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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 128.
Verwicklung des tetelesai und des pater k. t. l.: so soll-
te man wohl einsehen und zugestehen, dass keiner der
Evangelisten bei den Worten, welche er Jesu am Kreuz
in den Mund legt, auf diejenigen, welche der andre ihm
leiht, gerechnet, und von denselben etwas gewusst habe;
vielmehr mahlt diese Scene jeder auf seine Weise, je nach-
dem er oder die ihm zu Gebot stehende Sage nach dieser
oder jener Weissagung oder sonstigen Rücksicht die Vor-
stellung von derselben ausgebildet hatte.

Eigenthümliche Schwierigkeit macht hier noch die
Stundenzählung. Nach sämmtlichen Synoptikern fand apo
ektes oras eos oras ennates (nach unsrer Rechnung von
Mittags 12 bis Nachmittags 3 Uhr) die Finsterniss statt;
nach Matthäus und Markus war es um die leztere Stun-
de, dass Jesus über Gottverlassenheit klagte und bald dar-
auf den Geist aufgab; nach Markus war es ora trite
(Vorm. 9 Uhr) gewesen, als sie Jesum kreuzigten (V. 25.).
Dagegen hat nach Johannes (19, 14.) um die sechste Stun-
de, wo nach Markus Jesus bereits drei Stunden am Kreu-
ze hieng, Pilatus erst über ihn zu Gericht gesessen. Diess
ist, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, der Sonnenzeiger
rückwärts gegangen sein soll, ein Widerspruch, der
sich weder durch gewaltsame Änderung der Lesart, noch
durch Berufung auf das osei bei Johannes, oder auf die
Unfähigkeit der Jünger, unter so schmerzvollen Eindrü-
cken die Stunde genau zu beobachten, heben lässt; höch-
stens vielleicht dadurch, wenn sich beweisen liesse, dass
das vierte Evangelium durchaus von einer andern Stunden-
zählung als die übrigen ausgehe 40).


40) So Rettig, exegetische Analekten, in Ullmann's und Umbreit's
Studien, 1830, 1. S. 106 ff. Vgl. über die verschiedenen Aus-
gleichungsversuche Lücke z. d. St. des Joh.

Drittes Kapitel. §. 128.
Verwicklung des τετέλεςαι und des πάτερ κ. τ. λ.: so soll-
te man wohl einsehen und zugestehen, daſs keiner der
Evangelisten bei den Worten, welche er Jesu am Kreuz
in den Mund legt, auf diejenigen, welche der andre ihm
leiht, gerechnet, und von denselben etwas gewuſst habe;
vielmehr mahlt diese Scene jeder auf seine Weise, je nach-
dem er oder die ihm zu Gebot stehende Sage nach dieser
oder jener Weissagung oder sonstigen Rücksicht die Vor-
stellung von derselben ausgebildet hatte.

Eigenthümliche Schwierigkeit macht hier noch die
Stundenzählung. Nach sämmtlichen Synoptikern fand ἀπὸ
ἕκτης ὥρας ἕως ὥρας ἐννάτης (nach unsrer Rechnung von
Mittags 12 bis Nachmittags 3 Uhr) die Finsterniſs statt;
nach Matthäus und Markus war es um die leztere Stun-
de, daſs Jesus über Gottverlassenheit klagte und bald dar-
auf den Geist aufgab; nach Markus war es ὥρα τρίτη
(Vorm. 9 Uhr) gewesen, als sie Jesum kreuzigten (V. 25.).
Dagegen hat nach Johannes (19, 14.) um die sechste Stun-
de, wo nach Markus Jesus bereits drei Stunden am Kreu-
ze hieng, Pilatus erst über ihn zu Gericht gesessen. Dieſs
ist, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, der Sonnenzeiger
rückwärts gegangen sein soll, ein Widerspruch, der
sich weder durch gewaltsame Änderung der Lesart, noch
durch Berufung auf das ὡσεὶ bei Johannes, oder auf die
Unfähigkeit der Jünger, unter so schmerzvollen Eindrü-
cken die Stunde genau zu beobachten, heben läſst; höch-
stens vielleicht dadurch, wenn sich beweisen lieſse, daſs
das vierte Evangelium durchaus von einer andern Stunden-
zählung als die übrigen ausgehe 40).


40) So Rettig, exegetische Analekten, in Ullmann's und Umbreit's
Studien, 1830, 1. S. 106 ff. Vgl. über die verschiedenen Aus-
gleichungsversuche Lücke z. d. St. des Joh.
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[553/0572] Drittes Kapitel. §. 128. Verwicklung des τετέλεςαι und des πάτερ κ. τ. λ.: so soll- te man wohl einsehen und zugestehen, daſs keiner der Evangelisten bei den Worten, welche er Jesu am Kreuz in den Mund legt, auf diejenigen, welche der andre ihm leiht, gerechnet, und von denselben etwas gewuſst habe; vielmehr mahlt diese Scene jeder auf seine Weise, je nach- dem er oder die ihm zu Gebot stehende Sage nach dieser oder jener Weissagung oder sonstigen Rücksicht die Vor- stellung von derselben ausgebildet hatte. Eigenthümliche Schwierigkeit macht hier noch die Stundenzählung. Nach sämmtlichen Synoptikern fand ἀπὸ ἕκτης ὥρας ἕως ὥρας ἐννάτης (nach unsrer Rechnung von Mittags 12 bis Nachmittags 3 Uhr) die Finsterniſs statt; nach Matthäus und Markus war es um die leztere Stun- de, daſs Jesus über Gottverlassenheit klagte und bald dar- auf den Geist aufgab; nach Markus war es ὥρα τρίτη (Vorm. 9 Uhr) gewesen, als sie Jesum kreuzigten (V. 25.). Dagegen hat nach Johannes (19, 14.) um die sechste Stun- de, wo nach Markus Jesus bereits drei Stunden am Kreu- ze hieng, Pilatus erst über ihn zu Gericht gesessen. Dieſs ist, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, der Sonnenzeiger rückwärts gegangen sein soll, ein Widerspruch, der sich weder durch gewaltsame Änderung der Lesart, noch durch Berufung auf das ὡσεὶ bei Johannes, oder auf die Unfähigkeit der Jünger, unter so schmerzvollen Eindrü- cken die Stunde genau zu beobachten, heben läſst; höch- stens vielleicht dadurch, wenn sich beweisen lieſse, daſs das vierte Evangelium durchaus von einer andern Stunden- zählung als die übrigen ausgehe 40). 40) So Rettig, exegetische Analekten, in Ullmann's und Umbreit's Studien, 1830, 1. S. 106 ff. Vgl. über die verschiedenen Aus- gleichungsversuche Lücke z. d. St. des Joh.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/572>, abgerufen am 26.04.2024.