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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lich
liche Lage des Lichtstrohms in Absicht auf die Scene,
oder den ganzen Raum des Gemähldes bestimmt
werden. Hat denn der Mahler einen richtigen Grund-
riß von seinem Gemählde, und ist die Höhe jedes
Gegenstandes darauf bestimmt, so kann er genau
sagen, welche Theile des Gemähldes in dem Licht-
strohm, und welche außer demselben liegen.

Hiernächst kommen sowol der Horizont des Ge-
mähldes, als der dafür angenommene Augenpunkt
in Betrachtung, weil alles was über dem Horizont
ist, sein Licht niedriger hat, als was unter ihm steht,
und das, was zur Rechten des Augenpunkts liegt,
keine Lichter haben kann, als auf seiner linken Seite.

Wir berühren diese Sachen hier nur obenhin,
weil ihre Ausführung, wie gesagt, in die Abhand-
lung der Perspektiv gehört. Wenn in einem histo-
rischen Gemählde alles nach dem Leben könnte ge-
mahlt werden, so hätte der Künstler diese Theorie
zur sichern Anbringung der Lichter nicht nöthig.
Die bloße Beobachtung würde ihm dieselben zeigen.
Aber der Historienmahler sezet seine meisten Figuren,
entweder aus der Phantasie hin, oder nihmt sie
aus gesammelten sogenannten Studien: da kann er
blos der Zeichnung halber sicher seyn; aber Licht
und Schatten muß er aus genauen perspektivischen
Regeln bestimmen.

Ungemein viele Fehler, sowol gegen die Perspek-
tiv, als insbesondere gegen die wahre Sezung der
Lichter, entstehen daher, daß die Mahler ihre histori-
schen Stüke aus Studien zusammensezen, davon
jedes aus einem eigenen Gesichtspunkt, und in einem
eigenen Lichte gezeichnet und schattirt worden, und
dann glauben, sie können ohne genaue Bestimmung
der perspektivischen und optischen Regeln, diese Stu-
dien, durch ohgefehre Schäzung so verändern, daß
sie in die Perspektiv und Beleuchtung des Gemähl-
des passen.

Lichter.
(Redende Künste)

Cicero nennt (*) die einzeln Gedanken oder Stellen
der Rede, welche besonders hervorstechen, orationis
lumina,
Lichter der Rede, die das zu seyn scheinen,
was die griechischen Rhetoren khemata nennen.
Es sind also einzele Gedanken, die durch irgend eine
Art der Kraft uns stärker rühren, als das übrige
der Stelle, welcher sie einverleibet werden: sie tre-
ten aus dem Ton des übrigen heraus, verursachen
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Lich
plözlich einen stärkern Eindruk, und unterbrechen
die Einförmigkeit der Würkung der Rede; wie wenn
in einem sanften und gelassenen Ton der Rede auf
einmal etwas heftiges, oder in einem heftigen
Ton etwas sehr sanftes und zärtliches vorkommt;
oder wenn unter Vorstellungen, die blos den Ver-
stand erleuchten sollen, auf einmal das Herz in Em-
pfindung gesezt wird. Ueberhaupt also können alle
Stellen in der Rede, wodurch die Aufmerksamkeit
auf Vorstellungen oder Empfindungen einen ausser-
ordentlichen Reiz bekommt, hieher gerechnet werden;
sehr kräftige Denksprüche, Machtsprüche, Bilder,
Metaphern und Figuren von großem hervorstechen-
dem Nachdruk.

Dergleichen Lichter sind in jeder gebundenen oder
ungebundenen Rede um so viel nothwendiger; weil
die Einförmigkeit der Würkung, ob diese gleich an
sich noch so stark ist, doch allmählig in eine der Auf-
merksamkeit schädliche Zerstreuung sezt. Selbst das
Brausen eines starken Wasserfalles, das uns anfäng-
lich beynahe betäubet, wird wegen seiner Einförmig-
keit in die Länge fast unmerkbar. Darum muß in
den Werken der schönen Künste, die wir nach und
nach vernehmen, von Zeit zu Zeit etwas vorkom-
men, wodurch die Aufmerksamkeit aufs neue gereizt
wird. Man sindet beym Quintilian in den zwey
ersten Abschnitten des IX Buches fast alles beysam-
men, was hierüber kann gesagt werden.

Jn der Musik ist dieses eben so nöthig, als in der
Rede. Da kann eine plözliche etwas ungewöhnli-
che Ausweichung, oder Versezung, oder irgend eine
andre unvermuthete Wendung des Gesanges, oder
der Harmonie, dasselbe bewürken.

