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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lei
selbst zu hören, und die Würkung der Natur selbst
zu empfinden.

Jm Ausdruk ist Leichtigkeit, wenn in der Rede
jeder Ausdruk genau bestimmt ist, und völlige Klar-
heit hat; wenn zu dem Gedanken weder zu viel noch
zu wenig Worte gebraucht werden; wenn die ein-
zelen Begriffe, die den Gedanken ausmachen, in ei-
ner Ordnung folgen, daß er ohne Müh und ohne
Zweydeutigkeit gefaßt wird. Jn zeichnenden Kün-
sten zeiget sich die Leichtigkeit in fließenden und sichern
Umrissen, die nichts unbestimmt lassen; in dreisten
Penselstrichen, denen nicht weiter nachgeholfen wor-
den. Man sieht jede Kleinigkeit, wie man denkt,
daß sie hat seyn müssen, und bildet sich ein, dabey
zu fühlen, daß es dem Künstler nicht schweer wor-
den, es so zu machen. Jm Gesang und Tanz zei-
get sich die Leichtigkeit der Ausübung darin, daß
man auf das deutlichste demerket, es mache dem
Künstler keine Mühe, jedes vollkommen so zu machen,
wie es seyn soll. Wenn die Schmeling singet, so
höret man jeden Ton in der höchsten Reinigkeit, und
fühlet, man sehe sie, oder sehe sie nicht, daß es ihr
keine Mühe macht; man wird versucht zu glauben,
die Natur und nicht eine menschliche Kehle habe diese
Töne so vollkommen gebildet.

Es läßt sich begreifen, daß in jeder Kunst nur die
dazu gebohrne Genie die höchste Leichtigkeit erreichen.
Wer wie la Fomaine von der Natur zum Fabeldich-
ter gebildet worden, wird auch seine Leichtigkeit da-
rin haben. Der Künstler darf bey der Arbeit nur
sich selbst beobachten, um zu wissen, ob sein Werk
Leichtigkeit haben wird. Fühlt er, daß ihm die Ar-
beit schweer wird, daß er Gedanken und Ausdruk
mit einiger Aengstlichkeit suchen muß; so kann er sich
versichert halten, daß dem Werk die Leichtigkeit feh-
len wird. Nur denn, wenn man sich seiner Materie
völlig Meister gemacht hat; wenn man alles, was da-
zu gehöret, oder damit verbunden ist, mit gänzlicher
Klarheit vor sich liegen sieht, kann man leicht wäh-
len und ordnen. Eben so gänzlich muß man den
Ausdruk in seiner Gewalt haben. Darum muß
der Redner seine Sprache von Grundaus erlernt,
der Zeichner die höchste Fertigkeit alle Formen dar-
zustellen, der Tonkünstler eine völlige Kenntnis der
Harmonie besizen, ehe die Leichtigkeit des Ausdruks
bey seiner Arbeit erfolgen kann.

Man hat darum Ursache zu sagen, daß das, was
am leichtesten scheinet, das schweerste sey. Nicht,
[Spaltenumbruch]

Lei
als ob dem Künstler die Arbeit sauer geworden, son-
dern, weil es überhaupt schweer ist, wo nicht die
Natur selbst fast alles gethan hat, jene völlige Herr-
schaft über seine Gedanken und über den Ausdruk
zu erreichen. Nur der, der seine Zeit blos mit Nach-
denken über die Gegenflände seiner Kunst zubringt,
und dabey das gehörige Genie dazu hat, gelanget
auf diese Stufe.

Selten aber wird man ohne sorgfältiges Ausar-
beiten einem Werke die höchste Leichtigkeit geben kön-
nen. Wenn man auch in der lebhaftesten Begei-
sterung arbeitet, wo alles leicht wird; so findet man
hernach doch, daß noch manches fremdes, oder nicht
völlig richtiges mit untergelaufen; weil man in dem
Feuer der Arbeit bey der Menge der sich zudringen-
den Vorstellungen nicht gewählt hat. Darum dür-
fen auch die glüklichsten Genie die Ausarbeitung
nicht versäumen. Ofte giebt erst die lezte Bearbei-
tung, da hier und da nur einzele Ausdrüke geän-
dert, oder eingeschaltet, einzele ganz feine Pensel-
striche, durch ein feines Gefühl an die Hand gege-
ben, dem Werke die wahre Vollkommenheit. Erst
nachdem man in der Rede jeden einzelen Begriff, je-
den Gedanken, jeden Ausdruk gleichsam abgewogen
hat, kann man die höchsie Leichtigkeit in dieselbe
bringen. Das Leichte ist allemal einfach, und das
Einfache ist gemeiniglich das, worauf man zulezt
fällt. Man erkeunet es erst, nachdem man alle
möglichen Arten dieselbe Sache darzustellen, vor sich
hat, und gegen einander vergleichet.

