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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ori
müthskräften einen neuen vortheilhaften Schwung
geben. Jn frevelhaften Dingen (*) original zu
seyn und einem ganzen Volke dadurch seinen Ge-
schmak mitzutheilen, bringt Schimmer, aber keinen
dauerhaften Glanz des Ruhmes. Voltaire ist von
mehr, als einer Seite wahrhaftig Original; aber
dadurch, daß er den Geschmak eingeführt hat, aus
ernsthaften Dingen ein wiziges Possenspiehl zu ma-
chen, wird sein Ruhm nicht sehr vermehrt; ob
gleich auch darin nicht alles zu verwerfen ist. So
hat der Originalgeist, der in Frankreich die Parodien
eingeführt hat, dem Geschmak und dem sittlichen
Gefühl eben keine vortheilhafte Wendung gegeben.

Unter den vorzüglichsten Originalen der neuern
Zeiten behauptet der nicht längst verstorbene Englän-
der Sterne, einen ansehnlichen Rang. Jn eini-
gen Stüken ist er so sehr original, daß er keine
Nachahmer finden wird Sein Leben des Tristram
Shandy
wird wol das einzige Werk seiner Art blei-
ben: aber seine empfindsamen Reisen haben Nach-
ahmer gefunden und verdienen es auch. Denn
diese Sternische Art die gemeinesten Vorfälle des
täglichen Lebens anzusehen, ist gewiß wichtig und
wird mauchen Menschen zur genaueren Selbster-
kenntniß führen, als jeder andere Weg den man
dazu einschlagen könnte.

Wir können hier die Frage nicht mit Stillschwei-
gen übergehen, warum die Originalgeister so selten
sind. Es ist wahrscheinlich, daß mehr die Nachah-
mungssucht, als eine gewisse Kargheit der Natur in
Austheilung ihrer Gaben daran Schuld sey. Man
sieht Genien, die vollkommen aufgelegt sind, selbst
Originale zu seyn, und dennoch von jener Sucht an-
gestekt werden. Deutschland selbst besizt einen Mann
von großem Genie, der von der Natur mit mancher-
ley sehr vorzüglichen Gaben versehen ist, und der
in mehr als einem Fach ein fürtresliches Original
seyn könnte: und doch sehen wir ihn in maucherley
nachgeahmten Gestalten, erscheinen, durch welche
der Originalgeist immer durchscheinet. Bald reizt
ihn der jüngere Crebillon, bald Diderot, bald Sterne
zur Nachahmung. Einigen Originalköpfen mag
es auch an Muth fehlen. Jndem sie sehen, wie all-
gemein schon vorhandene Werke bewundert werden,
wie die Kunstrichter dieselben zu Mustern aufstellen;
wie so gar aus dem, was diese Werke an sich haben,
allgemeine Regeln für die ganze Gattung abgezogen
werden; so getrauen sie sich nicht einen anderen
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Ori
Weg einzuschlagen. Sie besorgen eine Ode, die
nicht horazisch, oder pindarisch, ein Trauerspiehl,
das nicht nach den griechischen Mustern gemacht ist,
möchte blos darum keinen Beyfall finden; und da-
rum zwingen sie ihr eigenes Genie unter das Joch
eines fremden Gesezes. Jn Frankreich mag man-
cher Originalgeist durch diese Besorgnis unterdrükt
werden. Denn diese Nation scheinet nichts für gül-
tig erkennen zu wollen, als was den Werken ähnlich
ist, die in den so sehr gepriesenen Zeiten Ludwigs
des XIV gemacht worden. Wir urtheilen zwar
freyer; weil wir selbst noch nicht lange genug große
einheimische Muster vor uns haben: aber es schei-
net doch bisweilen, daß einige Kunstrichter gewissen
Werken deswegen ihren Beyfall versagen, weil sie
von den gewöhnlichen Formen abgehen. Etwas
Stolz, wenigstens Zuversicht in seine Kräfte, steht
dem Genie wol an, und es nihmt daher neue Kräfte;
gegen den Tadel nachahmender Kunstrichter, ruft
ihm ein unpartheyisches Publicum das sapere aude
des Horaz zur Aufmunterung zu.

Originalwerk.
(Schöne Künste.)