Licht und Schatten.
(Zeichnende Künste.)

So oft ein eingeschränktes Licht auf dunkele Kör-
per fällt, entstehen auch Schatten: so daß Licht
und Schatten in einer unzertrennlichen Verbindung
stehen; besonders weil allemal die Stärke in beyden
nach einerley Graden ab und zunihmt. Darum wird
in der Mahlerey der Ausdruk, Licht und Schatten,
wie ein einziges Wort angesehen, wodurch man die
unzertreunliche Verbindung dieser beyden Erschei-
uungen anzeiget. Durch eine genaue aus der Form
der erleuchteten körperlichen Gegenstände entsprin-
gende Vermischung des Lichts und Schattens an
herausstehenden und vertieften Stellen wird vieles

von
(*) S.
Brut. c. 79.
Orat. c.
25.
Ss ss 2

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Lich
liche Lage des Lichtſtrohms in Abſicht auf die Scene,
oder den ganzen Raum des Gemaͤhldes beſtimmt
werden. Hat denn der Mahler einen richtigen Grund-
riß von ſeinem Gemaͤhlde, und iſt die Hoͤhe jedes
Gegenſtandes darauf beſtimmt, ſo kann er genau
ſagen, welche Theile des Gemaͤhldes in dem Licht-
ſtrohm, und welche außer demſelben liegen.

Hiernaͤchſt kommen ſowol der Horizont des Ge-
maͤhldes, als der dafuͤr angenommene Augenpunkt
in Betrachtung, weil alles was uͤber dem Horizont
iſt, ſein Licht niedriger hat, als was unter ihm ſteht,
und das, was zur Rechten des Augenpunkts liegt,
keine Lichter haben kann, als auf ſeiner linken Seite.

Wir beruͤhren dieſe Sachen hier nur obenhin,
weil ihre Ausfuͤhrung, wie geſagt, in die Abhand-
lung der Perſpektiv gehoͤrt. Wenn in einem hiſto-
riſchen Gemaͤhlde alles nach dem Leben koͤnnte ge-
mahlt werden, ſo haͤtte der Kuͤnſtler dieſe Theorie
zur ſichern Anbringung der Lichter nicht noͤthig.
Die bloße Beobachtung wuͤrde ihm dieſelben zeigen.
Aber der Hiſtorienmahler ſezet ſeine meiſten Figuren,
entweder aus der Phantaſie hin, oder nihmt ſie
aus geſammelten ſogenannten Studien: da kann er
blos der Zeichnung halber ſicher ſeyn; aber Licht
und Schatten muß er aus genauen perſpektiviſchen
Regeln beſtimmen.

Ungemein viele Fehler, ſowol gegen die Perſpek-
tiv, als insbeſondere gegen die wahre Sezung der
Lichter, entſtehen daher, daß die Mahler ihre hiſtori-
ſchen Stuͤke aus Studien zuſammenſezen, davon
jedes aus einem eigenen Geſichtspunkt, und in einem
eigenen Lichte gezeichnet und ſchattirt worden, und
dann glauben, ſie koͤnnen ohne genaue Beſtimmung
der perſpektiviſchen und optiſchen Regeln, dieſe Stu-
dien, durch ohgefehre Schaͤzung ſo veraͤndern, daß
ſie in die Perſpektiv und Beleuchtung des Gemaͤhl-
des paſſen.

Lichter.
(Redende Kuͤnſte)

Cicero nennt (*) die einzeln Gedanken oder Stellen
der Rede, welche beſonders hervorſtechen, orationis
lumina,
Lichter der Rede, die das zu ſeyn ſcheinen,
was die griechiſchen Rhetoren χηματα nennen.
Es ſind alſo einzele Gedanken, die durch irgend eine
Art der Kraft uns ſtaͤrker ruͤhren, als das uͤbrige
der Stelle, welcher ſie einverleibet werden: ſie tre-
ten aus dem Ton des uͤbrigen heraus, verurſachen
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Lich
ploͤzlich einen ſtaͤrkern Eindruk, und unterbrechen
die Einfoͤrmigkeit der Wuͤrkung der Rede; wie wenn
in einem ſanften und gelaſſenen Ton der Rede auf
einmal etwas heftiges, oder in einem heftigen
Ton etwas ſehr ſanftes und zaͤrtliches vorkommt;
oder wenn unter Vorſtellungen, die blos den Ver-
ſtand erleuchten ſollen, auf einmal das Herz in Em-
pfindung geſezt wird. Ueberhaupt alſo koͤnnen alle
Stellen in der Rede, wodurch die Aufmerkſamkeit
auf Vorſtellungen oder Empfindungen einen auſſer-
ordentlichen Reiz bekommt, hieher gerechnet werden;
ſehr kraͤftige Denkſpruͤche, Machtſpruͤche, Bilder,
Metaphern und Figuren von großem hervorſtechen-
dem Nachdruk.

