem. Die
Luft als Reizmittel für das Athmen, die Nahrung für die Ver-
dauung sind vor der Lunge und dem Magen vorhanden und mö-
gen wirken, sobald sie mit diesen Organen in Berührung kom-
men; so wie das Kind an die Luft tritt, ist diese bereit in die
Lunge zu dringen, und die Nahrung wird dem Magen zugeführt:
woher aber soll den Sprachorganen der Reiz kommen? da erst
durch ihre Bewegung das was sie reizen soll, der Gedanke, ent-
stehen kann? Becker sagt: "Das Wort tritt nothwendig sogleich
hervor, so wie sich in dem Geiste der Begriff gestaltet, der er-
regend auf die Sprachorgane einwirkt." Kann der Begriff ein-
wirken, bevor er ist? und kann er sein, bevor die Sprachorgane
thätig sind? "Das Wort wird mit dem Begriffe geboren"; also
kann der Begriff nicht der Reiz für die Bewegung der Sprach-
organe sein. Nun soll er dies aber dennoch sein nach Becker;

Das Athmen ist ein durchaus physischer Vorgang, durchaus im
Gebiete der Stoffbewegung; es kommen dabei nur Gesetze in
Betracht, die anderweitig vielfach angewandt und bestätigt sind.
Dagegen sieht man gar nicht ein, welch ein Zusammenhang,
welch eine Beziehung zwischen Gedanken und Stimmwerkzeug
Statt habe, so daß jener als Reiz auf dieses wirken könne, daß
es töne, und auf die Mundhöhle und Zunge, daß sie den Ton
articuliren. Hier nur kurzweg von der äußeren Erscheinung
eines Geistigen im Leiblichen reden, ist eine sophistische Phrase!

Hieraus folgt nun weiter, daß auch die ganze Weise, wie
der Reiz wirkt und das Reizende in den Vorgang eingreift, und
das Erzeugniß des Vorgangs auf beiden Seiten so verschieden
ist, daß die Analogie schwindet. Luft, das Reizmittel, dringt
in die Lungen; in Berührung mit dem Blute erfährt sie Ver-
änderungen und wird hiernach ausgetrieben — alles nach ge-
meinen Gesetzen. Geht etwa so der Gedanke in die Sprach-
werkzeuge, wird er dort in bekannter Weise verändert und dann
wieder entsendet? Verhält sich der Gedanke zur Thätigkeit und
zum Erzeugniß der Sprachwerkzeuge, wie die Luft zu den Ath-
mungswerkzeugen und dem, was sie entsenden? Bei Becker aber
sind äußerliche Wirkungen, Vollführung des Willens, Darstel-
lung eines Unsichtbaren durch Zeichen, alles leibliche Erschei-
nungen eines Geistigen — Phrasen!

Die größte Schwierigkeit endlich, wodurch die Analogie
nicht nur nichtssagend wird, sondern die Anschauung vom or-
ganischen Wesen der Sprache zerstört, liegt in Folgendem. Die
Luft als Reizmittel für das Athmen, die Nahrung für die Ver-
dauung sind vor der Lunge und dem Magen vorhanden und mö-
gen wirken, sobald sie mit diesen Organen in Berührung kom-
men; so wie das Kind an die Luft tritt, ist diese bereit in die
Lunge zu dringen, und die Nahrung wird dem Magen zugeführt:
woher aber soll den Sprachorganen der Reiz kommen? da erst
durch ihre Bewegung das was sie reizen soll, der Gedanke, ent-
stehen kann? Becker sagt: „Das Wort tritt nothwendig sogleich
hervor, so wie sich in dem Geiste der Begriff gestaltet, der er-
regend auf die Sprachorgane einwirkt.“ Kann der Begriff ein-
wirken, bevor er ist? und kann er sein, bevor die Sprachorgane
thätig sind? „Das Wort wird mit dem Begriffe geboren“; also
kann der Begriff nicht der Reiz für die Bewegung der Sprach-
organe sein. Nun soll er dies aber dennoch sein nach Becker;

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[39/0077] Das Athmen ist ein durchaus physischer Vorgang, durchaus im Gebiete der Stoffbewegung; es kommen dabei nur Gesetze in Betracht, die anderweitig vielfach angewandt und bestätigt sind. Dagegen sieht man gar nicht ein, welch ein Zusammenhang, welch eine Beziehung zwischen Gedanken und Stimmwerkzeug Statt habe, so daß jener als Reiz auf dieses wirken könne, daß es töne, und auf die Mundhöhle und Zunge, daß sie den Ton articuliren. Hier nur kurzweg von der äußeren Erscheinung eines Geistigen im Leiblichen reden, ist eine sophistische Phrase! Hieraus folgt nun weiter, daß auch die ganze Weise, wie der Reiz wirkt und das Reizende in den Vorgang eingreift, und das Erzeugniß des Vorgangs auf beiden Seiten so verschieden ist, daß die Analogie schwindet. Luft, das Reizmittel, dringt in die Lungen; in Berührung mit dem Blute erfährt sie Ver- änderungen und wird hiernach ausgetrieben — alles nach ge- meinen Gesetzen. Geht etwa so der Gedanke in die Sprach- werkzeuge, wird er dort in bekannter Weise verändert und dann wieder entsendet? Verhält sich der Gedanke zur Thätigkeit und zum Erzeugniß der Sprachwerkzeuge, wie die Luft zu den Ath- mungswerkzeugen und dem, was sie entsenden? Bei Becker aber sind äußerliche Wirkungen, Vollführung des Willens, Darstel- lung eines Unsichtbaren durch Zeichen, alles leibliche Erschei- nungen eines Geistigen — Phrasen! Die größte Schwierigkeit endlich, wodurch die Analogie nicht nur nichtssagend wird, sondern die Anschauung vom or- ganischen Wesen der Sprache zerstört, liegt in Folgendem. Die Luft als Reizmittel für das Athmen, die Nahrung für die Ver- dauung sind vor der Lunge und dem Magen vorhanden und mö- gen wirken, sobald sie mit diesen Organen in Berührung kom- men; so wie das Kind an die Luft tritt, ist diese bereit in die Lunge zu dringen, und die Nahrung wird dem Magen zugeführt: woher aber soll den Sprachorganen der Reiz kommen? da erst durch ihre Bewegung das was sie reizen soll, der Gedanke, ent- stehen kann? Becker sagt: „Das Wort tritt nothwendig sogleich hervor, so wie sich in dem Geiste der Begriff gestaltet, der er- regend auf die Sprachorgane einwirkt.“ Kann der Begriff ein- wirken, bevor er ist? und kann er sein, bevor die Sprachorgane thätig sind? „Das Wort wird mit dem Begriffe geboren“; also kann der Begriff nicht der Reiz für die Bewegung der Sprach- organe sein. Nun soll er dies aber dennoch sein nach Becker;

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/77>, abgerufen am 26.04.2024.