Die Leichtigkeit ist überall eine gute Eigenschaft;
aber gewissen Werken ist sie wesentlicher nöthig, als
andern. Sie ist der Comödie wesentlicher, als dem
Trauerspiel, und im Lied weit nothwendiger, als in
der Ode. Ueberhaupt ist sie in Werken, die für ein
ernstliches Nachdenken gemacht sind, weniger wich-
tig, als in denen, die schnell rühren, oder angenehm
unterhalten sollen. Pindar hatte die Leichtigkeit des
Anakreons nicht nöthig. Von unsern einheimischen
Schriftstellern können Wieland, beydes in gebunde-
ner und ungebundener Rede, und Jacobi in dem
Lied, als Meister des Leichten angepriesen werden.

Leidenschaften.
(Schöne Künste.)

Die Leidenschaften haben einen so großen Antheil
an den Werken der schönen Künste, und spielen da-
rin eine so beträchtliche Role, daß sie in der Theorie

der-

[Spaltenumbruch]

Lei
ſelbſt zu hoͤren, und die Wuͤrkung der Natur ſelbſt
zu empfinden.

Jm Ausdruk iſt Leichtigkeit, wenn in der Rede
jeder Ausdruk genau beſtimmt iſt, und voͤllige Klar-
heit hat; wenn zu dem Gedanken weder zu viel noch
zu wenig Worte gebraucht werden; wenn die ein-
zelen Begriffe, die den Gedanken ausmachen, in ei-
ner Ordnung folgen, daß er ohne Muͤh und ohne
Zweydeutigkeit gefaßt wird. Jn zeichnenden Kuͤn-
ſten zeiget ſich die Leichtigkeit in fließenden und ſichern
Umriſſen, die nichts unbeſtimmt laſſen; in dreiſten
Penſelſtrichen, denen nicht weiter nachgeholfen wor-
den. Man ſieht jede Kleinigkeit, wie man denkt,
daß ſie hat ſeyn muͤſſen, und bildet ſich ein, dabey
zu fuͤhlen, daß es dem Kuͤnſtler nicht ſchweer wor-
den, es ſo zu machen. Jm Geſang und Tanz zei-
get ſich die Leichtigkeit der Ausuͤbung darin, daß
man auf das deutlichſte demerket, es mache dem
Kuͤnſtler keine Muͤhe, jedes vollkommen ſo zu machen,
wie es ſeyn ſoll. Wenn die Schmeling ſinget, ſo
hoͤret man jeden Ton in der hoͤchſten Reinigkeit, und
fuͤhlet, man ſehe ſie, oder ſehe ſie nicht, daß es ihr
keine Muͤhe macht; man wird verſucht zu glauben,
die Natur und nicht eine menſchliche Kehle habe dieſe
Toͤne ſo vollkommen gebildet.

Es laͤßt ſich begreifen, daß in jeder Kunſt nur die
dazu gebohrne Genie die hoͤchſte Leichtigkeit erreichen.
Wer wie la Fomaine von der Natur zum Fabeldich-
ter gebildet worden, wird auch ſeine Leichtigkeit da-
rin haben. Der Kuͤnſtler darf bey der Arbeit nur
ſich ſelbſt beobachten, um zu wiſſen, ob ſein Werk
Leichtigkeit haben wird. Fuͤhlt er, daß ihm die Ar-
beit ſchweer wird, daß er Gedanken und Ausdruk
mit einiger Aengſtlichkeit ſuchen muß; ſo kann er ſich
verſichert halten, daß dem Werk die Leichtigkeit feh-
len wird. Nur denn, wenn man ſich ſeiner Materie
voͤllig Meiſter gemacht hat; wenn man alles, was da-
zu gehoͤret, oder damit verbunden iſt, mit gaͤnzlicher
Klarheit vor ſich liegen ſieht, kann man leicht waͤh-
len und ordnen. Eben ſo gaͤnzlich muß man den
Ausdruk in ſeiner Gewalt haben. Darum muß
der Redner ſeine Sprache von Grundaus erlernt,
der Zeichner die hoͤchſte Fertigkeit alle Formen dar-
zuſtellen, der Tonkuͤnſtler eine voͤllige Kenntnis der
Harmonie beſizen, ehe die Leichtigkeit des Ausdruks
bey ſeiner Arbeit erfolgen kann.

