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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Mah
das Ohr mahlen. Jenes thun die Dichter; dieses
die Tonsezer. Der Dichter kann sichtbare Gegen-
stände so schildern, daß wir sie, wie ein Gemählde
vor uns zu haben glauben. Aber von dieser Mah-
lerey ist bereits anderswo besonders gesprochen wor-
den. (*) Die Mahlereyen der Musik, in welche
sich einige Tonsezer sehr unzeitig verliebt zu haben
scheinen, fodern hier noch ein paar Anmerkungen,
ob wir gleich die Sache auch schon in einem beson-
dern Artikel berührt haben. (*) Der eigentlich für
die Musik dienliche Stoff ist leidenschaftliche Empfin-
dung. (*) Doch geht es auch wol an, daß sie bloße
Charakter schildert, in so fern diese sich in Ton
und Bewegung zeigen, daher viele Tanzmelodien
im Grunde nichts anders, als solche Schilderungen
der Charaktere enthalten. Ganz einzele Charaktere
von besondern Menschen haben einige französische
Tonsezer, besonders Couperin, geschildert, und nach
ihm hat Hr. C. P. E. Bach kleine Clavierstüke her-
ausgegeben, durch die er verschiedene Charaktere
seiner Freunde und Bekannten ziemlich glüklich aus-
gedrukt hat. Es geht auch an Mahlereyen aus der
leblosen Natur in Musik zu bringen: nicht nur sol-
che die in der Natur selbst sich dem Gehör einprä-
gen, wie der Donner oder der Sturm, sondern
auch die, welche das Gemüthe durch bestimmte Em-
pfindungen rühren, wie die Lieblichkeit einer stillen
ländlichen Scene, wenn nur die Musik die Poesie
zur Begleiterin hat, die uns das Gemähld, dessen
Würkung wir durch das Gehör empfinden, zugleich
der Einbildungskraft vorstellt.

Aber Mahlereyen, die der Dichter beyläufig nicht um
Empfindung zu erregen, sondern als Vergleichungen,
um den Gedanken mehr Licht zu geben, angebracht hat,
wie gar ofte in den sogenannten Arien geschieht, auch
durch Musik auszudruken; selbst da, wo der Ein-
druk derselben, dem wahren, durch das ganze Stük
herrschenden Ausdruk schadet, ist eine Sache, die
sich kein verständiger Tonsezer sollte einfallen lassen.
Der Dichter erinnert sich ofte in der angenehmesten
Gemüthslage eines Sturms, der ihn ehedem beun-
ruhiget hat, und thut seiner Erwähnung: aber
unsinnig ist es, wenn der Tonsezer bey dieser Er-
wähnung mit seinen Tönen stürmet.

Eben so unbesonnen ist es, wenn auch bey an-
dern Gelegenheiten der Tonsezer uns körperliche Ge-
genstände mahlt, die mit den Empfindungen gar
keine Gemeinschaft haben; so wie man bisweilen
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Man
sieht, daß mitten in einem empfindungsvollen Stük,
blos um die Kunst und des Sängers Fertigkeit zu
zeigen, das Gurgeln der Nachtigall, oder das Ge-
heul einer Nachteule geschildert, und dadurch die
Empfindung völlig zernichtet wird.

Der Tonsezer muß sich schlechterdings dergleichen
Kindereyen enthalten, es sey denn, da wo er wirk-
lich poßirlich seyn muß; er muß bedenken, daß die
Musik weder für den Verstand, noch für die Einbil-
dungskraft, sondern blos für das Herz arbeitet.

Manier.
(Zeichnende Künste.)

Das jedem Mahler eigene Verfahren bey Bearbei-
tung seines Werks kann überhaupt mit dem Namen
seiner Manier belegt werden. Wie jeder Mensch
im Schreiben seine ihm eigene Art hat, die Züge der
Buchstaben zu bilden, und an einander zu hängen,
wodurch seine Handschrift von andern unterschieden
wird, so hat auch jeder zeichnende Künstler, seine
Manier im Zeichnen und in andern zur Bearbei-
tung gehörigen Dingen, wodurch geübte Kenner,
das was von seiner Hand ist, mit eben der Gewiß-
heit erkennen, als man die Handschriften kennet.

