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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.
ziehung auf die Einnahme Jerusalems und das damit Zu-
sammenhängende hinausgienge: so findet sich doch auch
hier (V. 27.) das tote opsontai ton uion tou anthropou erkho-
menon en nephele, und wenn diess Schleiermacher als blosses
Bild für die zu Tage kommende religiöse Bedeutung der
zuvorbeschriebenen politischen und Naturbegebenheiten er-
klärt: so ist diess eine Gewaltsamkeit, an welcher seine
ganze Ansicht von dem Verhältniss der beiden Berichte
scheitert. Wenn auf diese Weise in der Verknüpfung
des Endes aller Dinge mit der Zerstörung des Tem-
pels zu Jerusalem Matthäus keineswegs allein steht, son-
dern Lukas sie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, der
in diesem Abschnitt einen Auszug aus Matthäus giebt: so
mag zwar vielleicht auch in dieser Rede Jesu, wie in an-
dern, die sie mittheilen, Manches zu verschiedenen Zeiten Ge-
sprochene zusammengestellt sein; aber zu der Annahme hat
man kein Recht, dass gerade das auf jene beiden nach un-
srer Vorstellung so weit auseinanderliegenden Begebenhei-
ten sich Beziehende das Nichtzusammengehörige sei, zumal
wir aus der übereinstimmenden Darstellung der übrigen
N. T.lichen Schriften ersehen, dass die erste Gemeinde die
Wiederkunft Christi sammt dem Ende der gegenwärtigen
Weltperiode als nahe bevorstehend erwartete (s. 1. Kor.
10, 11. 15, 51. Phil. 4, 5, 1. Thess. 4, 15 ff. Jac. 5, 8.
1. Petr. 4, 7. 1. Joh. 2, 18. Offenb. 1, 1. 3. 3, 11. 22,
7. 10. 12. 20. .

Ist hiemit der lezte Versuch gescheitert, die grosse
Kluft, welche auf unsrem heutigen Standpunkt zwischen
der Zerstörung Jerusalems und dem Ende aller Dinge be-
festigt ist, auch in die vorliegenden Reden hineinzubrin-
gen: so sind wir thatsächlich belehrt, dass jene Trennung
eben nur unsre Vorstellung ist, die wir in die Darstellung
des Textes nicht hineintragen dürfen. Und wenn wir er-
wägen, dass wir die Vorstellung von jener Kluft nur der
Erfahrung der vielen Jahrhunderte verdanken, welche seit

Dritter Abschnitt.
ziehung auf die Einnahme Jerusalems und das damit Zu-
sammenhängende hinausgienge: so findet sich doch auch
hier (V. 27.) das τότε ὄψονται τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου ἐρχό-
μενον ἐν νεφέλῃ, und wenn dieſs Schleiermacher als bloſses
Bild für die zu Tage kommende religiöse Bedeutung der
zuvorbeschriebenen politischen und Naturbegebenheiten er-
klärt: so ist dieſs eine Gewaltsamkeit, an welcher seine
ganze Ansicht von dem Verhältniſs der beiden Berichte
scheitert. Wenn auf diese Weise in der Verknüpfung
des Endes aller Dinge mit der Zerstörung des Tem-
pels zu Jerusalem Matthäus keineswegs allein steht, son-
dern Lukas sie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, der
in diesem Abschnitt einen Auszug aus Matthäus giebt: so
mag zwar vielleicht auch in dieser Rede Jesu, wie in an-
dern, die sie mittheilen, Manches zu verschiedenen Zeiten Ge-
sprochene zusammengestellt sein; aber zu der Annahme hat
man kein Recht, daſs gerade das auf jene beiden nach un-
srer Vorstellung so weit auseinanderliegenden Begebenhei-
ten sich Beziehende das Nichtzusammengehörige sei, zumal
wir aus der übereinstimmenden Darstellung der übrigen
N. T.lichen Schriften ersehen, daſs die erste Gemeinde die
Wiederkunft Christi sammt dem Ende der gegenwärtigen
Weltperiode als nahe bevorstehend erwartete (s. 1. Kor.
10, 11. 15, 51. Phil. 4, 5, 1. Thess. 4, 15 ff. Jac. 5, 8.
1. Petr. 4, 7. 1. Joh. 2, 18. Offenb. 1, 1. 3. 3, 11. 22,
7. 10. 12. 20. .

Ist hiemit der lezte Versuch gescheitert, die groſse
Kluft, welche auf unsrem heutigen Standpunkt zwischen
der Zerstörung Jerusalems und dem Ende aller Dinge be-
festigt ist, auch in die vorliegenden Reden hineinzubrin-
gen: so sind wir thatsächlich belehrt, daſs jene Trennung
eben nur unsre Vorstellung ist, die wir in die Darstellung
des Textes nicht hineintragen dürfen. Und wenn wir er-
wägen, daſs wir die Vorstellung von jener Kluft nur der
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[354/0373] Dritter Abschnitt. ziehung auf die Einnahme Jerusalems und das damit Zu- sammenhängende hinausgienge: so findet sich doch auch hier (V. 27.) das τότε ὄψονται τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου ἐρχό- μενον ἐν νεφέλῃ, und wenn dieſs Schleiermacher als bloſses Bild für die zu Tage kommende religiöse Bedeutung der zuvorbeschriebenen politischen und Naturbegebenheiten er- klärt: so ist dieſs eine Gewaltsamkeit, an welcher seine ganze Ansicht von dem Verhältniſs der beiden Berichte scheitert. Wenn auf diese Weise in der Verknüpfung des Endes aller Dinge mit der Zerstörung des Tem- pels zu Jerusalem Matthäus keineswegs allein steht, son- dern Lukas sie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, der in diesem Abschnitt einen Auszug aus Matthäus giebt: so mag zwar vielleicht auch in dieser Rede Jesu, wie in an- dern, die sie mittheilen, Manches zu verschiedenen Zeiten Ge- sprochene zusammengestellt sein; aber zu der Annahme hat man kein Recht, daſs gerade das auf jene beiden nach un- srer Vorstellung so weit auseinanderliegenden Begebenhei- ten sich Beziehende das Nichtzusammengehörige sei, zumal wir aus der übereinstimmenden Darstellung der übrigen N. T.lichen Schriften ersehen, daſs die erste Gemeinde die Wiederkunft Christi sammt dem Ende der gegenwärtigen Weltperiode als nahe bevorstehend erwartete (s. 1. Kor. 10, 11. 15, 51. Phil. 4, 5, 1. Thess. 4, 15 ff. Jac. 5, 8. 1. Petr. 4, 7. 1. Joh. 2, 18. Offenb. 1, 1. 3. 3, 11. 22, 7. 10. 12. 20. . Ist hiemit der lezte Versuch gescheitert, die groſse Kluft, welche auf unsrem heutigen Standpunkt zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Ende aller Dinge be- festigt ist, auch in die vorliegenden Reden hineinzubrin- gen: so sind wir thatsächlich belehrt, daſs jene Trennung eben nur unsre Vorstellung ist, die wir in die Darstellung des Textes nicht hineintragen dürfen. Und wenn wir er- wägen, daſs wir die Vorstellung von jener Kluft nur der Erfahrung der vielen Jahrhunderte verdanken, welche seit

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/373>, abgerufen am 26.04.2024.