Man hat darum Urſache zu ſagen, daß das, was
am leichteſten ſcheinet, das ſchweerſte ſey. Nicht,
[Spaltenumbruch]

Lei
als ob dem Kuͤnſtler die Arbeit ſauer geworden, ſon-
dern, weil es uͤberhaupt ſchweer iſt, wo nicht die
Natur ſelbſt faſt alles gethan hat, jene voͤllige Herr-
ſchaft uͤber ſeine Gedanken und uͤber den Ausdruk
zu erreichen. Nur der, der ſeine Zeit blos mit Nach-
denken uͤber die Gegenflaͤnde ſeiner Kunſt zubringt,
und dabey das gehoͤrige Genie dazu hat, gelanget
auf dieſe Stufe.

Selten aber wird man ohne ſorgfaͤltiges Ausar-
beiten einem Werke die hoͤchſte Leichtigkeit geben koͤn-
nen. Wenn man auch in der lebhafteſten Begei-
ſterung arbeitet, wo alles leicht wird; ſo findet man
hernach doch, daß noch manches fremdes, oder nicht
voͤllig richtiges mit untergelaufen; weil man in dem
Feuer der Arbeit bey der Menge der ſich zudringen-
den Vorſtellungen nicht gewaͤhlt hat. Darum duͤr-
fen auch die gluͤklichſten Genie die Ausarbeitung
nicht verſaͤumen. Ofte giebt erſt die lezte Bearbei-
tung, da hier und da nur einzele Ausdruͤke geaͤn-
dert, oder eingeſchaltet, einzele ganz feine Penſel-
ſtriche, durch ein feines Gefuͤhl an die Hand gege-
ben, dem Werke die wahre Vollkommenheit. Erſt
nachdem man in der Rede jeden einzelen Begriff, je-
den Gedanken, jeden Ausdruk gleichſam abgewogen
hat, kann man die hoͤchſie Leichtigkeit in dieſelbe
bringen. Das Leichte iſt allemal einfach, und das
Einfache iſt gemeiniglich das, worauf man zulezt
faͤllt. Man erkeunet es erſt, nachdem man alle
moͤglichen Arten dieſelbe Sache darzuſtellen, vor ſich
hat, und gegen einander vergleichet.

Die Leichtigkeit iſt uͤberall eine gute Eigenſchaft;
aber gewiſſen Werken iſt ſie weſentlicher noͤthig, als
andern. Sie iſt der Comoͤdie weſentlicher, als dem
Trauerſpiel, und im Lied weit nothwendiger, als in
der Ode. Ueberhaupt iſt ſie in Werken, die fuͤr ein
ernſtliches Nachdenken gemacht ſind, weniger wich-
tig, als in denen, die ſchnell ruͤhren, oder angenehm
unterhalten ſollen. Pindar hatte die Leichtigkeit des
Anakreons nicht noͤthig. Von unſern einheimiſchen
Schriftſtellern koͤnnen Wieland, beydes in gebunde-
ner und ungebundener Rede, und Jacobi in dem
Lied, als Meiſter des Leichten angeprieſen werden.

Leidenſchaften.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Leidenſchaften haben einen ſo großen Antheil
an den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte, und ſpielen da-
rin eine ſo betraͤchtliche Role, daß ſie in der Theorie

