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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Man
solchem mühesamen Bestreben aussucht, daß er dar-
über die Gedanken selbst aus der Acht lässet, oder
wenn wir einen Tonspieler hören, der die feinesten
Manieren überall mit solchem Fleis anbringet, daß
er den wahren Ausdruk darüber vergißt; so ent-
geht uns über allen diesen Kleinigkeiten die Aufmerk-
samkeit, die wir auf die Sachen wenden sollten.

Am schlimmesten ist es, wenn eine solche kleine
Manier in einem ganzen Zweyg der schönen Künste
unter einem Volke herrschend wird, wie es in der
Beredsamkeit unter den späthern Griechen geschehen
ist, da jeder auch unbedeutender Gedanken wizig
und mit einer feinen Wendung mußte gesagt wer-
den. Viele der neuern französischen Schriftsteller
haben diese kleine Manier angenommen, und mehr
als ein deutscher sucht ihnen hierin gleich zu werden.

Möchte sich jeder Künstler zur Maxime machen,
seinen Gegenstand blos nach dem innerlichen Werth
zu beurtheilen, und das, was ihn darin rühret, auf
eine Art darzustellen, die ihn versichert, daß er auch
auf andere dieselbe Würkung thun müsse.

Manieren.
(Musik.)

So nennet man die Verziehrungen, welche Sän-
ger und Spieler auf gewissen Tönen anbringen, um
dieselben von den andern blos schlechtweg angegebe-
nen Tönen zu unterscheiden; dergleichen die Triller,
die Vorschläge, die Schleifer und andere Auszieh-
rungen mehr sind. Sie geben den Tönen, worauf
sie angebracht werden, mehr Nachdruk, oder mehr
Annehmlichkeit, zeichnen sie vor den andern aus
und bringen überhaupt Mannigfaltigkeit und gewis-
ser maaßen Licht und Schatten in den Gesang.
Sie sind nicht als etwas blos künstliches anzusehen:
denn die Empfindung selbst giebt sie oft an die Hand,
da selbst in der gemeinen Rede die Fülle der Em-
pfindung gar oft eine Abänderung des Tones und
eine Verweilung auf nachdrüklichen Sylben hervor-
bringet, die den Manieren in dem Gesang ähnlich
sind. Besonders haben zärtliche Empsindungen
dieses an sich, daß sie Accente von mancherley Art
auf die Töne legen, auf denen die Leidenschaft vor-
züglich stark ist. Dieses hat unstreitig die verschie-
denen Manieren im Gesang hervorgebracht.

Hieraus folget aber, daß der Sänger sie nicht
willkührlich und wo es ihm einfällt geschikt zu thun,
sondern nur da, wo die Empfindung es erfodert,
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Man
anbringen könne. Es ist nicht genug, daß man
alle Manieren auf das zierlichste und nachdrüklichste
zu machen wisse; die Hauptsache besteht in der ver-
ständigen Anbringung derselben; sie sollen nicht die-
nen das Ohr zu kizeln, oder die Geschiklichkeit des
Sängers und Spielers zu zeigen, sondern die Em-
pfindung zu heben. Unverständige Spieler bringen
sie überall an und erweken nur Ueberdruß dadurch;
ja es geschiehet bisweilen, daß man den natürlichen
Lauf des Gesanges vor den häufigen Manieren
nicht mehr bemerken kann. Es zeiget eine große
Verderbnis des Geschmaks an, daß man im Ge-
sang überall die Fertigkeit und Beugsamkeit der
Kehle der Sänger bewundern will. Dieses hat den
großen Mißbrauch der überhäuften Manieren ein-
geführt und viele Sänger desto nachläßiger gemacht
auf den wahren Nachdruk des Gesanges zu denken.

Einige Manieren sind so wesentlich, daß die Ton-
sezer sie auf den Stellen, wo sie angebracht werden
sollen, vorschreiben; andre werden der Willkühr der
Sänger überlassen. Die wesentlichsten Manieren
sind die Triller, die Vorschläge und einige damit ver-
wandte Verziehrungen, davon an ihren Orten be-
sonders gesprochen wird. (*) Ueber alle Manieren
und deren Gebrauch und Mißbrauch findet man
sehr gründlichen Unterricht in Agricolas Uebersezung
der Anleitung zur Singkunst des Tosi im zweyten
und dritten Hauptstück.

Mannigfaltigkeit.
(Schöne Künste.)

