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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Nat

Mich deucht man könne die naive Schreibart gar
füglich und im Gegensaz mit der gekünstelten und
gezierten, mit jenem angenehmen Mädchen verglei-
chen, dessen natürliche Schönheiten und unerwor-
bene Reizungen den Cherea beym Terenz so sehr ent-
zünden.

Haud similis virgo est virginum nostrarum, quas ma-
tres student
Demissis humeris esse, vincto pectore, ut gracilae
sient
Si qua est habitior paulo, pugilem esse ajunt, dedu-
cunt cibum
Tametsi bona est natura, reddunt cultura junceas
-- -- Sed istaec nova figura oris
Color verus, corpus solidum et succiplenum.
Natur.
(Schöne Künste)

Es ist schweer die verschiedenen Bedeutungen dieses
Worts in einen einzigen Begriff zu fassen. Man
pflegt die ganze Schöpfung, das ganze System der
in der Welt vorhandenen Dinge, in so fern man sie
als Würkungen der in derselben ursprünglich vor-
handenen Kräfte ansiehet, die durch keine nur in
besondern Fällen sich äußernde Ueberlegung, zu be-
sondern Absichten geleitet worden, mit dem Namen
der Natur zu belegen, und verstehet bald jene ur-
sprünglichen Kräfte selbst, bald aber ihre Würkun-
gen darunter. Was aber in der Welt geschieht durch
Kräfte, die nicht ursprünglich darin vorhanden sind;
was sein Daseyn, oder seine Beschaffenheit von be-
sonderer, nicht auf das allgemeine System abzieh-
lender Ueberlegung; oder auch von einem der allge-
meinen Ordnung, und dem ordentlichen Laufe
der Dinge wiedersprechenden Zufall hat; dieses alles
wird der Natur entgegengesezt. Dergleichen Dinge
sind Wunderwerke, auch Werke der menschlichen
Kunst, und Würkungen seltsam verbundener, und
der allgemeinen Ordnung entgegen handelnder Ur-
sachen.

Als würkende Ursache betrachtet, ist die Natur
die Führerin und Lehrerin des Künstlers; als Wür-
kung ist sie das allgemeine Magazin, woraus er
die Gegenstände hernimmt, die er zu seinen Absich-
ten braucht. Je genauer der Künstler in seinem
Verfahren, oder in der Wahl seiner Materie sich
an die Natur hält, je vollkommener wird sein Werk.
Wir wollen beydes etwas ausführlicher betrachten.

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Nat

Jn dem ersten Sinn ist die Natur nichts anders
als die höchste Weisheit selbst, die überall ihren
Zwek auf das Vollkommenste erreicht; deren Ver-
fahren ohne Ausnahm höchst richtig" und ganz voll-
kommen ist. Daher kommt es, daß in ihren Wer-
ken alles zwekmäßig, alles gut, alles einfach und
ungezwungen, daß weder Ueberfluß noch Mangel
darin ist. Eben darum nennet man auch künst-
liche Werke natürlich, wenn darin alles vollkom-
men, ungezwungen und auf das Beste zusammen-
hangend ist, als wann die Natur selbst es gemacht
hätte.

Das Verfahren der Natur ist deswegen die eigent-
liche Schule des Künstlers, wo er jede Regel der
Kunst lernen kann. An jedem besondern Werke
dieser großen Meisterin findet er die genaueste Beob-
achtung dessen, was zur Vollkommenheit und zur
Schönheit gehöret, und je ausgedähnter seine Kennt-
nis der Natur ist, je mehr hat er Fälle vor sich, wo
immer dieselben allgemeinen Grundsäze des Vollkom-
menen und des Schönen in verschiedenen Gattun-
gen und Arten angetroffen werden. Deswegen kann
auch die Theorie der Kunst nichts anders seyn, als
das System der Regeln die durch genaue Beobach-
tung aus dem Verfahren der Natur abgezogen wor-
den. Jede Regel des Künstlers, die nicht aus die-
ser Beobachtung der Natur hergeleitet worden, ist
etwas blos phantastisches, das keinen wahren Grund
hat, und woraus nie etwas gutes erfolgen kann.

Die Natur handelt nie ohne genau bestimmte
Absicht, weder in Hervorbringung eines ganzen
Werks, noch in Darstellung irgend eines einzelen
Theiles. Wol dem Künstler der ihr darin folget,
und jeden einzelen Zug seines Werks aus dem Zwek
des Ganzen herleitet. Jn Anordnung der Theile
verfährt sie allemal so, daß das Wesentliche von dem
weniger Wesentlichen unterstüzt und gestärkt wird;
selbst dieses weniger Wesentliche ist so sehr genau
mit den Haupttheilen verbunden, daß alles, bis
auf die geringste Kleinigkeit wesentlich scheinet. Da-
durch wird jedes Werk vollkommen das, was es
seyn sollte. Jn Absicht auf die äußerliche Form
ist jedes so angeordnet, daß es so gleich als ein
für sich bestehendes Ganzes in die Augen fällt;
die Theile sind allemal in dem vollkommensten Eben-
maaße gegen einander, und ähnliche Theile sind im-
mer symmetrisch gestellt. Daneben beobachtet die
Natur überall eine so vollkommene Uebereinstimmung

alles
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Nat

Mich deucht man koͤnne die naive Schreibart gar
fuͤglich und im Gegenſaz mit der gekuͤnſtelten und
gezierten, mit jenem angenehmen Maͤdchen verglei-
chen, deſſen natuͤrliche Schoͤnheiten und unerwor-
bene Reizungen den Cherea beym Terenz ſo ſehr ent-
zuͤnden.

