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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen-
thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs
umgestossen, dass sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi-
phanius nicht finden; denn diess sind die ursprünglichen,
reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben
nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach-
maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um-
gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver-
werfen.

§. 24.
Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte.

Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali-
stische Erklärung der Empfängnissgeschichte so bedeuten-
de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten:
so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch
einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere
Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange-
zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche
hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver-
sucht, dass man bald nur mit dem einen oder andern,
bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege
natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte.
Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer
solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde
durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, dass
nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un-
ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein
Sohn desselben genannt werde, ohne dass hiebei an Aus-
schliessung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung
gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus
nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor-
stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen,
dass Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor-
den, sondern nur, dass sie dessenungeachtet als rein, nicht

Erster Abschnitt.
Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen-
thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs
umgestoſsen, daſs sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi-
phanius nicht finden; denn dieſs sind die ursprünglichen,
reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben
nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach-
maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um-
gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver-
werfen.

§. 24.
Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte.

Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali-
stische Erklärung der Empfängniſsgeschichte so bedeuten-
de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten:
so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch
einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere
Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange-
zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche
hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver-
sucht, daſs man bald nur mit dem einen oder andern,
bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege
natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte.
Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer
solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde
durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, daſs
nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un-
ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein
Sohn desselben genannt werde, ohne daſs hiebei an Aus-
schlieſsung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung
gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus
nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor-
stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen,
daſs Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor-
den, sondern nur, daſs sie dessenungeachtet als rein, nicht

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[166/0190] Erster Abschnitt. Matthäus und Lukas auf dem Boden des ältesten Judenchristen- thums entstanden seien, durch die Erscheinung keineswegs umgestoſsen, daſs sie sich gerade bei den Ebioniten des Epi- phanius nicht finden; denn dieſs sind die ursprünglichen, reinen Ebioniten nicht mehr; die alten Ebioniten haben nach mehreren Spuren die Genealogieen gehabt: die nach- maligen waren durch Gründe, welche in der späteren Um- gestaltung ihres Systemes lagen, genöthigt, sie zu ver- werfen. §. 24. Die natürliche Erklärung der Empfängnissgeschichte. Hat nach dem zuletzt Ausgeführten die supranaturali- stische Erklärung der Empfängniſsgeschichte so bedeuten- de, sowohl philosophische als exegetische Schwierigkeiten: so verlohnt es sich wohl, die evangelische Erzählung noch einmal darauf anzusehen, ob nicht vielleicht eine andere Auslegung derselben möglich sei, durch welche die ange- zeigten Schwierigkeiten vermieden würden. Eine solche hat man wirklich von verschiedenen Seiten in der Art ver- sucht, daſs man bald nur mit dem einen oder andern, bald aber auch mit allen beiden Berichten auf dem Wege natürlicher Erklärung fertig werden zu können glaubte. Zunächst schien sich die Erzählung des Matthäus einer solchen Deutung darzubieten. In Bezug auf sie wurde durch zahlreiche rabbinische Stellen nachgewiesen, daſs nach jüdischer Ansicht ein Sohn frommer Eltern un- ter Mitwirkung des heiligen Geistes erzeugt sei und ein Sohn desselben genannt werde, ohne daſs hiebei an Aus- schlieſsung des männlichen Antheils an seiner Erzeugung gedacht würde. Der betreffende Abschnitt des Matthäus nun, meinte man, enthalte weiter nichts, als diese Vor- stellung: der Engel wolle hier dem Joseph nicht sagen, daſs Maria ohne Zuthun eines Mannes schwanger gewor- den, sondern nur, daſs sie dessenungeachtet als rein, nicht

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/190>, abgerufen am 26.04.2024.