Die Abwechslung in den Vorstellungen und Em-
pfindungen scheinet ein natürliches Bedürfnis des zu
einiger Entwiklung der Vernunst gekommenen Men-
schen zu seyn. So angenehm auch gewisse Dinge
sind, so wird man durch deren anhaltenden, oder
gar zu ofte wiederholten Genuß erst gleichgültig da-
für; bald aber wird man ihrer überdrüßig. Nur
die öftere Abwechslung, das ist die Mannigfaltig-
keit der Gegenstände, die den Geist, oder das Ge-
müth beschäftigen, unterhält die Lust, die man dar-
an hat. Der Grund dieses natürlichen Hanges ist
leicht zu entdeken: er liegt in der innern Thätigkeit
des Geistes; aber er zeiget sich erst nachdem der
Mensch zu einigem Nachdenken über sich selbst ge-
kommen ist und das Vergnügen würksam zu seyn,
ofte genossen hat. Halb wilde Völker, wie diejeni-

gen
(*) S.
Triller.
Vorschlag.
Yy yy 2

[Spaltenumbruch]

Man
ſolchem muͤheſamen Beſtreben ausſucht, daß er dar-
uͤber die Gedanken ſelbſt aus der Acht laͤſſet, oder
wenn wir einen Tonſpieler hoͤren, der die feineſten
Manieren uͤberall mit ſolchem Fleis anbringet, daß
er den wahren Ausdruk daruͤber vergißt; ſo ent-
geht uns uͤber allen dieſen Kleinigkeiten die Aufmerk-
ſamkeit, die wir auf die Sachen wenden ſollten.

Am ſchlimmeſten iſt es, wenn eine ſolche kleine
Manier in einem ganzen Zweyg der ſchoͤnen Kuͤnſte
unter einem Volke herrſchend wird, wie es in der
Beredſamkeit unter den ſpaͤthern Griechen geſchehen
iſt, da jeder auch unbedeutender Gedanken wizig
und mit einer feinen Wendung mußte geſagt wer-
den. Viele der neuern franzoͤſiſchen Schriftſteller
haben dieſe kleine Manier angenommen, und mehr
als ein deutſcher ſucht ihnen hierin gleich zu werden.

Moͤchte ſich jeder Kuͤnſtler zur Maxime machen,
ſeinen Gegenſtand blos nach dem innerlichen Werth
zu beurtheilen, und das, was ihn darin ruͤhret, auf
eine Art darzuſtellen, die ihn verſichert, daß er auch
auf andere dieſelbe Wuͤrkung thun muͤſſe.

Manieren.
(Muſik.)

So nennet man die Verziehrungen, welche Saͤn-
ger und Spieler auf gewiſſen Toͤnen anbringen, um
dieſelben von den andern blos ſchlechtweg angegebe-
nen Toͤnen zu unterſcheiden; dergleichen die Triller,
die Vorſchlaͤge, die Schleifer und andere Auszieh-
rungen mehr ſind. Sie geben den Toͤnen, worauf
ſie angebracht werden, mehr Nachdruk, oder mehr
Annehmlichkeit, zeichnen ſie vor den andern aus
und bringen uͤberhaupt Mannigfaltigkeit und gewiſ-
ſer maaßen Licht und Schatten in den Geſang.
Sie ſind nicht als etwas blos kuͤnſtliches anzuſehen:
denn die Empfindung ſelbſt giebt ſie oft an die Hand,
da ſelbſt in der gemeinen Rede die Fuͤlle der Em-
pfindung gar oft eine Abaͤnderung des Tones und
eine Verweilung auf nachdruͤklichen Sylben hervor-
bringet, die den Manieren in dem Geſang aͤhnlich
ſind. Beſonders haben zaͤrtliche Empſindungen
dieſes an ſich, daß ſie Accente von mancherley Art
auf die Toͤne legen, auf denen die Leidenſchaft vor-
zuͤglich ſtark iſt. Dieſes hat unſtreitig die verſchie-
denen Manieren im Geſang hervorgebracht.