Man hat aber dem Worte noch eine besondere
Bedeutung gegeben, und braucht es um ein Verfah-
ren in der Bearbeitung auszudrüken, das etwas un-
natürliches und dem reinen Geschmak der Natur
entgegenstehendes an sich hat. Wenn man von ei-
nem Gemählde sagt; es sey Manier darin, so will
man damit sagen, es habe etwas gegen die Vollkom-
menheit der Nachahmung streitendes. Eigentlich
sollte man bey jedem vollkommenen Werke der Kunst
nichts, als die Natur, nämlich die vorgestellten Ge-
genstände sehen, ohne dabey den Künstler, oder
sein Verfahren gewahr zu werden. (*) Bey Ge-
mählden, die Maniert sind, wird man sogleich eine
besondere Behandlung, einen besondern Geschmak
des Künstlers gewahr, die von der Betrachtung des
Gegenstandes abführen, und die Aufmerksamkeit blos
auf die Kunst lenken. Darum ist die Manier schon
in so fern etwas unvollkommenes: sie wird es aber
noch viel mehr, wenn der Künstler eine gewisse Be-
handlung, die er sich angewöhnt hat, auch bey sol-
chen Arbeiten anbringet, wo sie sich nicht schiket.
So hat Claude Melan Köpfe und Statuen nach
der Manier in Kupfer gestochen, daß ein ganzes
Werk aus einem einzigen von einem Punkt aus als

eine
(*) S.
Gemähld.
S. 452.
(*) S.
Gemähld.
S. 455.
(*) S.
Musik.
Gesang
(*) S.
Kunst.
Zweyter Theil. Yy yy

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Mah
das Ohr mahlen. Jenes thun die Dichter; dieſes
die Tonſezer. Der Dichter kann ſichtbare Gegen-
ſtaͤnde ſo ſchildern, daß wir ſie, wie ein Gemaͤhlde
vor uns zu haben glauben. Aber von dieſer Mah-
lerey iſt bereits anderswo beſonders geſprochen wor-
den. (*) Die Mahlereyen der Muſik, in welche
ſich einige Tonſezer ſehr unzeitig verliebt zu haben
ſcheinen, fodern hier noch ein paar Anmerkungen,
ob wir gleich die Sache auch ſchon in einem beſon-
dern Artikel beruͤhrt haben. (*) Der eigentlich fuͤr
die Muſik dienliche Stoff iſt leidenſchaftliche Empfin-
dung. (*) Doch geht es auch wol an, daß ſie bloße
Charakter ſchildert, in ſo fern dieſe ſich in Ton
und Bewegung zeigen, daher viele Tanzmelodien
im Grunde nichts anders, als ſolche Schilderungen
der Charaktere enthalten. Ganz einzele Charaktere
von beſondern Menſchen haben einige franzoͤſiſche
Tonſezer, beſonders Couperin, geſchildert, und nach
ihm hat Hr. C. P. E. Bach kleine Clavierſtuͤke her-
ausgegeben, durch die er verſchiedene Charaktere
ſeiner Freunde und Bekannten ziemlich gluͤklich aus-
gedrukt hat. Es geht auch an Mahlereyen aus der
lebloſen Natur in Muſik zu bringen: nicht nur ſol-
che die in der Natur ſelbſt ſich dem Gehoͤr einpraͤ-
gen, wie der Donner oder der Sturm, ſondern
auch die, welche das Gemuͤthe durch beſtimmte Em-
pfindungen ruͤhren, wie die Lieblichkeit einer ſtillen
laͤndlichen Scene, wenn nur die Muſik die Poeſie
zur Begleiterin hat, die uns das Gemaͤhld, deſſen
Wuͤrkung wir durch das Gehoͤr empfinden, zugleich
der Einbildungskraft vorſtellt.

Aber Mahlereyen, die der Dichter beylaͤufig nicht um
Empfindung zu erregen, ſondern als Vergleichungen,
um den Gedanken mehr Licht zu geben, angebracht hat,
wie gar ofte in den ſogenannten Arien geſchieht, auch
durch Muſik auszudruken; ſelbſt da, wo der Ein-
druk derſelben, dem wahren, durch das ganze Stuͤk
herrſchenden Ausdruk ſchadet, iſt eine Sache, die
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Der Dichter erinnert ſich ofte in der angenehmeſten
Gemuͤthslage eines Sturms, der ihn ehedem beun-
ruhiget hat, und thut ſeiner Erwaͤhnung: aber
unſinnig iſt es, wenn der Tonſezer bey dieſer Er-
waͤhnung mit ſeinen Toͤnen ſtuͤrmet.

Eben ſo unbeſonnen iſt es, wenn auch bey an-
dern Gelegenheiten der Tonſezer uns koͤrperliche Ge-
genſtaͤnde mahlt, die mit den Empfindungen gar
keine Gemeinſchaft haben; ſo wie man bisweilen
[Spaltenumbruch]

Man
ſieht, daß mitten in einem empfindungsvollen Stuͤk,
blos um die Kunſt und des Saͤngers Fertigkeit zu
zeigen, das Gurgeln der Nachtigall, oder das Ge-
heul einer Nachteule geſchildert, und dadurch die
Empfindung voͤllig zernichtet wird.

