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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Red
ohngefähr jeder andere Mensch in ähnlichen Umstän-
den so sprechen würde, wie seine Personen.

Was Aristoteles fodert, daß jede Rede dem Alter,
Stand, Rang, den Geschäften und Absichten der
Personen angemessen seyn müsse, und was Horaz
sehr lebhaft lehret, wenn er sagt:

Si dicentis erunt fortunis absona dicta u. s. w. (*)

ist noch das wenigste und leichteste. Das schwee-
reste ist bey allem diesem noch das Eigenthümliche
des Charakters zu treffen. Hiezu gehört nicht nur
ein großer Scharfsinn, der jeden Zug der besondern
Charaktere der Menschen bemerkt, sondern auch hin-
längliche Erfahrung und Kenntnis der Menschen.
Deswegen erkennet man durchgehends die beyden
Dichtarten, wo dergleichen Reden vorkommen, für
das Höchste der Poesie. Man darf sich gar nicht
wundern, daß ein gutes Heldengedicht von einiger
Größe das selienste Werk des menschlichen Genies
ist, und das die Nationen, die dergleichen in ihrer
Sprache besizen, stolz darauf sind. Das Drama
bekommt eben daher seine größte Schwierigkeit, ob
sie gleich wegen der weit engern Schranken der
Handlung und der geringen Anzahl der Personen,
bey weitem so groß nicht ist, wie in der Epopöe.
Jnzwischen betrügen sich doch diejenigen gar sehr,
denen die Verfertigung eines guten Drama, ein
Werk von mittelmäßiger Schwierigkeit scheinet. Ein
guter Dichter, in welcher Art es sey, ist immer ein
Mann von Gaben, die eben nicht gemein sind: aber
wer darum, daß er in geringern Dichtungsarten
glüklich gewesen, sich in die Classe der Homere, und
der Sophokles sezen wollte, würde einen gänzlichen
Mangel der Urtheilskrast verrathen.

Redende Künste.

Man verstehet unter dieser allgemeinen Benennung
die Wolredenheit, Beredsamkeit und Dichtkunst.
Einige scheinen auch die Kunst des Geschichtschreibens
dazu zu rechnen, die in der That wichtig genug ist,
um als ein besonderer Zweyg der redenden Künste
behandelt zu werden, nicht in so fern die Frage dar-
über ist, was ein Geschichtschreiber sagen soll, denn
dieses macht eine besondere Wissenschaft aus; son-
dern in so fern untersucht wird, wie er erzählen soll.
Zwar könnte man sagen, daß die alten Lehrer der
Redner die Kunst des Geschichtschreibers bereits in
der Rhetorik behandelt haben. Denn da in ihren
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Red
gerichtlichen Reden, über welche sie vorzüglich ge-
schrieben haben, ein Haupttheil vorkommt, den die
römischen Redner Narratio, die Erzählung nen-
nen (*), so haben sie eben dadurch schon Unterricht
über dem erzählenden Vortrag gegeben. Allein, die
Art wie der gerichtliche Redner die Erzählung be-
handelt, ist, wie bereits anderswo erinnert wor-
den (*) von der Art des Geschichtschreibers in einem
wesentlichen Punkt völlig verschieden. Der Reduer
erzählt so partheyisch, als möglich, und der Geschicht-
schreiber soll völlig unpartheyisch erzählen. Es ist
ein Hauptkunstgriff des Redners, daß er, wenn er
auch bey der völligen historischen Wahrheit bleibet,
den Sachen durch einen entschuldigenden, oder be-
schuldigenden Ausdruk, den Anstrich giebt, den sein
Zwek erfodert, wie wir in allen gerichtlichen Erzäh-
lungen des Cicero sehr deutlich sehen.

Man kann also nicht sagen, daß die Lehren der
Rhetoriker, über die Erzählung, auch Lehren für
den Geschichtschreiber seyen. Daher scheinet es al-
lerdings, daß der historische Vortrag, als ein be-
sonderer Zweyg der redenden Künste anzusehen sey,
der besonders in Deutschland, wo die gerichtlichen
Reden, mithin auch die Anweisungen dazu beynahe
ganz in Abgang gekommen sind, sehr verdiente be-
sonders behandelt zu werden. Alsdenn müßte man
zu den zwey Theilen der Rhetorik davon im Artikel
Redekunst gesprochen worden, noch einen dritten
Theil, der die Theorie des historischen Vortrages
enthielte, hinzuthun. Wir haben auch in der That
schon etwas von dieser Art in der fürtreflichen Ab-
handlung des Lucianus, wie die Historie zu schrei-
ben sey.

Daß die redenden Künste überhaupt in Absicht
auf den Nuzen den ersten Rang unter den schönen
Künsten behaupten, ist bereits an mehr Orten die-
ses Werks hinlänglich gezeiget worden, (*) und es
würde unnöthige Wiederholung seyn, wenn ich die-
ses hier besonders ausführen wollte. Aber ein be-
sonderer Nuzen den man daraus zieht, ob sie ihn
gleich nicht unmittelbar zum Zwek haben, verdienet
hier in Erwägung genommen zu werden.

