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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ode

Die Römer sind, wie in allen Zweygen der Kün-
ste, so auch hierin, weit hinter den Griechen zurüke ge-
blieben. Horaz war ihr einziger Odendichter, der
den Griechen zur Seite stehen konnte; dieses haben
sie selbst eingestanden. (+) Aber dieser allein konnte
statt vieler dienen. Er wußte seine Leyer in jedem
Ton zu stimmen, und hat alle Gattungen der Ode,
von der hohen Pindarischen, bis auf das liebliche
Anakreontische, und das schmelzende Sapphische Lied,
glüklich bearbeitet.

Wir dürfen in diesem Zweyg der Dichtkunst keine
der heutigen Nationen beneiden. Klopstok kann
ohne übertriebenen Stolz dem Deutschen zurufen:

Schreket noch andrer Gesang dich, o Sohn Teutons,

Als Griechengesang --
-- So bist du kein Deutscher! ein Nachahmer
Belastet vom Joche, verkennst du dich selber!

Diesen Vorzug haben wir vornehmlich dem Mann
von außerordentlichem Genie zu danken, der mit
gleichem Recht sich dem Homer und dem Pindar zur
Seite stellen kann. Nichts ist erhabener, feyerlicher,
im Flug kühner, als seine Ode von höherem Stoff;
nichts jubelreicher, als die von freudigem; nichts
rührender, schmelzender, als die von zärtlichem Jn-
halt. Nur Schade, daß dieser würklich unver-
gleichliche Dichter in seinen Oden von geistlichem Jn-
halt, bisweilen auch bey weniger erhabenen Stoff,
seinen Flug so hoch nihmt, daß nur wenige ihm da-
rin folgen können.

Nächst diesem verdienet Ramler eine ansehnliche
Stelle unter unsern einheimischen Odendichtern.
Er hat das deutsche Ohr mit dem Wolklang der grie-
chischen Ode bekannt gemacht, auch den wahren
Schwung und Ton der horazischen Ode in der deut-
schen vollkommen getroffen. Hierin scheinet er
seinen Ruhm gesucht zu haben; denn man entdeket
leicht bey ihm den Vorsaz, ein genauer Nachahmer
des Horaz zu seyn. Selbst in der Wahl des Stoffs
scheinet er des Römers Geschmak zum Muster ge-
nommen zu haben. Für die höhere Ode ist Frie-
drich sein August; zu der gemäßigten von sanft
empfindsamen, oder blos phantasiereichem Jnhalt,
giebt ihm ein Mädchen, oder ein Freund, oder die
Annehmlichkeit einer Jahrszeit den Stoff, den er
allemal in einer höchst angenehmen Wendung be-
handelt, und mit überaus feinen Blumen bestreut.
[Spaltenumbruch]

Ody
Was kann anmuthiger und lieblicher seyn, als sein
Amynt und Chloe? Höchst mahlerisch und phantasie-
reich ist die Sehnsucht nach dem Winter, und mit
einem höchstglüklichen und angenehmen Schwung
hat der Dichter diese schöne Ode geendiget. Nichts
ist zärtlicher und von sanfterem Ausdruk, als das
wechselseitige Lied Ptolomäus und Berenice.

Auch Lange und Pyca die es zuerst gewagt haben,
der deutsche Oden ein griechisches Sylbenmaaß zu
geben, und Uz stehen mit Ehren in der Classe der
guten Odendichter. Dieser letztere hat oft, ohne
den Horaz nachzuahmen, von würklicher, nicht nach-
geahmter Empfindung angeflammt, in Schwung, Ge-
danken, und Bildern, bald den hohen Ernst, bald
die Annehmlichket des Horaz erreicht. Cramer hat
vorzüglich den Psalm für seine Leyer gewählt; sein
Vers ströhmt aus voller Quelle. Wenn er weder
die Hoheit, noch die Lieblichkeit, noch die nachdrük-
liche Kürze des hebräischen Ausdruks erreicht, so
übertrift er doch darin meistentheils seine deutschen
Vorgänger.

Ueberhaupt scheinet es, daß die Ode das Fach ist,
darin die deutsche Dichtknnst sich vorzüglich zeigen
könnte: hätten nur unsre Dichter einen bequämern
und höhern Standort, aus dem sie zur besten An-
wenduug ihrer Talente die Menschen und ihre Ge-
schäfte, besser übersehen könnten!

Odyssee.
(Dichtkunst.)

