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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ori
Mit einem feinen Aug und Kenntnis der Ausübung
der Kunst viel Werke der berühmten Meister gesehen,
und sehr ofte nach allen Theilen der Bearbeitung
untersucht zu haben, giebt allerdings eine Fertigkeit
die Originale, wo nicht allemal, doch mestentheils
zu kennen. Meister der Kunst, die jede Kleinigkeit
der Behandlung aus eigener Erfahrung kennen, sind
hierin die besten Richter. Aber große Herren thun
wol, um nicht betrogen zu werden, daß sie bey Wer-
ken von Wichtigkeit, allemal ein Mißtrauen in die
Stüke sezen, über deren eigentliche Herkunft sie nicht
recht authentische Zeugnisse haben.

Aber ist denn so sehr viel daran gelegen, ein Ori-
ginal zu besizen? Und kann nicht eine Copey, wenn
sie so ist, daß auch ein gutes Aug dabey betrogen
wird, eben die Dienste thun, als das Original?
Nachdem man eine Absicht bey Anschaffung des Ge-
mähldes hat. Es kann Copeyen geben, die mehr
werth sind, als halb verdorbene Originale. (*)
Aber da jedes Original ein einzeles Werk ist, das
nicht vermehrt werden kann, so ist auch sein Preis
nicht nach der Schäzung einer Copey zu bestim-
men, die so oft als man will, kann wiederholt wer-
den. Diese hat einen bestimmten, jenes einen un-
bestimmten Werth, und Niemand will, wenn es
schon auf beträchtliche Summen ankommt, gern be-
trogen seyn.

Jn Bildergallerien, die dazu dienen sollen, die
Monumente zur Geschichte der Kunst aufzubewah-
ren, ist es höchst wichtig nichts als Originale zu ha-
ben. Die Geschicht der Kunst selbst, ist ein wich-
tiger Theil der Geschicht des menschlichen Genies,
und da muß man nicht durch falsche Nachrichten
betrogen werden. Die Frage, wie weit die Grie-
chen und Römer es in diesem oder jenem Theil der
schönen, oder mechanischen. Künste, und auch der
Wissenschaften gebracht haben, kann nur durch Ori-
ginalwerke des Alterthums beantwortet werden.
Man streitet z. B. ob sie die Wissenschaft der Per-
spektiv beseßen, ob sie Vergrößerungsgläser gehabt,
was für Jnstrumente sie gehabt haben, u. d. gl.
Dergleichen Fragen aus Copeyen, oder andern neuern,
aber vorgeblich alten Werken beantwortet, ver-
breiten Unwahrheiten in einen wichtigen Theil der
menschlichen Kenntnisse.

Zum Studiren für den Künstler, wenigstens in
Absicht auf die Behandlung, und auch auf die Zeich-
nung sind die Originale großer Meister unendlich
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Oßi
wichtiger, als die besten Copeyen; denn die höchste
Wahrheit und der größte Nachdruk in Zeichnung
und Farbe hängt ofte von kaum bemerkbaren Klei-
nigkeiten ab, davon wenigstens ein Theil in der Co-
pey vermißt wird.

Oßian.

Ein alter brittischer Barde, dessen Gesänge in der
alten gallischen, oder celtischen Sprach viele Jahr-
hunderte durch in Schottland, wo er in der zweyten
Hälfte des dritten, und Anfangs des vierten Jahr-
hunderts gelebt hat, durch mündliches Ueberliefern
sich so weit erhalten haben, daß der Schottländer
Mac-Pherson im Stande gewesen eine beträchtliche
Sammlung davon zusammen zu tragen, die Zusam-
mengehörigen in Ordnung zu bringen, und in einer
englischen Uebersezung herauszugeben. Ob es gleich
eine durch das Zeugnis manches alten Schriftstellers
sehr bekannte Sache gewesen, daß bey den alten
Galliern die Barden eine besondere und ansehnliche
Classe der Nation ausgemacht, deren öffentlicher
Beruf es gewesen, die Heldenthaten ihrer und ver-
gangener Zeiten in Liedern zu besingen; so fiel Nie-
manden ein zu vermuthen, daß solche Lieder sich könn-
ten bis auf unsere Zeit erhalten haben. Man hielt
sie durchgehends für verlohren, und war auch ver-
muthlich in der Meinung, daß die Geschichte mehr
als die Poesie und der Geschmak überhaupt, dadurch
verlohren haben mochten.