Wenn wir die besondern Materien, wovon Red-
ner oder Dichter bey besondern Gelegenheiten spre-
chen, ganz auf die Seite sezen, und die redenden
Künste blos aus dem Gesichtspunkt betrachten, daß
sie dienen die Kunst der Rede überhaupt vollkom-
mener zu machen, so erscheinen sie uns da in einer

sehr
(*) de Art.
Poet. vs.
111. seqq.
(*) S.
Rede.
(*) S.
Erzählung.
(*) S.
Künste;
Beredsam,
keit; Dicht-
kunst.
Zweyter Theil. D d d d d d

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Red
ohngefaͤhr jeder andere Menſch in aͤhnlichen Umſtaͤn-
den ſo ſprechen wuͤrde, wie ſeine Perſonen.

Was Ariſtoteles fodert, daß jede Rede dem Alter,
Stand, Rang, den Geſchaͤften und Abſichten der
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ſehr lebhaft lehret, wenn er ſagt:

Si dicentis erunt fortunis abſona dicta u. ſ. w. (*)

iſt noch das wenigſte und leichteſte. Das ſchwee-
reſte iſt bey allem dieſem noch das Eigenthuͤmliche
des Charakters zu treffen. Hiezu gehoͤrt nicht nur
ein großer Scharfſinn, der jeden Zug der beſondern
Charaktere der Menſchen bemerkt, ſondern auch hin-
laͤngliche Erfahrung und Kenntnis der Menſchen.
Deswegen erkennet man durchgehends die beyden
Dichtarten, wo dergleichen Reden vorkommen, fuͤr
das Hoͤchſte der Poeſie. Man darf ſich gar nicht
wundern, daß ein gutes Heldengedicht von einiger
Groͤße das ſelienſte Werk des menſchlichen Genies
iſt, und das die Nationen, die dergleichen in ihrer
Sprache beſizen, ſtolz darauf ſind. Das Drama
bekommt eben daher ſeine groͤßte Schwierigkeit, ob
ſie gleich wegen der weit engern Schranken der
Handlung und der geringen Anzahl der Perſonen,
bey weitem ſo groß nicht iſt, wie in der Epopoͤe.
Jnzwiſchen betruͤgen ſich doch diejenigen gar ſehr,
denen die Verfertigung eines guten Drama, ein
Werk von mittelmaͤßiger Schwierigkeit ſcheinet. Ein
guter Dichter, in welcher Art es ſey, iſt immer ein
Mann von Gaben, die eben nicht gemein ſind: aber
wer darum, daß er in geringern Dichtungsarten
gluͤklich geweſen, ſich in die Claſſe der Homere, und
der Sophokles ſezen wollte, wuͤrde einen gaͤnzlichen
Mangel der Urtheilskraſt verrathen.

Redende Kuͤnſte.

Man verſtehet unter dieſer allgemeinen Benennung
die Wolredenheit, Beredſamkeit und Dichtkunſt.
Einige ſcheinen auch die Kunſt des Geſchichtſchreibens
dazu zu rechnen, die in der That wichtig genug iſt,
um als ein beſonderer Zweyg der redenden Kuͤnſte
behandelt zu werden, nicht in ſo fern die Frage dar-
uͤber iſt, was ein Geſchichtſchreiber ſagen ſoll, denn
dieſes macht eine beſondere Wiſſenſchaft aus; ſon-
dern in ſo fern unterſucht wird, wie er erzaͤhlen ſoll.
Zwar koͤnnte man ſagen, daß die alten Lehrer der
Redner die Kunſt des Geſchichtſchreibers bereits in
der Rhetorik behandelt haben. Denn da in ihren
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Red
gerichtlichen Reden, uͤber welche ſie vorzuͤglich ge-
ſchrieben haben, ein Haupttheil vorkommt, den die
roͤmiſchen Redner Narratio, die Erzaͤhlung nen-
nen (*), ſo haben ſie eben dadurch ſchon Unterricht
uͤber dem erzaͤhlenden Vortrag gegeben. Allein, die
Art wie der gerichtliche Redner die Erzaͤhlung be-
handelt, iſt, wie bereits anderswo erinnert wor-
den (*) von der Art des Geſchichtſchreibers in einem
weſentlichen Punkt voͤllig verſchieden. Der Reduer
erzaͤhlt ſo partheyiſch, als moͤglich, und der Geſchicht-
ſchreiber ſoll voͤllig unpartheyiſch erzaͤhlen. Es iſt
ein Hauptkunſtgriff des Redners, daß er, wenn er
auch bey der voͤlligen hiſtoriſchen Wahrheit bleibet,
den Sachen durch einen entſchuldigenden, oder be-
ſchuldigenden Ausdruk, den Anſtrich giebt, den ſein
Zwek erfodert, wie wir in allen gerichtlichen Erzaͤh-
lungen des Cicero ſehr deutlich ſehen.

