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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Red
vornehm war, oder groß werden wollte, suchte sich
in der Beredsamkeit hervorzuthun, und dieses gab
den Philosophen Gelegenheit Schulen der Beredsam-
keit zu eröffnen. Darin wurd anfänglich nicht so-
wol die Kunst der Rede, als die Staaswissenschaft
und die Philosophie gelehret, die den künftigen Red-
nern Kenntnis der Materie, worüber sie zu reden,
und der Menschen, auf deren Gemüther sie Ein-
druk zu machen hatten, verschaften. Allmählig
aber wurden denn auch die dem Redner besonders
nöthigen Stüke, mit zum Unterricht gezogen. Und
nachdem endlich das Volk die Freyheit verlohren,
und man nicht mehr öffentlich über Staatsangele-
genheiten zu sprechen hatte, hielte sich die Rhetorik
vorzüglich bey der Kunst des zierlichen Ausdruks
auf. Man kann in dem III Buch des Quintilians
sehen, was für Männer in Griechenland, und her-
nach in Rom sich durch Schriften über diese Kunst,
am meisten hervorgethan haben.

Die Neuern haben die Theorie dieser Kunst ohn-
gefehr da gelassen, wo die Alten stille gestanden.
Wenigstens wüßte ich nicht, was für neuere Schrif-
ten ich einem, der den Cicero und Quintilian stu-
dirt hat, zum fernern Studium der Theorie, em-
pfehlen könnte.

Reden.
(Dichtkunst.)

Die Reden der handelnden Personen in der Epopöe,
und im Drama, die man insgemein Orationes mo-
ratas
nennt, weil sie die Sitten der Personen und
ihre Gesinnungen anzeigen, verdienen eine besondere
Betrachtung. Man muß aber nicht jede Rede der
handelnden Personen hieher rechnen; denn sonst ge-
hörte das ganze Drama hieher, weil es durchaus
aus Reden besteht, sondern nur die, wodurch die
Personen ihren Charakter und ihre besondere Sin-
nesart an den Tag legen, so daß man aus der Rede,
wenn man einmal die Personen kennte, abnehmen
könnte, welche von den handelnden Personen spricht.

Diese Reden machen den wichtigsten Theil der
Epopöe und des Drama aus; weil dadurch die
Personen nach ihren Sitten, ihrer Sinnesart, und ih-
rem ganzen Charakter am besten geschildert werden;
weil man aus diesen Reden erkennt, was jeder ist. Jn
der Jlias ist, wie Pope anmerkt, die Anzahl der
Verse, da der Dichter spricht, oder erzählt, sehr
gering; den größten Theil des Gedichts machen die
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Red
Reden aus. Deswegen siehet Aristoteles sie als ei-
nen Haupttheil dieser Gedichte an, und hält sich
weitläuftig bey ihrer Betrachtung auf. Eigentlich
zeiget der Dichter sich dadurch als einen Kenner der
Menschen, weil das innerste ihres Charakters am
besten durch die Reden geschildert wird. Wenn man
alle Reden einer der Hauptpersonen des Gedichtes
zusammennihmt, so müssen sie ein sehr genaues Por-
trait des eigenthümlichen Charakters derselben aus-
machen. Die Handlungen lassen uns die Menschen
nur noch von außen sehen, ob man gleich auch durch
dieses Aeußerliche in die Seelen hineinsehen kann:
aber durch die Reden kann der Dichter uns unmit-
telbar das Jnnere sehen und empfinden lassen.

Aus diesem Gesichtspunkt müssen wir die Reden
der handelnden Personen ansehen. Alsdenn ist offen-
bar, daß sie den wichtigsten Theil der Epopöe und
des Drama ausmachen, auf welchen der Dichter
die größte Sorgfalt wenden muß. Die Fabel zu er-
finden, verschiedene Verwiklungen, mannigfaltige
Begebenheiten und Vorfälle auszudenken, wodurch
der Zuhörer, oder Zuschauer in beständiger Aufmerk-
samkeit erhalten, izt in große Erwartung gesezt,
denn angenehm überrascht wird; dieses ist nur der
geringste Theil dessen, was der Dichter wissen muß,
und was für uns am wenigsten lehrreich ist. Weit
wichtiger für uns, und schweerer für den Dichter ist
es, bey allen Vorfällen, und in jeder Lage der Sa-
chen, die Personen durch das, was sie dabey den-
ken, empfinden und beschließen, auf eine wahrhafte,
natürliche Weise, völlig kennbar zu schildern.