Hieraus folget aber, daß der Saͤnger ſie nicht
willkuͤhrlich und wo es ihm einfaͤllt geſchikt zu thun,
ſondern nur da, wo die Empfindung es erfodert,
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Man
anbringen koͤnne. Es iſt nicht genug, daß man
alle Manieren auf das zierlichſte und nachdruͤklichſte
zu machen wiſſe; die Hauptſache beſteht in der ver-
ſtaͤndigen Anbringung derſelben; ſie ſollen nicht die-
nen das Ohr zu kizeln, oder die Geſchiklichkeit des
Saͤngers und Spielers zu zeigen, ſondern die Em-
pfindung zu heben. Unverſtaͤndige Spieler bringen
ſie uͤberall an und erweken nur Ueberdruß dadurch;
ja es geſchiehet bisweilen, daß man den natuͤrlichen
Lauf des Geſanges vor den haͤufigen Manieren
nicht mehr bemerken kann. Es zeiget eine große
Verderbnis des Geſchmaks an, daß man im Ge-
ſang uͤberall die Fertigkeit und Beugſamkeit der
Kehle der Saͤnger bewundern will. Dieſes hat den
großen Mißbrauch der uͤberhaͤuften Manieren ein-
gefuͤhrt und viele Saͤnger deſto nachlaͤßiger gemacht
auf den wahren Nachdruk des Geſanges zu denken.

Einige Manieren ſind ſo weſentlich, daß die Ton-
ſezer ſie auf den Stellen, wo ſie angebracht werden
ſollen, vorſchreiben; andre werden der Willkuͤhr der
Saͤnger uͤberlaſſen. Die weſentlichſten Manieren
ſind die Triller, die Vorſchlaͤge und einige damit ver-
wandte Verziehrungen, davon an ihren Orten be-
ſonders geſprochen wird. (*) Ueber alle Manieren
und deren Gebrauch und Mißbrauch findet man
ſehr gruͤndlichen Unterricht in Agricolas Ueberſezung
der Anleitung zur Singkunſt des Toſi im zweyten
und dritten Hauptſtuͤck.

Mannigfaltigkeit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Abwechslung in den Vorſtellungen und Em-
pfindungen ſcheinet ein natuͤrliches Beduͤrfnis des zu
einiger Entwiklung der Vernunſt gekommenen Men-
ſchen zu ſeyn. So angenehm auch gewiſſe Dinge
ſind, ſo wird man durch deren anhaltenden, oder
gar zu ofte wiederholten Genuß erſt gleichguͤltig da-
fuͤr; bald aber wird man ihrer uͤberdruͤßig. Nur
die oͤftere Abwechslung, das iſt die Mannigfaltig-
keit der Gegenſtaͤnde, die den Geiſt, oder das Ge-
muͤth beſchaͤftigen, unterhaͤlt die Luſt, die man dar-
an hat. Der Grund dieſes natuͤrlichen Hanges iſt
leicht zu entdeken: er liegt in der innern Thaͤtigkeit
des Geiſtes; aber er zeiget ſich erſt nachdem der
Menſch zu einigem Nachdenken uͤber ſich ſelbſt ge-
kommen iſt und das Vergnuͤgen wuͤrkſam zu ſeyn,
ofte genoſſen hat. Halb wilde Voͤlker, wie diejeni-