Es giebt zweyerley Arten der Kunstwerke, denen
man diesen Namen giebt; denn er bedeutet entwe-
der ein Werk, das keine Nachahmung, oder eines,
das keine Copey ist. Jm ersten Sinne kommt die-
ser Namen den Werken zu, die einen eigenthümli-
chen, nicht erborgten innerlichen Charakter haben;
im andern Sinne bezeichnet man dadurch ein Werk,
das von eines Künstlers eigenem Genie entworfen,
und nach seiner Art bearbeitet und nicht copirt ist,
wenn es sonst gleich in dem Wesentlichen seines Cha-
rakters nichts originales hat. Jn der ersten Bedeu-
tung ist z. B. Klopstoks Bardiet ein Originalwerk,
ein Drama von ganz eigenthümlicher Art, von des
Dichters Genie ausgedacht: dergleichen Werke ma-
chen nur Originalgeister. Jn dem andern Sinn ist
jedes Werk, dessen Urheber bey Verfertigung seinen
eigenen Gedanken, wenn sie gleich Aehnlichkeit mit
fremden haben sollten, gefolget ist, und bey der Aus-
arbeitung eben nicht sorgfältig andrer Manier genau
nach geahmet hat, ein Original. Jn diesem Sinne
sind alle Trauerspiele des Racine Originale; denn
keines ist übersezt und in fremdem Geschmak bear-
beitet, obgleich die Handlung überhaupt, oder auch
einzele Stellen, nachgeahmt sind.

Man
(*) Frivo-
lites.
O o o o o 3

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Ori
muͤthskraͤften einen neuen vortheilhaften Schwung
geben. Jn frevelhaften Dingen (*) original zu
ſeyn und einem ganzen Volke dadurch ſeinen Ge-
ſchmak mitzutheilen, bringt Schimmer, aber keinen
dauerhaften Glanz des Ruhmes. Voltaire iſt von
mehr, als einer Seite wahrhaftig Original; aber
dadurch, daß er den Geſchmak eingefuͤhrt hat, aus
ernſthaften Dingen ein wiziges Poſſenſpiehl zu ma-
chen, wird ſein Ruhm nicht ſehr vermehrt; ob
gleich auch darin nicht alles zu verwerfen iſt. So
hat der Originalgeiſt, der in Frankreich die Parodien
eingefuͤhrt hat, dem Geſchmak und dem ſittlichen
Gefuͤhl eben keine vortheilhafte Wendung gegeben.

Unter den vorzuͤglichſten Originalen der neuern
Zeiten behauptet der nicht laͤngſt verſtorbene Englaͤn-
der Sterne, einen anſehnlichen Rang. Jn eini-
gen Stuͤken iſt er ſo ſehr original, daß er keine
Nachahmer finden wird Sein Leben des Triſtram
Shandy
wird wol das einzige Werk ſeiner Art blei-
ben: aber ſeine empfindſamen Reiſen haben Nach-
ahmer gefunden und verdienen es auch. Denn
dieſe Sterniſche Art die gemeineſten Vorfaͤlle des
taͤglichen Lebens anzuſehen, iſt gewiß wichtig und
wird mauchen Menſchen zur genaueren Selbſter-
kenntniß fuͤhren, als jeder andere Weg den man
dazu einſchlagen koͤnnte.

Wir koͤnnen hier die Frage nicht mit Stillſchwei-
gen uͤbergehen, warum die Originalgeiſter ſo ſelten
ſind. Es iſt wahrſcheinlich, daß mehr die Nachah-
mungsſucht, als eine gewiſſe Kargheit der Natur in
Austheilung ihrer Gaben daran Schuld ſey. Man
ſieht Genien, die vollkommen aufgelegt ſind, ſelbſt
Originale zu ſeyn, und dennoch von jener Sucht an-
geſtekt werden. Deutſchland ſelbſt beſizt einen Mann
von großem Genie, der von der Natur mit mancher-
ley ſehr vorzuͤglichen Gaben verſehen iſt, und der
in mehr als einem Fach ein fuͤrtreſliches Original
ſeyn koͤnnte: und doch ſehen wir ihn in maucherley
nachgeahmten Geſtalten, erſcheinen, durch welche
der Originalgeiſt immer durchſcheinet. Bald reizt
ihn der juͤngere Crebillon, bald Diderot, bald Sterne
zur Nachahmung. Einigen Originalkoͤpfen mag
es auch an Muth fehlen. Jndem ſie ſehen, wie all-
gemein ſchon vorhandene Werke bewundert werden,
wie die Kunſtrichter dieſelben zu Muſtern aufſtellen;
wie ſo gar aus dem, was dieſe Werke an ſich haben,
allgemeine Regeln fuͤr die ganze Gattung abgezogen
werden; ſo getrauen ſie ſich nicht einen anderen
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Ori
Weg einzuſchlagen. Sie beſorgen eine Ode, die
nicht horaziſch, oder pindariſch, ein Trauerſpiehl,
das nicht nach den griechiſchen Muſtern gemacht iſt,
moͤchte blos darum keinen Beyfall finden; und da-
rum zwingen ſie ihr eigenes Genie unter das Joch
eines fremden Geſezes. Jn Frankreich mag man-
cher Originalgeiſt durch dieſe Beſorgnis unterdruͤkt
werden. Denn dieſe Nation ſcheinet nichts fuͤr guͤl-
tig erkennen zu wollen, als was den Werken aͤhnlich
iſt, die in den ſo ſehr geprieſenen Zeiten Ludwigs
des XIV gemacht worden. Wir urtheilen zwar
freyer; weil wir ſelbſt noch nicht lange genug große
einheimiſche Muſter vor uns haben: aber es ſchei-
net doch bisweilen, daß einige Kunſtrichter gewiſſen
Werken deswegen ihren Beyfall verſagen, weil ſie
von den gewoͤhnlichen Formen abgehen. Etwas
Stolz, wenigſtens Zuverſicht in ſeine Kraͤfte, ſteht
dem Genie wol an, und es nihmt daher neue Kraͤfte;
gegen den Tadel nachahmender Kunſtrichter, ruft
ihm ein unpartheyiſches Publicum das ſapere aude
des Horaz zur Aufmunterung zu.