Der Philosoph giebt uns allgemeine Kenntnis des
Menschen; er entwikelt uns das Genie, alle Eigen-
schaften, Reigungen, Leidenschaften, zeiget uns
jede Triebfeder, und entwikelt jede Falte der Seele,
in so weit alle diese Dinge den Menschen gemein
sind. Der Dichter aber zeiget uns die besondere
Beschaffenheit dieser allgemeinen Eigenschaften, wie
sie im Achilles, im Hektor, im Ajax sind, und wie
sie sich bey besonderen Gelegenheiten äußern. Der
Dichter der Epopöe und des Drama ist nur in so
fern groß, als er in diesem Theil vorzüglich ist.
Schweerlich ist ein Dichter hierin dem Homer zu
vergleichen, und in diesem Stük ist Virgil, wie Po-
pe bemerkt, erstaunlich weit unter ihm. Jn der That
finden wir gar viel Reden bey diesem Dichter, die
so wenig besonderes Charakteristisches haben, daß

ohn-

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Red
vornehm war, oder groß werden wollte, ſuchte ſich
in der Beredſamkeit hervorzuthun, und dieſes gab
den Philoſophen Gelegenheit Schulen der Beredſam-
keit zu eroͤffnen. Darin wurd anfaͤnglich nicht ſo-
wol die Kunſt der Rede, als die Staaswiſſenſchaft
und die Philoſophie gelehret, die den kuͤnftigen Red-
nern Kenntnis der Materie, woruͤber ſie zu reden,
und der Menſchen, auf deren Gemuͤther ſie Ein-
druk zu machen hatten, verſchaften. Allmaͤhlig
aber wurden denn auch die dem Redner beſonders
noͤthigen Stuͤke, mit zum Unterricht gezogen. Und
nachdem endlich das Volk die Freyheit verlohren,
und man nicht mehr oͤffentlich uͤber Staatsangele-
genheiten zu ſprechen hatte, hielte ſich die Rhetorik
vorzuͤglich bey der Kunſt des zierlichen Ausdruks
auf. Man kann in dem III Buch des Quintilians
ſehen, was fuͤr Maͤnner in Griechenland, und her-
nach in Rom ſich durch Schriften uͤber dieſe Kunſt,
am meiſten hervorgethan haben.

Die Neuern haben die Theorie dieſer Kunſt ohn-
gefehr da gelaſſen, wo die Alten ſtille geſtanden.
Wenigſtens wuͤßte ich nicht, was fuͤr neuere Schrif-
ten ich einem, der den Cicero und Quintilian ſtu-
dirt hat, zum fernern Studium der Theorie, em-
pfehlen koͤnnte.

Reden.
(Dichtkunſt.)

Die Reden der handelnden Perſonen in der Epopoͤe,
und im Drama, die man insgemein Orationes mo-
ratas
nennt, weil ſie die Sitten der Perſonen und
ihre Geſinnungen anzeigen, verdienen eine beſondere
Betrachtung. Man muß aber nicht jede Rede der
handelnden Perſonen hieher rechnen; denn ſonſt ge-
hoͤrte das ganze Drama hieher, weil es durchaus
aus Reden beſteht, ſondern nur die, wodurch die
Perſonen ihren Charakter und ihre beſondere Sin-
nesart an den Tag legen, ſo daß man aus der Rede,
wenn man einmal die Perſonen kennte, abnehmen
koͤnnte, welche von den handelnden Perſonen ſpricht.

Dieſe Reden machen den wichtigſten Theil der
Epopoͤe und des Drama aus; weil dadurch die
Perſonen nach ihren Sitten, ihrer Sinnesart, und ih-
rem ganzen Charakter am beſten geſchildert werden;
weil man aus dieſen Reden erkennt, was jeder iſt. Jn
der Jlias iſt, wie Pope anmerkt, die Anzahl der
Verſe, da der Dichter ſpricht, oder erzaͤhlt, ſehr
gering; den groͤßten Theil des Gedichts machen die
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Red
Reden aus. Deswegen ſiehet Ariſtoteles ſie als ei-
nen Haupttheil dieſer Gedichte an, und haͤlt ſich
weitlaͤuftig bey ihrer Betrachtung auf. Eigentlich
zeiget der Dichter ſich dadurch als einen Kenner der
Menſchen, weil das innerſte ihres Charakters am
beſten durch die Reden geſchildert wird. Wenn man
alle Reden einer der Hauptperſonen des Gedichtes
zuſammennihmt, ſo muͤſſen ſie ein ſehr genaues Por-
trait des eigenthuͤmlichen Charakters derſelben aus-
machen. Die Handlungen laſſen uns die Menſchen
nur noch von außen ſehen, ob man gleich auch durch
dieſes Aeußerliche in die Seelen hineinſehen kann:
aber durch die Reden kann der Dichter uns unmit-
telbar das Jnnere ſehen und empfinden laſſen.