Aber die Sammlung des Hrn. Macphersons
zeigte, wie sehr beyde Vermuthungen der Wahr-
heit entgegen sind. Sie legte der Welt Gedichte von
mancherley Art, von so großer Schönheit, in solcher
Menge und von solchem Alterthum vor Augen, daß
gar viele diese außerordentliche Erscheinung für einen
Kunstgriff des Betruges hielten. Es schien eben so
unglaublich, daß unter einem Volke, das man für
wild und barbarisch gehalten hatte, ein Dichter sollte
gelebt haben, der den größten griechischen Dichtern
den Rang könnte streitig machen; als daß seine Ge-
dichte durch so viel Jahrhunderte, durch blos münd-
liche Ueberlieferung, sich sollten erhalten haben. Und
doch ist beydes durch die unleügbaresten Beweise,
außer allen Zweifel gesezt. Wer nicht schon aus
dem innern Charakter dieser Gedichte sich überzeu-
gen kann, daß sie authentisch sind, wird keinen Zwei-
fel mehr dagegen behalten, nachdem er die Nach-
richten gelesen, die der Edimburgische Professor Blais

seiner
(*) S.
Copey.

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Ori
Mit einem feinen Aug und Kenntnis der Ausuͤbung
der Kunſt viel Werke der beruͤhmten Meiſter geſehen,
und ſehr ofte nach allen Theilen der Bearbeitung
unterſucht zu haben, giebt allerdings eine Fertigkeit
die Originale, wo nicht allemal, doch meſtentheils
zu kennen. Meiſter der Kunſt, die jede Kleinigkeit
der Behandlung aus eigener Erfahrung kennen, ſind
hierin die beſten Richter. Aber große Herren thun
wol, um nicht betrogen zu werden, daß ſie bey Wer-
ken von Wichtigkeit, allemal ein Mißtrauen in die
Stuͤke ſezen, uͤber deren eigentliche Herkunft ſie nicht
recht authentiſche Zeugniſſe haben.

Aber iſt denn ſo ſehr viel daran gelegen, ein Ori-
ginal zu beſizen? Und kann nicht eine Copey, wenn
ſie ſo iſt, daß auch ein gutes Aug dabey betrogen
wird, eben die Dienſte thun, als das Original?
Nachdem man eine Abſicht bey Anſchaffung des Ge-
maͤhldes hat. Es kann Copeyen geben, die mehr
werth ſind, als halb verdorbene Originale. (*)
Aber da jedes Original ein einzeles Werk iſt, das
nicht vermehrt werden kann, ſo iſt auch ſein Preis
nicht nach der Schaͤzung einer Copey zu beſtim-
men, die ſo oft als man will, kann wiederholt wer-
den. Dieſe hat einen beſtimmten, jenes einen un-
beſtimmten Werth, und Niemand will, wenn es
ſchon auf betraͤchtliche Summen ankommt, gern be-
trogen ſeyn.

Jn Bildergallerien, die dazu dienen ſollen, die
Monumente zur Geſchichte der Kunſt aufzubewah-
ren, iſt es hoͤchſt wichtig nichts als Originale zu ha-
ben. Die Geſchicht der Kunſt ſelbſt, iſt ein wich-
tiger Theil der Geſchicht des menſchlichen Genies,
und da muß man nicht durch falſche Nachrichten
betrogen werden. Die Frage, wie weit die Grie-
chen und Roͤmer es in dieſem oder jenem Theil der
ſchoͤnen, oder mechaniſchen. Kuͤnſte, und auch der
Wiſſenſchaften gebracht haben, kann nur durch Ori-
ginalwerke des Alterthums beantwortet werden.
Man ſtreitet z. B. ob ſie die Wiſſenſchaft der Per-
ſpektiv beſeßen, ob ſie Vergroͤßerungsglaͤſer gehabt,
was fuͤr Jnſtrumente ſie gehabt haben, u. d. gl.
Dergleichen Fragen aus Copeyen, oder andern neuern,
aber vorgeblich alten Werken beantwortet, ver-
breiten Unwahrheiten in einen wichtigen Theil der
menſchlichen Kenntniſſe.

Zum Studiren fuͤr den Kuͤnſtler, wenigſtens in
Abſicht auf die Behandlung, und auch auf die Zeich-
nung ſind die Originale großer Meiſter unendlich
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Oßi
wichtiger, als die beſten Copeyen; denn die hoͤchſte
Wahrheit und der groͤßte Nachdruk in Zeichnung
und Farbe haͤngt ofte von kaum bemerkbaren Klei-
nigkeiten ab, davon wenigſtens ein Theil in der Co-
pey vermißt wird.