Originalwerk.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Es giebt zweyerley Arten der Kunſtwerke, denen
man dieſen Namen giebt; denn er bedeutet entwe-
der ein Werk, das keine Nachahmung, oder eines,
das keine Copey iſt. Jm erſten Sinne kommt die-
ſer Namen den Werken zu, die einen eigenthuͤmli-
chen, nicht erborgten innerlichen Charakter haben;
im andern Sinne bezeichnet man dadurch ein Werk,
das von eines Kuͤnſtlers eigenem Genie entworfen,
und nach ſeiner Art bearbeitet und nicht copirt iſt,
wenn es ſonſt gleich in dem Weſentlichen ſeines Cha-
rakters nichts originales hat. Jn der erſten Bedeu-
tung iſt z. B. Klopſtoks Bardiet ein Originalwerk,
ein Drama von ganz eigenthuͤmlicher Art, von des
Dichters Genie ausgedacht: dergleichen Werke ma-
chen nur Originalgeiſter. Jn dem andern Sinn iſt
jedes Werk, deſſen Urheber bey Verfertigung ſeinen
eigenen Gedanken, wenn ſie gleich Aehnlichkeit mit
fremden haben ſollten, gefolget iſt, und bey der Aus-
arbeitung eben nicht ſorgfaͤltig andrer Manier genau
nach geahmet hat, ein Original. Jn dieſem Sinne
ſind alle Trauerſpiele des Racine Originale; denn
keines iſt uͤberſezt und in fremdem Geſchmak bear-
beitet, obgleich die Handlung uͤberhaupt, oder auch
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Man
(*) Frivo-
lités.
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[863[845]/0280] Ori Ori muͤthskraͤften einen neuen vortheilhaften Schwung geben. Jn frevelhaften Dingen (*) original zu ſeyn und einem ganzen Volke dadurch ſeinen Ge- ſchmak mitzutheilen, bringt Schimmer, aber keinen dauerhaften Glanz des Ruhmes. Voltaire iſt von mehr, als einer Seite wahrhaftig Original; aber dadurch, daß er den Geſchmak eingefuͤhrt hat, aus ernſthaften Dingen ein wiziges Poſſenſpiehl zu ma- chen, wird ſein Ruhm nicht ſehr vermehrt; ob gleich auch darin nicht alles zu verwerfen iſt. So hat der Originalgeiſt, der in Frankreich die Parodien eingefuͤhrt hat, dem Geſchmak und dem ſittlichen Gefuͤhl eben keine vortheilhafte Wendung gegeben. Unter den vorzuͤglichſten Originalen der neuern Zeiten behauptet der nicht laͤngſt verſtorbene Englaͤn- der Sterne, einen anſehnlichen Rang. Jn eini- gen Stuͤken iſt er ſo ſehr original, daß er keine Nachahmer finden wird Sein Leben des Triſtram Shandy wird wol das einzige Werk ſeiner Art blei- ben: aber ſeine empfindſamen Reiſen haben Nach- ahmer gefunden und verdienen es auch. Denn dieſe Sterniſche Art die gemeineſten Vorfaͤlle des taͤglichen Lebens anzuſehen, iſt gewiß wichtig und wird mauchen Menſchen zur genaueren Selbſter- kenntniß fuͤhren, als jeder andere Weg den man dazu einſchlagen koͤnnte. Wir koͤnnen hier die Frage nicht mit Stillſchwei- gen uͤbergehen, warum die Originalgeiſter ſo ſelten ſind. Es iſt wahrſcheinlich, daß mehr die Nachah- mungsſucht, als eine gewiſſe Kargheit der Natur in Austheilung ihrer Gaben daran Schuld ſey. Man ſieht Genien, die vollkommen aufgelegt ſind, ſelbſt Originale zu ſeyn, und dennoch von jener Sucht an- geſtekt werden. Deutſchland ſelbſt beſizt einen Mann von großem Genie, der von der Natur mit mancher- ley