Aus dieſem Geſichtspunkt muͤſſen wir die Reden
der handelnden Perſonen anſehen. Alsdenn iſt offen-
bar, daß ſie den wichtigſten Theil der Epopoͤe und
des Drama ausmachen, auf welchen der Dichter
die groͤßte Sorgfalt wenden muß. Die Fabel zu er-
finden, verſchiedene Verwiklungen, mannigfaltige
Begebenheiten und Vorfaͤlle auszudenken, wodurch
der Zuhoͤrer, oder Zuſchauer in beſtaͤndiger Aufmerk-
ſamkeit erhalten, izt in große Erwartung geſezt,
denn angenehm uͤberraſcht wird; dieſes iſt nur der
geringſte Theil deſſen, was der Dichter wiſſen muß,
und was fuͤr uns am wenigſten lehrreich iſt. Weit
wichtiger fuͤr uns, und ſchweerer fuͤr den Dichter iſt
es, bey allen Vorfaͤllen, und in jeder Lage der Sa-
chen, die Perſonen durch das, was ſie dabey den-
ken, empfinden und beſchließen, auf eine wahrhafte,
natuͤrliche Weiſe, voͤllig kennbar zu ſchildern.

Der Philoſoph giebt uns allgemeine Kenntnis des
Menſchen; er entwikelt uns das Genie, alle Eigen-
ſchaften, Reigungen, Leidenſchaften, zeiget uns
jede Triebfeder, und entwikelt jede Falte der Seele,
in ſo weit alle dieſe Dinge den Menſchen gemein
ſind. Der Dichter aber zeiget uns die beſondere
Beſchaffenheit dieſer allgemeinen Eigenſchaften, wie
ſie im Achilles, im Hektor, im Ajax ſind, und wie
ſie ſich bey beſonderen Gelegenheiten aͤußern. Der
Dichter der Epopoͤe und des Drama iſt nur in ſo
fern groß, als er in dieſem Theil vorzuͤglich iſt.
Schweerlich iſt ein Dichter hierin dem Homer zu
vergleichen, und in dieſem Stuͤk iſt Virgil, wie Po-
pe bemerkt, erſtaunlich weit unter ihm. Jn der That
finden wir gar viel Reden bey dieſem Dichter, die
ſo wenig beſonderes Charakteriſtiſches haben, daß