Oßian.

Ein alter brittiſcher Barde, deſſen Geſaͤnge in der
alten galliſchen, oder celtiſchen Sprach viele Jahr-
hunderte durch in Schottland, wo er in der zweyten
Haͤlfte des dritten, und Anfangs des vierten Jahr-
hunderts gelebt hat, durch muͤndliches Ueberliefern
ſich ſo weit erhalten haben, daß der Schottlaͤnder
Mac-Pherſon im Stande geweſen eine betraͤchtliche
Sammlung davon zuſammen zu tragen, die Zuſam-
mengehoͤrigen in Ordnung zu bringen, und in einer
engliſchen Ueberſezung herauszugeben. Ob es gleich
eine durch das Zeugnis manches alten Schriftſtellers
ſehr bekannte Sache geweſen, daß bey den alten
Galliern die Barden eine beſondere und anſehnliche
Claſſe der Nation ausgemacht, deren oͤffentlicher
Beruf es geweſen, die Heldenthaten ihrer und ver-
gangener Zeiten in Liedern zu beſingen; ſo fiel Nie-
manden ein zu vermuthen, daß ſolche Lieder ſich koͤnn-
ten bis auf unſere Zeit erhalten haben. Man hielt
ſie durchgehends fuͤr verlohren, und war auch ver-
muthlich in der Meinung, daß die Geſchichte mehr
als die Poeſie und der Geſchmak uͤberhaupt, dadurch
verlohren haben mochten.

Aber die Sammlung des Hrn. Macpherſons
zeigte, wie ſehr beyde Vermuthungen der Wahr-
heit entgegen ſind. Sie legte der Welt Gedichte von
mancherley Art, von ſo großer Schoͤnheit, in ſolcher
Menge und von ſolchem Alterthum vor Augen, daß
gar viele dieſe außerordentliche Erſcheinung fuͤr einen
Kunſtgriff des Betruges hielten. Es ſchien eben ſo
unglaublich, daß unter einem Volke, das man fuͤr
wild und barbariſch gehalten hatte, ein Dichter ſollte
gelebt haben, der den groͤßten griechiſchen Dichtern
den Rang koͤnnte ſtreitig machen; als daß ſeine Ge-
dichte durch ſo viel Jahrhunderte, durch blos muͤnd-
liche Ueberlieferung, ſich ſollten erhalten haben. Und
doch iſt beydes durch die unleuͤgbareſten Beweiſe,
außer allen Zweifel geſezt. Wer nicht ſchon aus
dem innern Charakter dieſer Gedichte ſich uͤberzeu-
gen kann, daß ſie authentiſch ſind, wird keinen Zwei-
fel mehr dagegen behalten, nachdem er die Nach-
richten geleſen, die der Edimburgiſche Profeſſor Blais

