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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Leh
sich zu den Sitten der Länder und Menschen her-
ablassen. (*)

Ein Dichter von Wielands Geist könnte sich einen
unsterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen
würde, was Lukretius dem Epicur ist. Nie ist ein
erhabeneres System der Philosophie erdacht worden,
als das Leibnizische, das auch zugleich wegen der
Kühnheit vieler seiner Lehren, die das höchste ent-
halten, was der menschliche Verstand jemals wagen
wird, recht für den hohen Flug der Dichtkunst ge-
macht zu seyn scheinet. Seine Begriffe von einze-
len Wesen, und eines jeden besonderer Harmonie
mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele;
seine allgemeine vorhergeordnete Harmonie, seine
Stadt Gottes --. Was kann ein philosophischer
Poet grössers wünschen? Auch könnte man einen
fürtreflichen Stoff zum Lehrgedichte von den Grund-
wahrheiten und Grundmaximen einer weisen Staats-
verwaltung hernehmen. Was für unvergleichliche
Gelegenheiten zu den reizendsten Gemählden würde
er nicht an die Hand geben? Zu wünschen wär
auch, daß ein dazu geschikter Dichter ein großes
Lobgedicht auf die vornehmsten Wolthäter des mensch-
lichen Geschlechts ausarbeitete. Er würde Gele-
genheit haben, darin zu lehren, in was für einem
Zustande die Menschen seyn könnten, wenn einmal
Vernunft und Sitten den höchsten Grad, dessen die
menschliche Natur fähig ist, würden erreicht haben.
Denn würde er allen großen Männern, die zum be-
sten der Menschen, Künste, Geseze, Wissenschaften
erfunden haben, ihr verdientes Lob ertheilen, und
dadurch andre Genie zur Nacheyferung reizen. Ein
sehr herrlicher und reicher Stoff. Selbst einige be-
sondere, für das menschliche Geschlecht höchst wich-
tige Wahrheiten, von der göttlichen Oberherrschaft
über die Welt, von der Unsterblichkeit der Seele,
von der Wichtigkeit der Religion, sind zwar von ei-
nigen neuern Dichtern behandelt worden; aber noch
gar nicht in dem Maaße, daß man damit zufrieden
seyn könnte. Hier ist also für die Dichter noch ein
überaus fruchtbares Feld, wie ganz neu zu bearbei-
ten. Um so vielmehr ist zu wünschen, daß die Kunst-
richter nicht so schnell seyn möchten, unsren jungen
Dichtern, die in verschiedenen Kleinigkeiten, ein
schönes dichterisches Genie gezeiget haben, durch
gar zu ungemessenes Lob, die Einbildung einzuflö-
ßen, als ob sie izt schon in das Verzeichnis der gro-
ßen Dichter gehören, die durch ihre Gesänge sich um
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Lei
das menschliche Geschlecht verdient gemacht haben.
Dies ist eben so viel, als wenn man einen jungen
Philosophen deswegen, daß er etwa eine metaphysi-
sche Erklärung richtiger, als andre gegeben, oder
einige Säze gründlicher, als bis dahin geschehen ist,
bewiesen hätte, neben Leibnitzen, oder Wolfen stellen
wollte. Wer historische Nachrichten und verschiedene
critische Bemerkungen über alle Lehrgedichte der Al-
ten und der Neuern, zu haben wünschet, wird auf
Hr. Duschens Briefe zur Bildung des Geschmaks
verwiesen.

Die Alten hatten die Gewohnheit, dem auch die
meisten Neuern gefolget sind, ihre Lehrgedichte
allemal jemanden zuzuschreiben, und Servius hält
dieses so gar für nothwendig, quia praeceptum et
doctoris et discipuli personam requirit.
Aber Vir-
gil hat gewiß den Mecänas nicht für seinen Schüler
angesehen.

Zu dem Lehrgedichte können auch die Satyren und
die lehrenden Oden und Lieder gerechnet werden; da-
von aber wird in den besondern Artikeln über ihre
Gattung gesprochen.

Leicht, Leichtigkeit.
(Schöne Künste.)