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[962[944]/0391] Red Red vornehm war, oder groß werden wollte, ſuchte ſich in der Beredſamkeit hervorzuthun, und dieſes gab den Philoſophen Gelegenheit Schulen der Beredſam- keit zu eroͤffnen. Darin wurd anfaͤnglich nicht ſo- wol die Kunſt der Rede, als die Staaswiſſenſchaft und die Philoſophie gelehret, die den kuͤnftigen Red- nern Kenntnis der Materie, woruͤber ſie zu reden, und der Menſchen, auf deren Gemuͤther ſie Ein- druk zu machen hatten, verſchaften. Allmaͤhlig aber wurden denn auch die dem Redner beſonders noͤthigen Stuͤke, mit zum Unterricht gezogen. Und nachdem endlich das Volk die Freyheit verlohren, und man nicht mehr oͤffentlich uͤber Staatsangele- genheiten zu ſprechen hatte, hielte ſich die Rhetorik vorzuͤglich bey der Kunſt des zierlichen Ausdruks auf. Man kann in dem III Buch des Quintilians ſehen, was fuͤr Maͤnner in Griechenland, und her- nach in Rom ſich durch Schriften uͤber dieſe Kunſt, am meiſten hervorgethan haben. Die Neuern haben die Theorie dieſer Kunſt ohn- gefehr da gelaſſen, wo die Alten ſtille geſtanden. Wenigſtens wuͤßte ich nicht, was fuͤr neuere Schrif- ten ich einem, der den Cicero und Quintilian ſtu- dirt hat, zum fernern Studium der Theorie, em- pfehlen koͤnnte. Reden. (Dichtkunſt.) Die Reden der handelnden Perſonen in der Epopoͤe, und im Drama, die man insgemein Orationes mo- ratas nennt, weil ſie die Sitten der Perſonen und ihre Geſinnungen anzeigen, verdienen eine beſondere Betrachtung. Man muß aber nicht jede Rede der handelnden Perſonen hieher rechnen; denn ſonſt ge- hoͤrte das ganze Drama hieher, weil es durchaus aus Reden beſteht, ſondern nur die, wodurch die Perſonen ihren Charakter und ihre beſondere Sin- nesart an den Tag legen, ſo daß man aus der Rede, wenn man einmal die Perſonen kennte, abnehmen koͤnnte, welche von den handelnden Perſonen ſpricht. Dieſe Reden machen den wichtigſten Theil der Epopoͤe und des Drama aus; weil dadurch die Perſonen nach ihren Sitten, ihrer Sinnesart, und ih- rem ganzen Charakter am beſten geſchildert werden; weil man aus dieſen Reden erkennt, was jeder iſt. Jn der Jlias iſt, wie Pope anmerkt, die Anzahl der Verſe, da der Dichter ſpricht, oder erzaͤhlt, ſehr gering; den groͤßten Theil des Gedichts machen die Reden aus. Deswegen ſiehet Ariſtoteles ſie als ei- nen Haupttheil dieſer Gedichte an, und haͤlt ſich weitlaͤuftig bey ihrer Betrachtung auf. Eigentlich zeiget der Dichter ſich dadurch als einen Kenner der Menſchen, weil das innerſte ihres Charakters am beſten durch die Reden geſchildert wird. Wenn man alle Reden einer der Hauptperſonen des Gedichtes zuſammennihmt, ſo muͤſſen ſie ein ſehr genaues Por- trait des eigenthuͤmlichen Charakters derſelben aus- machen. Die Handlungen laſſen uns die Menſchen nur noch von außen ſehen, ob man gleich auch durch dieſes Aeußerliche in die Seelen hineinſehen kann: aber durch die Reden kann der Dichter uns unmit- telbar das Jnnere ſehen und empfinden laſſen. Aus dieſem Geſichtspunkt muͤſſen wir die Reden der handelnden Perſonen anſehen. Alsdenn iſt offen- bar, daß ſie den wichtigſten Theil der Epopoͤe und des Drama ausmachen, auf welchen der Dichter die groͤßte Sorgfalt wenden muß. Die Fabel zu er- finden, verſchiedene Verwiklungen, mannigfaltige Begebenheiten und Vorfaͤlle auszudenken, wodurch der Zuhoͤrer, oder Zuſchauer in beſtaͤndiger Aufmerk- ſamkeit erhalten, izt in große Erwartung geſezt, denn angenehm uͤberraſcht wird; dieſes iſt nur der geringſte Theil deſſen, was der Dichter wiſſen muß, und was fuͤr uns am wenigſten lehrreich iſt. Weit wichtiger fuͤr uns, und ſchweerer fuͤr den Dichter iſt es, bey allen Vorfaͤllen, und in jeder Lage der Sa- chen, die Perſonen durch das, was ſie dabey den- ken, empfinden und beſchließen, auf eine wahrhafte, natuͤrliche Weiſe, voͤllig kennbar zu ſchildern. Der Philoſoph giebt uns allgemeine Kenntnis des Menſchen; er entwikelt uns das Genie, alle Eigen- ſchaften, Reigungen, Leidenſchaften, zeiget uns jede Triebfeder, und entwikelt jede Falte der Seele, in ſo weit alle dieſe Dinge den Menſchen gemein ſind. Der Dichter aber zeiget uns die beſondere Beſchaffenheit dieſer allgemeinen Eigenſchaften, wie ſie im Achilles, im Hektor, im Ajax ſind, und wie ſie ſich bey beſonderen Gelegenheiten aͤußern. Der Dichter der Epopoͤe und des Drama iſt nur in ſo fern groß, als er in dieſem Theil vorzuͤglich iſt. Schweerlich iſt ein Dichter hierin dem Homer zu vergleichen, und in dieſem Stuͤk iſt Virgil, wie Po- pe bemerkt, erſtaunlich weit unter ihm. Jn der That finden wir gar viel Reden bey dieſem Dichter, die ſo wenig beſonderes Charakteriſtiſches haben, daß ohn-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 962[944]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/391>, abgerufen am 29.04.2024.