Das zweyte epische Gedicht des Homers, von einem
ganz andern Charakter, als die Jlias. Diese be-
schäftiget sich mit öffentlichen Handlungen, mit Cha-
rakteren öffentlicher Personen: die Odyssee geht auf
das Privatleben, dessen mannigfaltige Vorfälle, und
die in demselben nothwendige Weisheit. Wie die
Jlias alle Affekte öffentlicher Personen schildert, so
liegen in der Odyssee alle häuslichen und Privataf-
fekte; das ganze Werk sollte moralisch und politisch
seyn, Leute von allerley Ständen zu unterrichten.
Ulysses selbst wird in das gemeine Leben herunter-
gesetzt. Also ist der ganze Ton der Odyssee um ein
merkliches tiefer gestimmt, als in der Jlias. Aber
wenn man sie durchgelesen hat, so ist man von dem
Charakter des Ulysses eben so immerwährend durch-
drungen, als von dem Charakter des Achilles, nach-

dem
(+) Lyricorum Horatius sere solus legi dignus. Quintil.
[Spaltenumbruch] Jnst. L. X. c.
1; 69.
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Ode

Die Roͤmer ſind, wie in allen Zweygen der Kuͤn-
ſte, ſo auch hierin, weit hinter den Griechen zuruͤke ge-
blieben. Horaz war ihr einziger Odendichter, der
den Griechen zur Seite ſtehen konnte; dieſes haben
ſie ſelbſt eingeſtanden. (†) Aber dieſer allein konnte
ſtatt vieler dienen. Er wußte ſeine Leyer in jedem
Ton zu ſtimmen, und hat alle Gattungen der Ode,
von der hohen Pindariſchen, bis auf das liebliche
Anakreontiſche, und das ſchmelzende Sapphiſche Lied,
gluͤklich bearbeitet.

Wir duͤrfen in dieſem Zweyg der Dichtkunſt keine
der heutigen Nationen beneiden. Klopſtok kann
ohne uͤbertriebenen Stolz dem Deutſchen zurufen:

Schreket noch andrer Geſang dich, o Sohn Teutons,

Als Griechengeſang —
— So biſt du kein Deutſcher! ein Nachahmer
Belaſtet vom Joche, verkennſt du dich ſelber!

Dieſen Vorzug haben wir vornehmlich dem Mann
von außerordentlichem Genie zu danken, der mit
gleichem Recht ſich dem Homer und dem Pindar zur
Seite ſtellen kann. Nichts iſt erhabener, feyerlicher,
im Flug kuͤhner, als ſeine Ode von hoͤherem Stoff;
nichts jubelreicher, als die von freudigem; nichts
ruͤhrender, ſchmelzender, als die von zaͤrtlichem Jn-
halt. Nur Schade, daß dieſer wuͤrklich unver-
gleichliche Dichter in ſeinen Oden von geiſtlichem Jn-
halt, bisweilen auch bey weniger erhabenen Stoff,
ſeinen Flug ſo hoch nihmt, daß nur wenige ihm da-
rin folgen koͤnnen.

Naͤchſt dieſem verdienet Ramler eine anſehnliche
Stelle unter unſern einheimiſchen Odendichtern.
Er hat das deutſche Ohr mit dem Wolklang der grie-
chiſchen Ode bekannt gemacht, auch den wahren
Schwung und Ton der horaziſchen Ode in der deut-
ſchen vollkommen getroffen. Hierin ſcheinet er
ſeinen Ruhm geſucht zu haben; denn man entdeket
leicht bey ihm den Vorſaz, ein genauer Nachahmer
des Horaz zu ſeyn. Selbſt in der Wahl des Stoffs
ſcheinet er des Roͤmers Geſchmak zum Muſter ge-
nommen zu haben. Fuͤr die hoͤhere Ode iſt Frie-
drich ſein Auguſt; zu der gemaͤßigten von ſanft
empfindſamen, oder blos phantaſiereichem Jnhalt,
giebt ihm ein Maͤdchen, oder ein Freund, oder die
Annehmlichkeit einer Jahrszeit den Stoff, den er
allemal in einer hoͤchſt angenehmen Wendung be-
handelt, und mit uͤberaus feinen Blumen beſtreut.
[Spaltenumbruch]

Ody
Was kann anmuthiger und lieblicher ſeyn, als ſein
Amynt und Chloe? Hoͤchſt mahleriſch und phantaſie-
reich iſt die Sehnſucht nach dem Winter, und mit
einem hoͤchſtgluͤklichen und angenehmen Schwung
hat der Dichter dieſe ſchoͤne Ode geendiget. Nichts
iſt zaͤrtlicher und von ſanfterem Ausdruk, als das
wechſelſeitige Lied Ptolomaͤus und Berenice.