Durch diese Wörter bezeichnet man eine schäzbare
Eigenschaft in Werken der Kunst, die sich entweder
in den Gedanken selbst, oder nur im Ausdruk der-
selben zeiget. Leichtigkeit in Gedanken rühmet man
an den Werken, wo alle Vorstellungen in einem so
natürlichen Zusammenhang neben einander sind, oder
auf einander folgen, daß uns dünkt, jede habe sich
dem Künstler von selbst dargebothen; darin jedes so
ist, daß man denken sollte, es habe nicht anders
seyn können. Daher geräth man nicht selten bey
solchen Werken auf den Wahn, man würde alles
eben so gemacht haben. Nirgend bemerkt man, daß
der Künstier mit Mühe, oder durch Kunstgriffe
die Gedanken gefunden, und an einander gekettet
habe; keine Spuhr von Nebengedanken, die in an-
dern Werken, als Gerüste gebraucht werden, um
auf die Hauptsachen zu kommen. Diese Leichtig-
tigkeit macht also die Gedanken und ihren Zusam-
menhang höchst klar und natürlich. Deswegen ver-
gißt man bey solchen Werken den Künstler, und
seine gehabte Bemühung; nur das Werk beschäfti-
get uns; man glaubt die Stimme der Wahrheit

selbst
(*) S.
Briefe über
die neueste
Litteratur
im VIII Th
S. 165.
Zweyter Theil. Qq qq

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Leh
ſich zu den Sitten der Laͤnder und Menſchen her-
ablaſſen. (*)

Ein Dichter von Wielands Geiſt koͤnnte ſich einen
unſterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen
wuͤrde, was Lukretius dem Epicur iſt. Nie iſt ein
erhabeneres Syſtem der Philoſophie erdacht worden,
als das Leibniziſche, das auch zugleich wegen der
Kuͤhnheit vieler ſeiner Lehren, die das hoͤchſte ent-
halten, was der menſchliche Verſtand jemals wagen
wird, recht fuͤr den hohen Flug der Dichtkunſt ge-
macht zu ſeyn ſcheinet. Seine Begriffe von einze-
len Weſen, und eines jeden beſonderer Harmonie
mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele;
ſeine allgemeine vorhergeordnete Harmonie, ſeine
Stadt Gottes —. Was kann ein philoſophiſcher
Poet groͤſſers wuͤnſchen? Auch koͤnnte man einen
fuͤrtreflichen Stoff zum Lehrgedichte von den Grund-
wahrheiten und Grundmaximen einer weiſen Staats-
verwaltung hernehmen. Was fuͤr unvergleichliche
Gelegenheiten zu den reizendſten Gemaͤhlden wuͤrde
er nicht an die Hand geben? Zu wuͤnſchen waͤr
auch, daß ein dazu geſchikter Dichter ein großes
Lobgedicht auf die vornehmſten Wolthaͤter des menſch-
lichen Geſchlechts ausarbeitete. Er wuͤrde Gele-
genheit haben, darin zu lehren, in was fuͤr einem
Zuſtande die Menſchen ſeyn koͤnnten, wenn einmal
Vernunft und Sitten den hoͤchſten Grad, deſſen die
menſchliche Natur faͤhig iſt, wuͤrden erreicht haben.
Denn wuͤrde er allen großen Maͤnnern, die zum be-
ſten der Menſchen, Kuͤnſte, Geſeze, Wiſſenſchaften
erfunden haben, ihr verdientes Lob ertheilen, und
dadurch andre Genie zur Nacheyferung reizen. Ein
ſehr herrlicher und reicher Stoff. Selbſt einige be-
ſondere, fuͤr das menſchliche Geſchlecht hoͤchſt wich-
tige Wahrheiten, von der goͤttlichen Oberherrſchaft
uͤber die Welt, von der Unſterblichkeit der Seele,
von der Wichtigkeit der Religion, ſind zwar von ei-
nigen neuern Dichtern behandelt worden; aber noch
gar nicht in dem Maaße, daß man damit zufrieden
ſeyn koͤnnte. Hier iſt alſo fuͤr die Dichter noch ein
uͤberaus fruchtbares Feld, wie ganz neu zu bearbei-
ten. Um ſo vielmehr iſt zu wuͤnſchen, daß die Kunſt-
richter nicht ſo ſchnell ſeyn moͤchten, unſren jungen
Dichtern, die in verſchiedenen Kleinigkeiten, ein
ſchoͤnes dichteriſches Genie gezeiget haben, durch
gar zu ungemeſſenes Lob, die Einbildung einzufloͤ-
ßen, als ob ſie izt ſchon in das Verzeichnis der gro-
ßen Dichter gehoͤren, die durch ihre Geſaͤnge ſich um
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Lei
das menſchliche Geſchlecht verdient gemacht haben.
Dies iſt eben ſo viel, als wenn man einen jungen
Philoſophen deswegen, daß er etwa eine metaphyſi-
ſche Erklaͤrung richtiger, als andre gegeben, oder
einige Saͤze gruͤndlicher, als bis dahin geſchehen iſt,
bewieſen haͤtte, neben Leibnitzen, oder Wolfen ſtellen
wollte. Wer hiſtoriſche Nachrichten und verſchiedene
critiſche Bemerkungen uͤber alle Lehrgedichte der Al-
ten und der Neuern, zu haben wuͤnſchet, wird auf
Hr. Duſchens Briefe zur Bildung des Geſchmaks
verwieſen.