gen
(*) S.
Triller.
Vorſchlag.
Yy yy 2
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[741[723]/0158] Man Man ſolchem muͤheſamen Beſtreben ausſucht, daß er dar- uͤber die Gedanken ſelbſt aus der Acht laͤſſet, oder wenn wir einen Tonſpieler hoͤren, der die feineſten Manieren uͤberall mit ſolchem Fleis anbringet, daß er den wahren Ausdruk daruͤber vergißt; ſo ent- geht uns uͤber allen dieſen Kleinigkeiten die Aufmerk- ſamkeit, die wir auf die Sachen wenden ſollten. Am ſchlimmeſten iſt es, wenn eine ſolche kleine Manier in einem ganzen Zweyg der ſchoͤnen Kuͤnſte unter einem Volke herrſchend wird, wie es in der Beredſamkeit unter den ſpaͤthern Griechen geſchehen iſt, da jeder auch unbedeutender Gedanken wizig und mit einer feinen Wendung mußte geſagt wer- den. Viele der neuern franzoͤſiſchen Schriftſteller haben dieſe kleine Manier angenommen, und mehr als ein deutſcher ſucht ihnen hierin gleich zu werden. Moͤchte ſich jeder Kuͤnſtler zur Maxime machen, ſeinen Gegenſtand blos nach dem innerlichen Werth zu beurtheilen, und das, was ihn darin ruͤhret, auf eine Art darzuſtellen, die ihn verſichert, daß er auch auf andere dieſelbe Wuͤrkung thun muͤſſe. Manieren. (Muſik.) So nennet man die Verziehrungen, welche Saͤn- ger und Spieler auf gewiſſen Toͤnen anbringen, um dieſelben von den andern blos ſchlechtweg angegebe- nen Toͤnen zu unterſcheiden; dergleichen die Triller, die Vorſchlaͤge, die Schleifer und andere Auszieh- rungen mehr ſind. Sie geben den Toͤnen, worauf ſie angebracht werden, mehr Nachdruk, oder mehr Annehmlichkeit, zeichnen ſie vor den andern aus und bringen uͤberhaupt Mannigfaltigkeit und gewiſ- ſer maaßen Licht und Schatten in den Geſang. Sie ſind nicht als etwas blos kuͤnſtliches anzuſehen: denn die Empfindung ſelbſt giebt ſie oft an die Hand, da ſelbſt in der gemeinen Rede die Fuͤlle der Em- pfindung gar oft eine Abaͤnderung des Tones und eine Verweilung auf nachdruͤklichen Sylben hervor- bringet, die den Manieren in dem Geſang aͤhnlich ſind. Beſonders haben zaͤrtliche Empſindungen dieſes an ſich, daß ſie Accente von mancherley Art auf die Toͤne legen, auf denen die Leidenſchaft vor- zuͤglich ſtark iſt. Dieſes hat unſtreitig die verſchie- denen Manieren im Geſang hervorgebracht. Hieraus folget aber, daß der Saͤnger ſie nicht willkuͤhrlich und wo es ihm einfaͤllt geſchikt zu thun, ſondern nur da, wo die Empfindung es erfodert, anbringen koͤnne. Es iſt nicht genug, daß man alle Manieren auf das zierlichſte und nachdruͤklichſte zu machen wiſſe; die Hauptſache beſteht in der ver- ſtaͤndigen Anbringung derſelben; ſie ſollen nicht die- nen das Ohr zu kizeln, oder die Geſchiklichkeit des Saͤngers und Spielers zu zeigen, ſondern die Em- pfindung zu heben. Unverſtaͤndige Spieler bringen ſie uͤberall an und erweken nur Ueberdruß dadurch; ja es geſchiehet bisweilen, daß man den natuͤrlichen Lauf des Geſanges vor den haͤufigen Manieren nicht mehr bemerken kann. Es zeiget eine große Verderbnis des Geſchmaks an, daß man im Ge- ſang uͤberall die Fertigkeit und Beugſamkeit der Kehle der Saͤnger bewundern will. Dieſes hat den großen Mißbrauch der uͤberhaͤuften Manieren ein- gefuͤhrt und viele Saͤnger deſto nachlaͤßiger gemacht auf den wahren Nachdruk des Geſanges zu denken. Einige Manieren ſind ſo weſentlich, daß die Ton- ſezer ſie auf den Stellen, wo ſie angebracht werden ſollen, vorſchreiben; andre werden der Willkuͤhr der Saͤnger uͤberlaſſen. Die weſentlichſten Manieren ſind die Triller, die Vorſchlaͤge und einige damit ver- wandte Verziehrungen, davon an ihren Orten be- ſonders geſprochen wird. (*) Ueber alle Manieren und deren Gebrauch und Mißbrauch findet man ſehr gruͤndlichen Unterricht in Agricolas Ueberſezung der Anleitung zur Singkunſt des Toſi im zweyten und dritten Hauptſtuͤck. Mannigfaltigkeit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Abwechslung in den Vorſtellungen und Em- pfindungen ſcheinet ein natuͤrliches Beduͤrfnis des zu einiger Entwiklung der Vernunſt gekommenen Men- ſchen zu ſeyn. So angenehm auch gewiſſe Dinge ſind, ſo wird man durch deren anhaltenden, oder gar zu ofte wiederholten Genuß erſt gleichguͤltig da- fuͤr; bald aber wird man ihrer uͤberdruͤßig. Nur die oͤftere Abwechslung, das iſt die Mannigfaltig- keit der Gegenſtaͤnde, die den Geiſt, oder das Ge- muͤth beſchaͤftigen, unterhaͤlt die Luſt, die man dar- an hat. Der Grund dieſes natuͤrlichen Hanges iſt leicht zu entdeken: er liegt in der innern Thaͤtigkeit des Geiſtes; aber er zeiget ſich erſt nachdem der Menſch zu einigem Nachdenken uͤber ſich ſelbſt ge- kommen iſt und das Vergnuͤgen wuͤrkſam zu ſeyn, ofte genoſſen hat. Halb wilde Voͤlker, wie diejeni- gen (*) S. Triller. Vorſchlag. Yy yy 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 741[723]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/158>, abgerufen am 29.04.2024.