ſehr vorzuͤglichen Gaben verſehen iſt, und der in mehr als einem Fach ein fuͤrtreſliches Original ſeyn koͤnnte: und doch ſehen wir ihn in maucherley nachgeahmten Geſtalten, erſcheinen, durch welche der Originalgeiſt immer durchſcheinet. Bald reizt ihn der juͤngere Crebillon, bald Diderot, bald Sterne zur Nachahmung. Einigen Originalkoͤpfen mag es auch an Muth fehlen. Jndem ſie ſehen, wie all- gemein ſchon vorhandene Werke bewundert werden, wie die Kunſtrichter dieſelben zu Muſtern aufſtellen; wie ſo gar aus dem, was dieſe Werke an ſich haben, allgemeine Regeln fuͤr die ganze Gattung abgezogen werden; ſo getrauen ſie ſich nicht einen anderen Weg einzuſchlagen. Sie beſorgen eine Ode, die nicht horaziſch, oder pindariſch, ein Trauerſpiehl, das nicht nach den griechiſchen Muſtern gemacht iſt, moͤchte blos darum keinen Beyfall finden; und da- rum zwingen ſie ihr eigenes Genie unter das Joch eines fremden Geſezes. Jn Frankreich mag man- cher Originalgeiſt durch dieſe Beſorgnis unterdruͤkt werden. Denn dieſe Nation ſcheinet nichts fuͤr guͤl- tig erkennen zu wollen, als was den Werken aͤhnlich iſt, die in den ſo ſehr geprieſenen Zeiten Ludwigs des XIV gemacht worden. Wir urtheilen zwar freyer; weil wir ſelbſt noch nicht lange genug große einheimiſche Muſter vor uns haben: aber es ſchei- net doch bisweilen, daß einige Kunſtrichter gewiſſen Werken deswegen ihren Beyfall verſagen, weil ſie von den gewoͤhnlichen Formen abgehen. Etwas Stolz, wenigſtens Zuverſicht in ſeine Kraͤfte, ſteht dem Genie wol an, und es nihmt daher neue Kraͤfte; gegen den Tadel nachahmender Kunſtrichter, ruft ihm ein unpartheyiſches Publicum das ſapere aude des Horaz zur Aufmunterung zu. Originalwerk. (Schoͤne Kuͤnſte.) Es giebt zweyerley Arten der Kunſtwerke, denen man dieſen Namen giebt; denn er bedeutet entwe- der ein Werk, das keine Nachahmung, oder eines, das keine Copey iſt. Jm erſten Sinne kommt die- ſer Namen den Werken zu, die einen eigenthuͤmli- chen, nicht erborgten innerlichen Charakter haben; im andern Sinne bezeichnet man dadurch ein Werk, das von eines Kuͤnſtlers eigenem Genie entworfen, und nach ſeiner Art bearbeitet und nicht copirt iſt, wenn es ſonſt gleich in dem Weſentlichen ſeines Cha- rakters nichts originales hat. Jn der erſten Bedeu- tung iſt z. B. Klopſtoks Bardiet ein Originalwerk, ein Drama von ganz eigenthuͤmlicher Art, von des Dichters Genie ausgedacht: dergleichen Werke ma- chen nur Originalgeiſter. Jn dem andern Sinn iſt jedes Werk, deſſen Urheber bey Verfertigung ſeinen eigenen Gedanken, wenn ſie gleich Aehnlichkeit mit fremden haben ſollten, gefolget iſt, und bey der Aus- arbeitung eben nicht ſorgfaͤltig andrer Manier genau nach geahmet hat, ein Original. Jn dieſem Sinne ſind alle Trauerſpiele des Racine Originale; denn keines iſt uͤberſezt und in fremdem Geſchmak bear- beitet, obgleich die Handlung uͤberhaupt, oder auch einzele Stellen, nachgeahmt ſind. Man (*) Frivo- lités. O o o o o 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 863[845]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/280>, abgerufen am 29.04.2024.