Die Alten hatten die Gewohnheit, dem auch die
meiſten Neuern gefolget ſind, ihre Lehrgedichte
allemal jemanden zuzuſchreiben, und Servius haͤlt
dieſes ſo gar fuͤr nothwendig, quia præceptum et
doctoris et diſcipuli perſonam requirit.
Aber Vir-
gil hat gewiß den Mecaͤnas nicht fuͤr ſeinen Schuͤler
angeſehen.

Zu dem Lehrgedichte koͤnnen auch die Satyren und
die lehrenden Oden und Lieder gerechnet werden; da-
von aber wird in den beſondern Artikeln uͤber ihre
Gattung geſprochen.

Leicht, Leichtigkeit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Durch dieſe Woͤrter bezeichnet man eine ſchaͤzbare
Eigenſchaft in Werken der Kunſt, die ſich entweder
in den Gedanken ſelbſt, oder nur im Ausdruk der-
ſelben zeiget. Leichtigkeit in Gedanken ruͤhmet man
an den Werken, wo alle Vorſtellungen in einem ſo
natuͤrlichen Zuſammenhang neben einander ſind, oder
auf einander folgen, daß uns duͤnkt, jede habe ſich
dem Kuͤnſtler von ſelbſt dargebothen; darin jedes ſo
iſt, daß man denken ſollte, es habe nicht anders
ſeyn koͤnnen. Daher geraͤth man nicht ſelten bey
ſolchen Werken auf den Wahn, man wuͤrde alles
eben ſo gemacht haben. Nirgend bemerkt man, daß
der Kuͤnſtier mit Muͤhe, oder durch Kunſtgriffe
die Gedanken gefunden, und an einander gekettet
habe; keine Spuhr von Nebengedanken, die in an-
dern Werken, als Geruͤſte gebraucht werden, um
auf die Hauptſachen zu kommen. Dieſe Leichtig-
tigkeit macht alſo die Gedanken und ihren Zuſam-
menhang hoͤchſt klar und natuͤrlich. Deswegen ver-
gißt man bey ſolchen Werken den Kuͤnſtler, und
ſeine gehabte Bemuͤhung; nur das Werk beſchaͤfti-
get uns; man glaubt die Stimme der Wahrheit

