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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 123.
rückziehen konnte -- das Erstaunen über die Heilung wer-
de die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen
haben: verfolgt Paulus selbst bis nach Gethsemane den
Herrn mit natürlicher Erklärung seiner Wunder. Jesus
soll das verwundete Ohr durch Befühlung (apsamenos) un-
tersucht, und sofort angegeben haben, was zum Behuf der
Heilung zu thun sei (iasato auton): hätte er ihn durch
ein Wunder geheilt, so müsste doch auch ein Erstaunen
der Anwese den gemeldet sein. Solche Quälerei ist diess-
mal besonders unnöthig, da das Alleinstehen des Lukas
mit dem fraglichen Zug und der ganze Zusammenhang
der Scene uns deutlich genug sagt, was wir von der Sache
zu halten haben. Jesus, der so vieles Leiden, an welchem
er unschuldig war, durch seine Wunderkraft gehoben hat-
te, der sollte ein Leiden, welches einer von seinen Jüngern
aus Anhänglichkeit an ihn, also mittelbar er selbst, verur-
sacht hatte, ungeheilt gelassen haben? Diess musste man
bald undenkbar finden, und so dem Schwertstreich des
Petrus eine Wunderheilung von Seiten Jesu -- die lezte
in der evangelischen Geschichte -- sich anschliessen.

Hieher, unmittelbar vor seine Abführung, stellen die
Synoptiker den Vorwurf, welchen Jesus den zu seiner
Gefangennehmung Gekommenen machte, dass sie ihn, der
ihnen durch sein tägliches öffentliches Auftreten im Tem-
pel die beste Gelegenheit gegeben habe, sich seiner auf die
einfachste Weise zu bemächtigen, -- ein schlimmes An-
zeichen für die Reinheit ihrer Sache -- mit so vielen Um-
ständen, wie einen Räuber hier aussen aufsuchen. Das vier-
te Evangelium lässt ihn etwas Ähnliches später zu Annas
sagen, dessen Erkundigung nach seinen Schülern und sei-
ner Lehre er auf die Öffentlichkeit seines ganzen Wirkens, auf
sein Lehren in Tempel und Synagoge, verweist (18, 20 f.).
Wie wenn er von Beidem vernommen hätte, sowohl dass
Jesus so etwas dem Hohenpriester, als dass er es bei sei-
ner Gefangennehmung gesagt habe, lässt Lukas die Ho-

Drittes Kapitel. §. 123.
rückziehen konnte — das Erstaunen über die Heilung wer-
de die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen
haben: verfolgt Paulus selbst bis nach Gethsemane den
Herrn mit natürlicher Erklärung seiner Wunder. Jesus
soll das verwundete Ohr durch Befühlung (ἁψάμενος) un-
tersucht, und sofort angegeben haben, was zum Behuf der
Heilung zu thun sei (ἰάσατο αὐτόν): hätte er ihn durch
ein Wunder geheilt, so müſste doch auch ein Erstaunen
der Anwese den gemeldet sein. Solche Quälerei ist dieſs-
mal besonders unnöthig, da das Alleinstehen des Lukas
mit dem fraglichen Zug und der ganze Zusammenhang
der Scene uns deutlich genug sagt, was wir von der Sache
zu halten haben. Jesus, der so vieles Leiden, an welchem
er unschuldig war, durch seine Wunderkraft gehoben hat-
te, der sollte ein Leiden, welches einer von seinen Jüngern
aus Anhänglichkeit an ihn, also mittelbar er selbst, verur-
sacht hatte, ungeheilt gelassen haben? Dieſs muſste man
bald undenkbar finden, und so dem Schwertstreich des
Petrus eine Wunderheilung von Seiten Jesu — die lezte
in der evangelischen Geschichte — sich anschlieſsen.

Hieher, unmittelbar vor seine Abführung, stellen die
Synoptiker den Vorwurf, welchen Jesus den zu seiner
Gefangennehmung Gekommenen machte, daſs sie ihn, der
ihnen durch sein tägliches öffentliches Auftreten im Tem-
pel die beste Gelegenheit gegeben habe, sich seiner auf die
einfachste Weise zu bemächtigen, — ein schlimmes An-
zeichen für die Reinheit ihrer Sache — mit so vielen Um-
ständen, wie einen Räuber hier aussen aufsuchen. Das vier-
te Evangelium läſst ihn etwas Ähnliches später zu Annas
sagen, dessen Erkundigung nach seinen Schülern und sei-
ner Lehre er auf die Öffentlichkeit seines ganzen Wirkens, auf
sein Lehren in Tempel und Synagoge, verweist (18, 20 f.).
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Jesus so etwas dem Hohenpriester, als daſs er es bei sei-
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[479/0498] Drittes Kapitel. §. 123. rückziehen konnte — das Erstaunen über die Heilung wer- de die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben: verfolgt Paulus selbst bis nach Gethsemane den Herrn mit natürlicher Erklärung seiner Wunder. Jesus soll das verwundete Ohr durch Befühlung (ἁψάμενος) un- tersucht, und sofort angegeben haben, was zum Behuf der Heilung zu thun sei (ἰάσατο αὐτόν): hätte er ihn durch ein Wunder geheilt, so müſste doch auch ein Erstaunen der Anwese den gemeldet sein. Solche Quälerei ist dieſs- mal besonders unnöthig, da das Alleinstehen des Lukas mit dem fraglichen Zug und der ganze Zusammenhang der Scene uns deutlich genug sagt, was wir von der Sache zu halten haben. Jesus, der so vieles Leiden, an welchem er unschuldig war, durch seine Wunderkraft gehoben hat- te, der sollte ein Leiden, welches einer von seinen Jüngern aus Anhänglichkeit an ihn, also mittelbar er selbst, verur- sacht hatte, ungeheilt gelassen haben? Dieſs muſste man bald undenkbar finden, und so dem Schwertstreich des Petrus eine Wunderheilung von Seiten Jesu — die lezte in der evangelischen Geschichte — sich anschlieſsen. Hieher, unmittelbar vor seine Abführung, stellen die Synoptiker den Vorwurf, welchen Jesus den zu seiner Gefangennehmung Gekommenen machte, daſs sie ihn, der ihnen durch sein tägliches öffentliches Auftreten im Tem- pel die beste Gelegenheit gegeben habe, sich seiner auf die einfachste Weise zu bemächtigen, — ein schlimmes An- zeichen für die Reinheit ihrer Sache — mit so vielen Um- ständen, wie einen Räuber hier aussen aufsuchen. Das vier- te Evangelium läſst ihn etwas Ähnliches später zu Annas sagen, dessen Erkundigung nach seinen Schülern und sei- ner Lehre er auf die Öffentlichkeit seines ganzen Wirkens, auf sein Lehren in Tempel und Synagoge, verweist (18, 20 f.). Wie wenn er von Beidem vernommen hätte, sowohl daſs Jesus so etwas dem Hohenpriester, als daſs er es bei sei- ner Gefangennehmung gesagt habe, läſst Lukas die Ho-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/498>, abgerufen am 27.04.2024.