Der Tonſezer muß ſich ſchlechterdings dergleichen
Kindereyen enthalten, es ſey denn, da wo er wirk-
lich poßirlich ſeyn muß; er muß bedenken, daß die
Muſik weder fuͤr den Verſtand, noch fuͤr die Einbil-
dungskraft, ſondern blos fuͤr das Herz arbeitet.

Manier.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

Das jedem Mahler eigene Verfahren bey Bearbei-
tung ſeines Werks kann uͤberhaupt mit dem Namen
ſeiner Manier belegt werden. Wie jeder Menſch
im Schreiben ſeine ihm eigene Art hat, die Zuͤge der
Buchſtaben zu bilden, und an einander zu haͤngen,
wodurch ſeine Handſchrift von andern unterſchieden
wird, ſo hat auch jeder zeichnende Kuͤnſtler, ſeine
Manier im Zeichnen und in andern zur Bearbei-
tung gehoͤrigen Dingen, wodurch geuͤbte Kenner,
das was von ſeiner Hand iſt, mit eben der Gewiß-
heit erkennen, als man die Handſchriften kennet.

Man hat aber dem Worte noch eine beſondere
Bedeutung gegeben, und braucht es um ein Verfah-
ren in der Bearbeitung auszudruͤken, das etwas un-
natuͤrliches und dem reinen Geſchmak der Natur
entgegenſtehendes an ſich hat. Wenn man von ei-
nem Gemaͤhlde ſagt; es ſey Manier darin, ſo will
man damit ſagen, es habe etwas gegen die Vollkom-
menheit der Nachahmung ſtreitendes. Eigentlich
ſollte man bey jedem vollkommenen Werke der Kunſt
nichts, als die Natur, naͤmlich die vorgeſtellten Ge-
genſtaͤnde ſehen, ohne dabey den Kuͤnſtler, oder
ſein Verfahren gewahr zu werden. (*) Bey Ge-
maͤhlden, die Maniert ſind, wird man ſogleich eine
beſondere Behandlung, einen beſondern Geſchmak
des Kuͤnſtlers gewahr, die von der Betrachtung des
Gegenſtandes abfuͤhren, und die Aufmerkſamkeit blos
auf die Kunſt lenken. Darum iſt die Manier ſchon
in ſo fern etwas unvollkommenes: ſie wird es aber
noch viel mehr, wenn der Kuͤnſtler eine gewiſſe Be-
handlung, die er ſich angewoͤhnt hat, auch bey ſol-
chen Arbeiten anbringet, wo ſie ſich nicht ſchiket.
So hat Claude Melan Koͤpfe und Statuen nach
der Manier in Kupfer geſtochen, daß ein ganzes
Werk aus einem einzigen von einem Punkt aus als