Dergleichen Lichter ſind in jeder gebundenen oder
ungebundenen Rede um ſo viel nothwendiger; weil
die Einfoͤrmigkeit der Wuͤrkung, ob dieſe gleich an
ſich noch ſo ſtark iſt, doch allmaͤhlig in eine der Auf-
merkſamkeit ſchaͤdliche Zerſtreuung ſezt. Selbſt das
Brauſen eines ſtarken Waſſerfalles, das uns anfaͤng-
lich beynahe betaͤubet, wird wegen ſeiner Einfoͤrmig-
keit in die Laͤnge faſt unmerkbar. Darum muß in
den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte, die wir nach und
nach vernehmen, von Zeit zu Zeit etwas vorkom-
men, wodurch die Aufmerkſamkeit aufs neue gereizt
wird. Man ſindet beym Quintilian in den zwey
erſten Abſchnitten des IX Buches faſt alles beyſam-
men, was hieruͤber kann geſagt werden.

Jn der Muſik iſt dieſes eben ſo noͤthig, als in der
Rede. Da kann eine ploͤzliche etwas ungewoͤhnli-
che Ausweichung, oder Verſezung, oder irgend eine
andre unvermuthete Wendung des Geſanges, oder
der Harmonie, daſſelbe bewuͤrken.

Licht und Schatten.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

So oft ein eingeſchraͤnktes Licht auf dunkele Koͤr-
per faͤllt, entſtehen auch Schatten: ſo daß Licht
und Schatten in einer unzertrennlichen Verbindung
ſtehen; beſonders weil allemal die Staͤrke in beyden
nach einerley Graden ab und zunihmt. Darum wird
in der Mahlerey der Ausdruk, Licht und Schatten,
wie ein einziges Wort angeſehen, wodurch man die
unzertreunliche Verbindung dieſer beyden Erſchei-
uungen anzeiget. Durch eine genaue aus der Form
der erleuchteten koͤrperlichen Gegenſtaͤnde entſprin-
gende Vermiſchung des Lichts und Schattens an
herausſtehenden und vertieften Stellen wird vieles