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[692[674]/0109] Lei Lei ſelbſt zu hoͤren, und die Wuͤrkung der Natur ſelbſt zu empfinden. Jm Ausdruk iſt Leichtigkeit, wenn in der Rede jeder Ausdruk genau beſtimmt iſt, und voͤllige Klar- heit hat; wenn zu dem Gedanken weder zu viel noch zu wenig Worte gebraucht werden; wenn die ein- zelen Begriffe, die den Gedanken ausmachen, in ei- ner Ordnung folgen, daß er ohne Muͤh und ohne Zweydeutigkeit gefaßt wird. Jn zeichnenden Kuͤn- ſten zeiget ſich die Leichtigkeit in fließenden und ſichern Umriſſen, die nichts unbeſtimmt laſſen; in dreiſten Penſelſtrichen, denen nicht weiter nachgeholfen wor- den. Man ſieht jede Kleinigkeit, wie man denkt, daß ſie hat ſeyn muͤſſen, und bildet ſich ein, dabey zu fuͤhlen, daß es dem Kuͤnſtler nicht ſchweer wor- den, es ſo zu machen. Jm Geſang und Tanz zei- get ſich die Leichtigkeit der Ausuͤbung darin, daß man auf das deutlichſte demerket, es mache dem Kuͤnſtler keine Muͤhe, jedes vollkommen ſo zu machen, wie es ſeyn ſoll. Wenn die Schmeling ſinget, ſo hoͤret man jeden Ton in der hoͤchſten Reinigkeit, und fuͤhlet, man ſehe ſie, oder ſehe ſie nicht, daß es ihr keine Muͤhe macht; man wird verſucht zu glauben, die Natur und nicht eine menſchliche Kehle habe dieſe Toͤne ſo vollkommen gebildet. Es laͤßt ſich begreifen, daß in jeder Kunſt nur die dazu gebohrne Genie die hoͤchſte Leichtigkeit erreichen. Wer wie la Fomaine von der Natur zum Fabeldich- ter gebildet worden, wird auch ſeine Leichtigkeit da- rin haben. Der Kuͤnſtler darf bey der Arbeit nur ſich ſelbſt beobachten, um zu wiſſen, ob ſein Werk Leichtigkeit haben wird. Fuͤhlt er, daß ihm die Ar- beit ſchweer wird, daß er Gedanken und Ausdruk mit einiger Aengſtlichkeit ſuchen muß; ſo kann er ſich verſichert halten, daß dem Werk die Leichtigkeit feh- len wird. Nur denn, wenn man ſich ſeiner Materie voͤllig Meiſter gemacht hat; wenn man alles, was da- zu gehoͤret, oder damit verbunden iſt, mit gaͤnzlicher Klarheit vor ſich liegen ſieht, kann man leicht waͤh- len und ordnen. Eben ſo gaͤnzlich muß man den Ausdruk in ſeiner Gewalt haben. Darum muß der Redner ſeine Sprache von Grundaus erlernt, der Zeichner die hoͤchſte Fertigkeit alle Formen dar- zuſtellen, der Tonkuͤnſtler eine voͤllige Kenntnis der Harmonie beſizen, ehe die Leichtigkeit des Ausdruks bey ſeiner Arbeit erfolgen kann. Man hat darum Urſache zu ſagen, daß das, was am leichteſten ſcheinet, das ſchweerſte ſey. Nicht, als ob dem Kuͤnſtler die Arbeit ſauer geworden, ſon- dern, weil es uͤberhaupt ſchweer iſt, wo nicht die Natur ſelbſt faſt alles gethan hat, jene voͤllige Herr- ſchaft uͤber ſeine Gedanken und uͤber den Ausdruk zu erreichen. Nur der, der ſeine Zeit blos mit Nach- denken uͤber die Gegenflaͤnde ſeiner Kunſt zubringt, und dabey das gehoͤrige Genie dazu hat, gelanget auf dieſe Stufe. Selten aber wird man ohne ſorgfaͤltiges Ausar- beiten einem Werke die hoͤchſte Leichtigkeit geben koͤn- nen. Wenn man auch in der lebhafteſten Begei- ſterung arbeitet, wo alles leicht wird; ſo findet man hernach doch, daß noch manches fremdes, oder nicht voͤllig richtiges mit untergelaufen; weil man in dem Feuer der Arbeit bey der Menge der ſich zudringen- den Vorſtellungen nicht gewaͤhlt hat. Darum duͤr- fen auch die gluͤklichſten Genie die Ausarbeitung nicht verſaͤumen. Ofte giebt erſt die lezte Bearbei- tung, da hier und da nur einzele Ausdruͤke geaͤn- dert, oder eingeſchaltet, einzele ganz feine Penſel- ſtriche, durch ein feines Gefuͤhl an die Hand gege- ben, dem Werke die wahre Vollkommenheit. Erſt nachdem man in der Rede jeden einzelen Begriff, je- den Gedanken, jeden Ausdruk gleichſam abgewogen hat, kann man die hoͤchſie Leichtigkeit in dieſelbe bringen. Das Leichte iſt allemal einfach, und das Einfache iſt gemeiniglich das, worauf man zulezt faͤllt. Man erkeunet es erſt, nachdem man alle moͤglichen Arten dieſelbe Sache darzuſtellen, vor ſich hat, und gegen einander vergleichet. Die Leichtigkeit iſt uͤberall eine gute Eigenſchaft; aber gewiſſen Werken iſt ſie weſentlicher noͤthig, als andern. Sie iſt der Comoͤdie weſentlicher, als dem Trauerſpiel, und im Lied weit nothwendiger, als in der Ode. Ueberhaupt iſt ſie in Werken, die fuͤr ein ernſtliches Nachdenken gemacht ſind, weniger wich- tig, als in denen, die ſchnell ruͤhren, oder angenehm unterhalten ſollen. Pindar hatte die Leichtigkeit des Anakreons nicht noͤthig. Von unſern einheimiſchen Schriftſtellern koͤnnen Wieland, beydes in gebunde- ner und ungebundener Rede, und Jacobi in dem Lied, als Meiſter des Leichten angeprieſen werden. Leidenſchaften. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Leidenſchaften haben einen ſo großen Antheil an den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte, und ſpielen da- rin eine ſo betraͤchtliche Role, daß ſie in der Theorie der-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 692[674]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/109>, abgerufen am 29.04.2024.