ſelbſt
(*) S.
Briefe uͤber
die neueſte
Litteratur
im VIII Th
S. 165.
Zweyter Theil. Qq qq
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[691[673]/0108] Leh Lei ſich zu den Sitten der Laͤnder und Menſchen her- ablaſſen. (*) Ein Dichter von Wielands Geiſt koͤnnte ſich einen unſterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen wuͤrde, was Lukretius dem Epicur iſt. Nie iſt ein erhabeneres Syſtem der Philoſophie erdacht worden, als das Leibniziſche, das auch zugleich wegen der Kuͤhnheit vieler ſeiner Lehren, die das hoͤchſte ent- halten, was der menſchliche Verſtand jemals wagen wird, recht fuͤr den hohen Flug der Dichtkunſt ge- macht zu ſeyn ſcheinet. Seine Begriffe von einze- len Weſen, und eines jeden beſonderer Harmonie mit dem Ganzen, von den Monaden, von der Seele; ſeine allgemeine vorhergeordnete Harmonie, ſeine Stadt Gottes —. Was kann ein philoſophiſcher Poet groͤſſers wuͤnſchen? Auch koͤnnte man einen fuͤrtreflichen Stoff zum Lehrgedichte von den Grund- wahrheiten und Grundmaximen einer weiſen Staats- verwaltung hernehmen. Was fuͤr unvergleichliche Gelegenheiten zu den reizendſten Gemaͤhlden wuͤrde er nicht an die Hand geben? Zu wuͤnſchen waͤr auch, daß ein dazu geſchikter Dichter ein großes Lobgedicht auf die vornehmſten Wolthaͤter des menſch- lichen Geſchlechts ausarbeitete. Er wuͤrde Gele- genheit haben, darin zu lehren, in was fuͤr einem Zuſtande die Menſchen ſeyn koͤnnten, wenn einmal Vernunft und Sitten den hoͤchſten Grad, deſſen die menſchliche Natur faͤhig iſt, wuͤrden erreicht haben. Denn wuͤrde er allen großen Maͤnnern, die zum be- ſten der Menſchen, Kuͤnſte, Geſeze, Wiſſenſchaften erfunden haben, ihr verdientes Lob ertheilen, und dadurch andre Genie zur Nacheyferung reizen. Ein ſehr herrlicher und reicher Stoff. Selbſt einige be- ſondere, fuͤr das menſchliche Geſchlecht hoͤchſt wich- tige Wahrheiten, von der goͤttlichen Oberherrſchaft uͤber die Welt, von der Unſterblichkeit der Seele, von der Wichtigkeit der Religion, ſind zwar von ei- nigen neuern Dichtern behandelt worden; aber noch gar nicht in dem Maaße, daß man damit zufrieden ſeyn koͤnnte. Hier iſt alſo fuͤr die Dichter noch ein uͤberaus fruchtbares Feld, wie ganz neu zu bearbei- ten. Um ſo vielmehr iſt zu wuͤnſchen, daß die Kunſt- richter nicht ſo ſchnell ſeyn moͤchten, unſren jungen Dichtern, die in verſchiedenen Kleinigkeiten, ein ſchoͤnes dichteriſches Genie gezeiget haben, durch gar zu ungemeſſenes Lob, die Einbildung einzufloͤ- ßen, als ob ſie izt ſchon in das Verzeichnis der gro- ßen Dichter gehoͤren, die durch ihre Geſaͤnge ſich um das menſchliche Geſchlecht verdient gemacht haben. Dies iſt eben ſo viel, als wenn man einen jungen Philoſophen deswegen, daß er etwa eine metaphyſi- ſche Erklaͤrung richtiger, als andre gegeben, oder einige Saͤze gruͤndlicher, als bis dahin geſchehen iſt, bewieſen haͤtte, neben Leibnitzen, oder Wolfen ſtellen wollte. Wer hiſtoriſche Nachrichten und verſchiedene critiſche Bemerkungen uͤber alle Lehrgedichte der Al- ten und der Neuern, zu haben wuͤnſchet, wird auf Hr. Duſchens Briefe zur Bildung des Geſchmaks verwieſen. Die Alten hatten die Gewohnheit, dem auch die meiſten Neuern gefolget ſind, ihre Lehrgedichte allemal jemanden zuzuſchreiben, und Servius haͤlt dieſes ſo gar fuͤr nothwendig, quia præceptum et doctoris et diſcipuli perſonam requirit. Aber Vir- gil hat gewiß den Mecaͤnas nicht fuͤr ſeinen Schuͤler angeſehen. Zu dem Lehrgedichte koͤnnen auch die Satyren und die lehrenden Oden und Lieder gerechnet werden; da- von aber wird in den beſondern Artikeln uͤber ihre Gattung geſprochen. Leicht, Leichtigkeit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Durch dieſe Woͤrter bezeichnet man eine ſchaͤzbare Eigenſchaft in Werken der Kunſt, die ſich entweder in den Gedanken ſelbſt, oder nur im Ausdruk der- ſelben zeiget. Leichtigkeit in Gedanken ruͤhmet man an den Werken, wo alle Vorſtellungen in einem ſo natuͤrlichen Zuſammenhang neben einander ſind, oder auf einander folgen, daß uns duͤnkt, jede habe ſich dem Kuͤnſtler von ſelbſt dargebothen; darin jedes ſo iſt, daß man denken ſollte, es habe nicht anders ſeyn koͤnnen. Daher geraͤth man nicht ſelten bey ſolchen Werken auf den Wahn, man wuͤrde alles eben ſo gemacht haben. Nirgend bemerkt man, daß der Kuͤnſtier mit Muͤhe, oder durch Kunſtgriffe die Gedanken gefunden, und an einander gekettet habe; keine Spuhr von Nebengedanken, die in an- dern Werken, als Geruͤſte gebraucht werden, um auf die Hauptſachen zu kommen. Dieſe Leichtig- tigkeit macht alſo die Gedanken und ihren Zuſam- menhang hoͤchſt klar und natuͤrlich. Deswegen ver- gißt man bey ſolchen Werken den Kuͤnſtler, und ſeine gehabte Bemuͤhung; nur das Werk beſchaͤfti- get uns; man glaubt die Stimme der Wahrheit ſelbſt (*) S. Briefe uͤber die neueſte Litteratur im VIII Th S. 165. Zweyter Theil. Qq qq

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 691[673]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/108>, abgerufen am 29.04.2024.