eine
(*) S.
Gemaͤhld.
S. 452.
(*) S.
Gemaͤhld.
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(*) S.
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[739[721]/0156] Mah Man das Ohr mahlen. Jenes thun die Dichter; dieſes die Tonſezer. Der Dichter kann ſichtbare Gegen- ſtaͤnde ſo ſchildern, daß wir ſie, wie ein Gemaͤhlde vor uns zu haben glauben. Aber von dieſer Mah- lerey iſt bereits anderswo beſonders geſprochen wor- den. (*) Die Mahlereyen der Muſik, in welche ſich einige Tonſezer ſehr unzeitig verliebt zu haben ſcheinen, fodern hier noch ein paar Anmerkungen, ob wir gleich die Sache auch ſchon in einem beſon- dern Artikel beruͤhrt haben. (*) Der eigentlich fuͤr die Muſik dienliche Stoff iſt leidenſchaftliche Empfin- dung. (*) Doch geht es auch wol an, daß ſie bloße Charakter ſchildert, in ſo fern dieſe ſich in Ton und Bewegung zeigen, daher viele Tanzmelodien im Grunde nichts anders, als ſolche Schilderungen der Charaktere enthalten. Ganz einzele Charaktere von beſondern Menſchen haben einige franzoͤſiſche Tonſezer, beſonders Couperin, geſchildert, und nach ihm hat Hr. C. P. E. Bach kleine Clavierſtuͤke her- ausgegeben, durch die er verſchiedene Charaktere ſeiner Freunde und Bekannten ziemlich gluͤklich aus- gedrukt hat. Es geht auch an Mahlereyen aus der lebloſen Natur in Muſik zu bringen: nicht nur ſol- che die in der Natur ſelbſt ſich dem Gehoͤr einpraͤ- gen, wie der Donner oder der Sturm, ſondern auch die, welche das Gemuͤthe durch beſtimmte Em- pfindungen ruͤhren, wie die Lieblichkeit einer ſtillen laͤndlichen Scene, wenn nur die Muſik die Poeſie zur Begleiterin hat, die uns das Gemaͤhld, deſſen Wuͤrkung wir durch das Gehoͤr empfinden, zugleich der Einbildungskraft vorſtellt. Aber Mahlereyen, die der Dichter beylaͤufig nicht um Empfindung zu erregen, ſondern als Vergleichungen, um den Gedanken mehr Licht zu geben, angebracht hat, wie gar ofte in den ſogenannten Arien geſchieht, auch durch Muſik auszudruken; ſelbſt da, wo der Ein- druk derſelben, dem wahren, durch das ganze Stuͤk herrſchenden Ausdruk ſchadet, iſt eine Sache, die ſich kein verſtaͤndiger Tonſezer ſollte einfallen laſſen. Der Dichter erinnert ſich ofte in der angenehmeſten Gemuͤthslage eines Sturms, der ihn ehedem beun- ruhiget hat, und thut ſeiner Erwaͤhnung: aber unſinnig iſt es, wenn der Tonſezer bey dieſer Er- waͤhnung mit ſeinen Toͤnen ſtuͤrmet. Eben ſo unbeſonnen iſt es, wenn auch bey an- dern Gelegenheiten der Tonſezer uns koͤrperliche Ge- genſtaͤnde mahlt, die mit den Empfindungen gar keine Gemeinſchaft haben; ſo wie man bisweilen ſieht, daß mitten in einem empfindungsvollen Stuͤk, blos um die Kunſt und des Saͤngers Fertigkeit zu zeigen, das Gurgeln der Nachtigall, oder das Ge- heul einer Nachteule geſchildert, und dadurch die Empfindung voͤllig zernichtet wird. Der Tonſezer muß ſich ſchlechterdings dergleichen Kindereyen enthalten, es ſey denn, da wo er wirk- lich poßirlich ſeyn muß; er muß bedenken, daß die Muſik weder fuͤr den Verſtand, noch fuͤr die Einbil- dungskraft, ſondern blos fuͤr das Herz arbeitet. Manier. (Zeichnende Kuͤnſte.) Das jedem Mahler eigene Verfahren bey Bearbei- tung ſeines Werks kann uͤberhaupt mit dem Namen ſeiner Manier belegt werden. Wie jeder Menſch im Schreiben ſeine ihm eigene Art hat, die Zuͤge der Buchſtaben zu bilden, und an einander zu haͤngen, wodurch ſeine Handſchrift von andern unterſchieden wird, ſo hat auch jeder zeichnende Kuͤnſtler, ſeine Manier im Zeichnen und in andern zur Bearbei- tung gehoͤrigen Dingen, wodurch geuͤbte Kenner, das was von ſeiner Hand iſt, mit eben der Gewiß- heit erkennen, als man die Handſchriften kennet. Man hat aber dem Worte noch eine beſondere Bedeutung gegeben, und braucht es um ein Verfah- ren in der Bearbeitung auszudruͤken, das etwas un- natuͤrliches und dem reinen Geſchmak der Natur entgegenſtehendes an ſich hat. Wenn man von ei- nem Gemaͤhlde ſagt; es ſey Manier darin, ſo will man damit ſagen, es habe etwas gegen die Vollkom- menheit der Nachahmung ſtreitendes. Eigentlich ſollte man bey jedem vollkommenen Werke der Kunſt nichts, als die Natur, naͤmlich die vorgeſtellten Ge- genſtaͤnde ſehen, ohne dabey den Kuͤnſtler, oder ſein Verfahren gewahr zu werden. (*) Bey Ge- maͤhlden, die Maniert ſind, wird man ſogleich eine beſondere Behandlung, einen beſondern Geſchmak des Kuͤnſtlers gewahr, die von der Betrachtung des Gegenſtandes abfuͤhren, und die Aufmerkſamkeit blos auf die Kunſt lenken. Darum iſt die Manier ſchon in ſo fern etwas unvollkommenes: ſie wird es aber noch viel mehr, wenn der Kuͤnſtler eine gewiſſe Be- handlung, die er ſich angewoͤhnt hat, auch bey ſol- chen Arbeiten anbringet, wo ſie ſich nicht ſchiket. So hat Claude Melan Koͤpfe und Statuen nach der Manier in Kupfer geſtochen, daß ein ganzes Werk aus einem einzigen von einem Punkt aus als eine (*) S. Gemaͤhld. S. 452. (*) S. Gemaͤhld. S. 455. (*) S. Muſik. Geſang (*) S. Kunſt. Zweyter Theil. Yy yy

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 739[721]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/156>, abgerufen am 29.04.2024.