von
(*) S.
Brut. c. 79.
Orat. c.
25.
Ss ss 2
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[709[691]/0126] Lich Lich liche Lage des Lichtſtrohms in Abſicht auf die Scene, oder den ganzen Raum des Gemaͤhldes beſtimmt werden. Hat denn der Mahler einen richtigen Grund- riß von ſeinem Gemaͤhlde, und iſt die Hoͤhe jedes Gegenſtandes darauf beſtimmt, ſo kann er genau ſagen, welche Theile des Gemaͤhldes in dem Licht- ſtrohm, und welche außer demſelben liegen. Hiernaͤchſt kommen ſowol der Horizont des Ge- maͤhldes, als der dafuͤr angenommene Augenpunkt in Betrachtung, weil alles was uͤber dem Horizont iſt, ſein Licht niedriger hat, als was unter ihm ſteht, und das, was zur Rechten des Augenpunkts liegt, keine Lichter haben kann, als auf ſeiner linken Seite. Wir beruͤhren dieſe Sachen hier nur obenhin, weil ihre Ausfuͤhrung, wie geſagt, in die Abhand- lung der Perſpektiv gehoͤrt. Wenn in einem hiſto- riſchen Gemaͤhlde alles nach dem Leben koͤnnte ge- mahlt werden, ſo haͤtte der Kuͤnſtler dieſe Theorie zur ſichern Anbringung der Lichter nicht noͤthig. Die bloße Beobachtung wuͤrde ihm dieſelben zeigen. Aber der Hiſtorienmahler ſezet ſeine meiſten Figuren, entweder aus der Phantaſie hin, oder nihmt ſie aus geſammelten ſogenannten Studien: da kann er blos der Zeichnung halber ſicher ſeyn; aber Licht und Schatten muß er aus genauen perſpektiviſchen Regeln beſtimmen. Ungemein viele Fehler, ſowol gegen die Perſpek- tiv, als insbeſondere gegen die wahre Sezung der Lichter, entſtehen daher, daß die Mahler ihre hiſtori- ſchen Stuͤke aus Studien zuſammenſezen, davon jedes aus einem eigenen Geſichtspunkt, und in einem eigenen Lichte gezeichnet und ſchattirt worden, und dann glauben, ſie koͤnnen ohne genaue Beſtimmung der perſpektiviſchen und optiſchen Regeln, dieſe Stu- dien, durch ohgefehre Schaͤzung ſo veraͤndern, daß ſie in die Perſpektiv und Beleuchtung des Gemaͤhl- des paſſen. Lichter. (Redende Kuͤnſte) Cicero nennt (*) die einzeln Gedanken oder Stellen der Rede, welche beſonders hervorſtechen, orationis lumina, Lichter der Rede, die das zu ſeyn ſcheinen, was die griechiſchen Rhetoren χηματα nennen. Es ſind alſo einzele Gedanken, die durch irgend eine Art der Kraft uns ſtaͤrker ruͤhren, als das uͤbrige der Stelle, welcher ſie einverleibet werden: ſie tre- ten aus dem Ton des uͤbrigen heraus, verurſachen ploͤzlich einen ſtaͤrkern Eindruk, und unterbrechen die Einfoͤrmigkeit der Wuͤrkung der Rede; wie wenn in einem ſanften und gelaſſenen Ton der Rede auf einmal etwas heftiges, oder in einem heftigen Ton etwas ſehr ſanftes und zaͤrtliches vorkommt; oder wenn unter Vorſtellungen, die blos den Ver- ſtand erleuchten ſollen, auf einmal das Herz in Em- pfindung geſezt wird. Ueberhaupt alſo koͤnnen alle Stellen in der Rede, wodurch die Aufmerkſamkeit auf Vorſtellungen oder Empfindungen einen auſſer- ordentlichen Reiz bekommt, hieher gerechnet werden; ſehr kraͤftige Denkſpruͤche, Machtſpruͤche, Bilder, Metaphern und Figuren von großem hervorſtechen- dem Nachdruk. Dergleichen Lichter ſind in jeder gebundenen oder ungebundenen Rede um ſo viel nothwendiger; weil die Einfoͤrmigkeit der Wuͤrkung, ob dieſe gleich an ſich noch ſo ſtark iſt, doch allmaͤhlig in eine der Auf- merkſamkeit ſchaͤdliche Zerſtreuung ſezt. Selbſt das Brauſen eines ſtarken Waſſerfalles, das uns anfaͤng- lich beynahe betaͤubet, wird wegen ſeiner Einfoͤrmig- keit in die Laͤnge faſt unmerkbar. Darum muß in den Werken der ſchoͤnen Kuͤnſte, die wir nach und nach vernehmen, von Zeit zu Zeit etwas vorkom- men, wodurch die Aufmerkſamkeit aufs neue gereizt wird. Man ſindet beym Quintilian in den zwey erſten Abſchnitten des IX Buches faſt alles beyſam- men, was hieruͤber kann geſagt werden. Jn der Muſik iſt dieſes eben ſo noͤthig, als in der Rede. Da kann eine ploͤzliche etwas ungewoͤhnli- che Ausweichung, oder Verſezung, oder irgend eine andre unvermuthete Wendung des Geſanges, oder der Harmonie, daſſelbe bewuͤrken. Licht und Schatten. (Zeichnende Kuͤnſte.) So oft ein eingeſchraͤnktes Licht auf dunkele Koͤr- per faͤllt, entſtehen auch Schatten: ſo daß Licht und Schatten in einer unzertrennlichen Verbindung ſtehen; beſonders weil allemal die Staͤrke in beyden nach einerley Graden ab und zunihmt. Darum wird in der Mahlerey der Ausdruk, Licht und Schatten, wie ein einziges Wort angeſehen, wodurch man die unzertreunliche Verbindung dieſer beyden Erſchei- uungen anzeiget. Durch eine genaue aus der Form der erleuchteten koͤrperlichen Gegenſtaͤnde entſprin- gende Vermiſchung des Lichts und Schattens an herausſtehenden und vertieften Stellen wird vieles von (*) S. Brut. c. 79. Orat. c. 25. Ss ss 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 709[691]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/126>, abgerufen am 29.04.2024.