Auch Lange und Pyca die es zuerſt gewagt haben,
der deutſche Oden ein griechiſches Sylbenmaaß zu
geben, und Uz ſtehen mit Ehren in der Claſſe der
guten Odendichter. Dieſer letztere hat oft, ohne
den Horaz nachzuahmen, von wuͤrklicher, nicht nach-
geahmter Empfindung angeflammt, in Schwung, Ge-
danken, und Bildern, bald den hohen Ernſt, bald
die Annehmlichket des Horaz erreicht. Cramer hat
vorzuͤglich den Pſalm fuͤr ſeine Leyer gewaͤhlt; ſein
Vers ſtroͤhmt aus voller Quelle. Wenn er weder
die Hoheit, noch die Lieblichkeit, noch die nachdruͤk-
liche Kuͤrze des hebraͤiſchen Ausdruks erreicht, ſo
uͤbertrift er doch darin meiſtentheils ſeine deutſchen
Vorgaͤnger.

Ueberhaupt ſcheinet es, daß die Ode das Fach iſt,
darin die deutſche Dichtknnſt ſich vorzuͤglich zeigen
koͤnnte: haͤtten nur unſre Dichter einen bequaͤmern
und hoͤhern Standort, aus dem ſie zur beſten An-
wenduug ihrer Talente die Menſchen und ihre Ge-
ſchaͤfte, beſſer uͤberſehen koͤnnten!

Odyſſee.
(Dichtkunſt.)

Das zweyte epiſche Gedicht des Homers, von einem
ganz andern Charakter, als die Jlias. Dieſe be-
ſchaͤftiget ſich mit oͤffentlichen Handlungen, mit Cha-
rakteren oͤffentlicher Perſonen: die Odyſſee geht auf
das Privatleben, deſſen mannigfaltige Vorfaͤlle, und
die in demſelben nothwendige Weisheit. Wie die
Jlias alle Affekte oͤffentlicher Perſonen ſchildert, ſo
liegen in der Odyſſee alle haͤuslichen und Privataf-
fekte; das ganze Werk ſollte moraliſch und politiſch
ſeyn, Leute von allerley Staͤnden zu unterrichten.
Ulyſſes ſelbſt wird in das gemeine Leben herunter-
geſetzt. Alſo iſt der ganze Ton der Odyſſee um ein
merkliches tiefer geſtimmt, als in der Jlias. Aber
wenn man ſie durchgeleſen hat, ſo iſt man von dem
Charakter des Ulyſſes eben ſo immerwaͤhrend durch-
drungen, als von dem Charakter des Achilles, nach-