ſeiner
(*) S.
Copey.
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[865[847]/0282] Ori Oßi Mit einem feinen Aug und Kenntnis der Ausuͤbung der Kunſt viel Werke der beruͤhmten Meiſter geſehen, und ſehr ofte nach allen Theilen der Bearbeitung unterſucht zu haben, giebt allerdings eine Fertigkeit die Originale, wo nicht allemal, doch meſtentheils zu kennen. Meiſter der Kunſt, die jede Kleinigkeit der Behandlung aus eigener Erfahrung kennen, ſind hierin die beſten Richter. Aber große Herren thun wol, um nicht betrogen zu werden, daß ſie bey Wer- ken von Wichtigkeit, allemal ein Mißtrauen in die Stuͤke ſezen, uͤber deren eigentliche Herkunft ſie nicht recht authentiſche Zeugniſſe haben. Aber iſt denn ſo ſehr viel daran gelegen, ein Ori- ginal zu beſizen? Und kann nicht eine Copey, wenn ſie ſo iſt, daß auch ein gutes Aug dabey betrogen wird, eben die Dienſte thun, als das Original? Nachdem man eine Abſicht bey Anſchaffung des Ge- maͤhldes hat. Es kann Copeyen geben, die mehr werth ſind, als halb verdorbene Originale. (*) Aber da jedes Original ein einzeles Werk iſt, das nicht vermehrt werden kann, ſo iſt auch ſein Preis nicht nach der Schaͤzung einer Copey zu beſtim- men, die ſo oft als man will, kann wiederholt wer- den. Dieſe hat einen beſtimmten, jenes einen un- beſtimmten Werth, und Niemand will, wenn es ſchon auf betraͤchtliche Summen ankommt, gern be- trogen ſeyn. Jn Bildergallerien, die dazu dienen ſollen, die Monumente zur Geſchichte der Kunſt aufzubewah- ren, iſt es hoͤchſt wichtig nichts als Originale zu ha- ben. Die Geſchicht der Kunſt ſelbſt, iſt ein wich- tiger Theil der Geſchicht des menſchlichen Genies, und da muß man nicht durch falſche Nachrichten betrogen werden. Die Frage, wie weit die Grie- chen und Roͤmer es in dieſem oder jenem Theil der ſchoͤnen, oder mechaniſchen. Kuͤnſte, und auch der Wiſſenſchaften gebracht haben, kann nur durch Ori- ginalwerke des Alterthums beantwortet werden. Man ſtreitet z. B. ob ſie die Wiſſenſchaft der Per- ſpektiv beſeßen, ob ſie Vergroͤßerungsglaͤſer gehabt, was fuͤr Jnſtrumente ſie gehabt haben, u. d. gl. Dergleichen Fragen aus Copeyen, oder andern neuern, aber vorgeblich alten Werken beantwortet, ver- breiten Unwahrheiten in einen wichtigen Theil der menſchlichen Kenntniſſe. Zum Studiren fuͤr den Kuͤnſtler, wenigſtens in Abſicht auf die Behandlung, und auch auf die Zeich- nung ſind die Originale großer Meiſter unendlich wichtiger, als die beſten Copeyen; denn die hoͤchſte Wahrheit und der groͤßte Nachdruk in Zeichnung und Farbe haͤngt ofte von kaum bemerkbaren Klei- nigkeiten ab, davon wenigſtens ein Theil in der Co- pey vermißt wird. Oßian. Ein alter brittiſcher Barde, deſſen Geſaͤnge in der alten galliſchen, oder celtiſchen Sprach viele Jahr- hunderte durch in Schottland, wo er in der zweyten Haͤlfte des dritten, und Anfangs des vierten Jahr- hunderts gelebt hat, durch muͤndliches Ueberliefern ſich ſo weit erhalten haben, daß der Schottlaͤnder Mac-Pherſon im Stande geweſen eine betraͤchtliche Sammlung davon zuſammen zu tragen, die Zuſam- mengehoͤrigen in Ordnung zu bringen, und in einer engliſchen Ueberſezung herauszugeben. Ob es gleich eine durch das Zeugnis manches alten Schriftſtellers ſehr bekannte Sache geweſen, daß bey den alten Galliern die Barden eine beſondere und anſehnliche Claſſe der Nation ausgemacht, deren oͤffentlicher Beruf es geweſen, die Heldenthaten ihrer und ver- gangener Zeiten in Liedern zu beſingen; ſo fiel Nie- manden ein zu vermuthen, daß ſolche Lieder ſich koͤnn- ten bis auf unſere Zeit erhalten haben. Man hielt ſie durchgehends fuͤr verlohren, und war auch ver- muthlich in der Meinung, daß die Geſchichte mehr als die Poeſie und der Geſchmak uͤberhaupt, dadurch verlohren haben mochten. Aber die Sammlung des Hrn. Macpherſons zeigte, wie ſehr beyde Vermuthungen der Wahr- heit entgegen ſind. Sie legte der Welt Gedichte von mancherley Art, von ſo großer Schoͤnheit, in ſolcher Menge und von ſolchem Alterthum vor Augen, daß gar viele dieſe außerordentliche Erſcheinung fuͤr einen Kunſtgriff des Betruges hielten. Es ſchien eben ſo unglaublich, daß unter einem Volke, das man fuͤr wild und barbariſch gehalten hatte, ein Dichter ſollte gelebt haben, der den groͤßten griechiſchen Dichtern den Rang koͤnnte ſtreitig machen; als daß ſeine Ge- dichte durch ſo viel Jahrhunderte, durch blos muͤnd- liche Ueberlieferung, ſich ſollten erhalten haben. Und doch iſt beydes durch die unleuͤgbareſten Beweiſe, außer allen Zweifel geſezt. Wer nicht ſchon aus dem innern Charakter dieſer Gedichte ſich uͤberzeu- gen kann, daß ſie authentiſch ſind, wird keinen Zwei- fel mehr dagegen behalten, nachdem er die Nach- richten geleſen, die der Edimburgiſche Profeſſor Blais ſeiner (*) S. Copey.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 865[847]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/282>, abgerufen am 29.04.2024.