Haud ſimilis virgo eſt virginum noſtrarum, quas ma-
tres ſtudent
Demiſſis humeris eſſe, vincto pectore, ut gracilæ
ſient
Si qua eſt habitior paulo, pugilem eſſe ajunt, dedu-
cunt cibum
Tametſi bona eſt natura, reddunt cultura junceas
— — Sed iſtæc nova figura oris
Color verus, corpus ſolidum et ſucciplenum.
Natur.
(Schoͤne Kuͤnſte)

Es iſt ſchweer die verſchiedenen Bedeutungen dieſes
Worts in einen einzigen Begriff zu faſſen. Man
pflegt die ganze Schoͤpfung, das ganze Syſtem der
in der Welt vorhandenen Dinge, in ſo fern man ſie
als Wuͤrkungen der in derſelben urſpruͤnglich vor-
handenen Kraͤfte anſiehet, die durch keine nur in
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ſondern Abſichten geleitet worden, mit dem Namen
der Natur zu belegen, und verſtehet bald jene ur-
ſpruͤnglichen Kraͤfte ſelbſt, bald aber ihre Wuͤrkun-
gen darunter. Was aber in der Welt geſchieht durch
Kraͤfte, die nicht urſpruͤnglich darin vorhanden ſind;
was ſein Daſeyn, oder ſeine Beſchaffenheit von be-
ſonderer, nicht auf das allgemeine Syſtem abzieh-
lender Ueberlegung; oder auch von einem der allge-
meinen Ordnung, und dem ordentlichen Laufe
der Dinge wiederſprechenden Zufall hat; dieſes alles
wird der Natur entgegengeſezt. Dergleichen Dinge
ſind Wunderwerke, auch Werke der menſchlichen
Kunſt, und Wuͤrkungen ſeltſam verbundener, und
der allgemeinen Ordnung entgegen handelnder Ur-
ſachen.

Als wuͤrkende Urſache betrachtet, iſt die Natur
die Fuͤhrerin und Lehrerin des Kuͤnſtlers; als Wuͤr-
kung iſt ſie das allgemeine Magazin, woraus er
die Gegenſtaͤnde hernimmt, die er zu ſeinen Abſich-
ten braucht. Je genauer der Kuͤnſtler in ſeinem
Verfahren, oder in der Wahl ſeiner Materie ſich
an die Natur haͤlt, je vollkommener wird ſein Werk.
Wir wollen beydes etwas ausfuͤhrlicher betrachten.

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Nat

Jn dem erſten Sinn iſt die Natur nichts anders
als die hoͤchſte Weisheit ſelbſt, die uͤberall ihren
Zwek auf das Vollkommenſte erreicht; deren Ver-
fahren ohne Ausnahm hoͤchſt richtig„ und ganz voll-
kommen iſt. Daher kommt es, daß in ihren Wer-
ken alles zwekmaͤßig, alles gut, alles einfach und
ungezwungen, daß weder Ueberfluß noch Mangel
darin iſt. Eben darum nennet man auch kuͤnſt-
liche Werke natuͤrlich, wenn darin alles vollkom-
men, ungezwungen und auf das Beſte zuſammen-
hangend iſt, als wann die Natur ſelbſt es gemacht
haͤtte.

Das Verfahren der Natur iſt deswegen die eigent-
liche Schule des Kuͤnſtlers, wo er jede Regel der
Kunſt lernen kann. An jedem beſondern Werke
dieſer großen Meiſterin findet er die genaueſte Beob-
achtung deſſen, was zur Vollkommenheit und zur
Schoͤnheit gehoͤret, und je ausgedaͤhnter ſeine Kennt-
nis der Natur iſt, je mehr hat er Faͤlle vor ſich, wo
immer dieſelben allgemeinen Grundſaͤze des Vollkom-
menen und des Schoͤnen in verſchiedenen Gattun-
gen und Arten angetroffen werden. Deswegen kann
auch die Theorie der Kunſt nichts anders ſeyn, als
das Syſtem der Regeln die durch genaue Beobach-
tung aus dem Verfahren der Natur abgezogen wor-
den. Jede Regel des Kuͤnſtlers, die nicht aus die-
ſer Beobachtung der Natur hergeleitet worden, iſt
etwas blos phantaſtiſches, das keinen wahren Grund
hat, und woraus nie etwas gutes erfolgen kann.

Die Natur handelt nie ohne genau beſtimmte
Abſicht, weder in Hervorbringung eines ganzen
Werks, noch in Darſtellung irgend eines einzelen
Theiles. Wol dem Kuͤnſtler der ihr darin folget,
und jeden einzelen Zug ſeines Werks aus dem Zwek
des Ganzen herleitet. Jn Anordnung der Theile
verfaͤhrt ſie allemal ſo, daß das Weſentliche von dem
weniger Weſentlichen unterſtuͤzt und geſtaͤrkt wird;
ſelbſt dieſes weniger Weſentliche iſt ſo ſehr genau
mit den Haupttheilen verbunden, daß alles, bis
auf die geringſte Kleinigkeit weſentlich ſcheinet. Da-
durch wird jedes Werk vollkommen das, was es
ſeyn ſollte. Jn Abſicht auf die aͤußerliche Form
iſt jedes ſo angeordnet, daß es ſo gleich als ein
fuͤr ſich beſtehendes Ganzes in die Augen faͤllt;
die Theile ſind allemal in dem vollkommenſten Eben-
maaße gegen einander, und aͤhnliche Theile ſind im-
mer ſymmetriſch geſtellt. Daneben beobachtet die
Natur uͤberall eine ſo vollkommene Uebereinſtimmung

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 809[791]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/226>, abgerufen am 29.04.2024.