dem
(†) Lyricorum Horatius ſere ſolus legi dignus. Quintil.
[Spaltenumbruch] Jnſt. L. X. c.
1; 69.
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[839[821]/0256] Ode Ody Die Roͤmer ſind, wie in allen Zweygen der Kuͤn- ſte, ſo auch hierin, weit hinter den Griechen zuruͤke ge- blieben. Horaz war ihr einziger Odendichter, der den Griechen zur Seite ſtehen konnte; dieſes haben ſie ſelbſt eingeſtanden. (†) Aber dieſer allein konnte ſtatt vieler dienen. Er wußte ſeine Leyer in jedem Ton zu ſtimmen, und hat alle Gattungen der Ode, von der hohen Pindariſchen, bis auf das liebliche Anakreontiſche, und das ſchmelzende Sapphiſche Lied, gluͤklich bearbeitet. Wir duͤrfen in dieſem Zweyg der Dichtkunſt keine der heutigen Nationen beneiden. Klopſtok kann ohne uͤbertriebenen Stolz dem Deutſchen zurufen: Schreket noch andrer Geſang dich, o Sohn Teutons, Als Griechengeſang — — So biſt du kein Deutſcher! ein Nachahmer Belaſtet vom Joche, verkennſt du dich ſelber! Dieſen Vorzug haben wir vornehmlich dem Mann von außerordentlichem Genie zu danken, der mit gleichem Recht ſich dem Homer und dem Pindar zur Seite ſtellen kann. Nichts iſt erhabener, feyerlicher, im Flug kuͤhner, als ſeine Ode von hoͤherem Stoff; nichts jubelreicher, als die von freudigem; nichts ruͤhrender, ſchmelzender, als die von zaͤrtlichem Jn- halt. Nur Schade, daß dieſer wuͤrklich unver- gleichliche Dichter in ſeinen Oden von geiſtlichem Jn- halt, bisweilen auch bey weniger erhabenen Stoff, ſeinen Flug ſo hoch nihmt, daß nur wenige ihm da- rin folgen koͤnnen. Naͤchſt dieſem verdienet Ramler eine anſehnliche Stelle unter unſern einheimiſchen Odendichtern. Er hat das deutſche Ohr mit dem Wolklang der grie- chiſchen Ode bekannt gemacht, auch den wahren Schwung und Ton der horaziſchen Ode in der deut- ſchen vollkommen getroffen. Hierin ſcheinet er ſeinen Ruhm geſucht zu haben; denn man entdeket leicht bey ihm den Vorſaz, ein genauer Nachahmer des Horaz zu ſeyn. Selbſt in der Wahl des Stoffs ſcheinet er des Roͤmers Geſchmak zum Muſter ge- nommen zu haben. Fuͤr die hoͤhere Ode iſt Frie- drich ſein Auguſt; zu der gemaͤßigten von ſanft empfindſamen, oder blos phantaſiereichem Jnhalt, giebt ihm ein Maͤdchen, oder ein Freund, oder die Annehmlichkeit einer Jahrszeit den Stoff, den er allemal in einer hoͤchſt angenehmen Wendung be- handelt, und mit uͤberaus feinen Blumen beſtreut. Was kann anmuthiger und lieblicher ſeyn, als ſein Amynt und Chloe? Hoͤchſt mahleriſch und phantaſie- reich iſt die Sehnſucht nach dem Winter, und mit einem hoͤchſtgluͤklichen und angenehmen Schwung hat der Dichter dieſe ſchoͤne Ode geendiget. Nichts iſt zaͤrtlicher und von ſanfterem Ausdruk, als das wechſelſeitige Lied Ptolomaͤus und Berenice. Auch Lange und Pyca die es zuerſt gewagt haben, der deutſche Oden ein griechiſches Sylbenmaaß zu geben, und Uz ſtehen mit Ehren in der Claſſe der guten Odendichter. Dieſer letztere hat oft, ohne den Horaz nachzuahmen, von wuͤrklicher, nicht nach- geahmter Empfindung angeflammt, in Schwung, Ge- danken, und Bildern, bald den hohen Ernſt, bald die Annehmlichket des Horaz erreicht. Cramer hat vorzuͤglich den Pſalm fuͤr ſeine Leyer gewaͤhlt; ſein Vers ſtroͤhmt aus voller Quelle. Wenn er weder die Hoheit, noch die Lieblichkeit, noch die nachdruͤk- liche Kuͤrze des hebraͤiſchen Ausdruks erreicht, ſo uͤbertrift er doch darin meiſtentheils ſeine deutſchen Vorgaͤnger. Ueberhaupt ſcheinet es, daß die Ode das Fach iſt, darin die deutſche Dichtknnſt ſich vorzuͤglich zeigen koͤnnte: haͤtten nur unſre Dichter einen bequaͤmern und hoͤhern Standort, aus dem ſie zur beſten An- wenduug ihrer Talente die Menſchen und ihre Ge- ſchaͤfte, beſſer uͤberſehen koͤnnten! Odyſſee. (Dichtkunſt.) Das zweyte epiſche Gedicht des Homers, von einem ganz andern Charakter, als die Jlias. Dieſe be- ſchaͤftiget ſich mit oͤffentlichen Handlungen, mit Cha- rakteren oͤffentlicher Perſonen: die Odyſſee geht auf das Privatleben, deſſen mannigfaltige Vorfaͤlle, und die in demſelben nothwendige Weisheit. Wie die Jlias alle Affekte oͤffentlicher Perſonen ſchildert, ſo liegen in der Odyſſee alle haͤuslichen und Privataf- fekte; das ganze Werk ſollte moraliſch und politiſch ſeyn, Leute von allerley Staͤnden zu unterrichten. Ulyſſes ſelbſt wird in das gemeine Leben herunter- geſetzt. Alſo iſt der ganze Ton der Odyſſee um ein merkliches tiefer geſtimmt, als in der Jlias. Aber wenn man ſie durchgeleſen hat, ſo iſt man von dem Charakter des Ulyſſes eben ſo immerwaͤhrend durch- drungen, als von dem Charakter des Achilles, nach- dem (†) Lyricorum Horatius ſere ſolus legi dignus. Quintil. Jnſt. L. X. c. 1; 69. L l l l l 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 839[821]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/256>, abgerufen am 29.04.2024.