Man kann alſo nicht ſagen, daß die Lehren der
Rhetoriker, uͤber die Erzaͤhlung, auch Lehren fuͤr
den Geſchichtſchreiber ſeyen. Daher ſcheinet es al-
lerdings, daß der hiſtoriſche Vortrag, als ein be-
ſonderer Zweyg der redenden Kuͤnſte anzuſehen ſey,
der beſonders in Deutſchland, wo die gerichtlichen
Reden, mithin auch die Anweiſungen dazu beynahe
ganz in Abgang gekommen ſind, ſehr verdiente be-
ſonders behandelt zu werden. Alsdenn muͤßte man
zu den zwey Theilen der Rhetorik davon im Artikel
Redekunſt geſprochen worden, noch einen dritten
Theil, der die Theorie des hiſtoriſchen Vortrages
enthielte, hinzuthun. Wir haben auch in der That
ſchon etwas von dieſer Art in der fuͤrtreflichen Ab-
handlung des Lucianus, wie die Hiſtorie zu ſchrei-
ben ſey.

Daß die redenden Kuͤnſte uͤberhaupt in Abſicht
auf den Nuzen den erſten Rang unter den ſchoͤnen
Kuͤnſten behaupten, iſt bereits an mehr Orten die-
ſes Werks hinlaͤnglich gezeiget worden, (*) und es
wuͤrde unnoͤthige Wiederholung ſeyn, wenn ich die-
ſes hier beſonders ausfuͤhren wollte. Aber ein be-
ſonderer Nuzen den man daraus zieht, ob ſie ihn
gleich nicht unmittelbar zum Zwek haben, verdienet
hier in Erwaͤgung genommen zu werden.

Wenn wir die beſondern Materien, wovon Red-
ner oder Dichter bey beſondern Gelegenheiten ſpre-
chen, ganz auf die Seite ſezen, und die redenden
Kuͤnſte blos aus dem Geſichtspunkt betrachten, daß
ſie dienen die Kunſt der Rede uͤberhaupt vollkom-
mener zu machen, ſo erſcheinen ſie uns da in einer

ſehr
(*) de Art.
Poet. vs.
111. ſeqq.
(*) S.
Rede.
(*) S.
Erzaͤhlung.
(*) S.
Kuͤnſte;
Beredſam,
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kunſt.
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[963[945]/0392] Red Red ohngefaͤhr jeder andere Menſch in aͤhnlichen Umſtaͤn- den ſo ſprechen wuͤrde, wie ſeine Perſonen. Was Ariſtoteles fodert, daß jede Rede dem Alter, Stand, Rang, den Geſchaͤften und Abſichten der Perſonen angemeſſen ſeyn muͤſſe, und was Horaz ſehr lebhaft lehret, wenn er ſagt: Si dicentis erunt fortunis abſona dicta u. ſ. w. (*) iſt noch das wenigſte und leichteſte. Das ſchwee- reſte iſt bey allem dieſem noch das Eigenthuͤmliche des Charakters zu treffen. Hiezu gehoͤrt nicht nur ein großer Scharfſinn, der jeden Zug der beſondern Charaktere der Menſchen bemerkt, ſondern auch hin- laͤngliche Erfahrung und Kenntnis der Menſchen. Deswegen erkennet man durchgehends die beyden Dichtarten, wo dergleichen Reden vorkommen, fuͤr das Hoͤchſte der Poeſie. Man darf ſich gar nicht wundern, daß ein gutes Heldengedicht von einiger Groͤße das ſelienſte Werk des menſchlichen Genies iſt, und das die Nationen, die dergleichen in ihrer Sprache beſizen, ſtolz darauf ſind. Das Drama bekommt eben daher ſeine groͤßte Schwierigkeit, ob ſie gleich wegen der weit engern Schranken der Handlung und der geringen Anzahl der Perſonen, bey weitem ſo groß nicht iſt, wie in der Epopoͤe. Jnzwiſchen betruͤgen ſich doch diejenigen gar ſehr, denen die Verfertigung eines guten Drama, ein Werk von mittelmaͤßiger Schwierigkeit ſcheinet. Ein guter Dichter, in welcher Art es ſey, iſt immer ein Mann von Gaben, die eben nicht gemein ſind: aber wer darum, daß er in geringern Dichtungsarten gluͤklich geweſen, ſich in die Claſſe der Homere, und der Sophokles ſezen wollte, wuͤrde einen gaͤnzlichen Mangel der Urtheilskraſt verrathen. Redende Kuͤnſte. Man verſtehet unter dieſer allgemeinen Benennung die Wolredenheit, Beredſamkeit und Dichtkunſt. Einige ſcheinen auch die Kunſt des Geſchichtſchreibens dazu zu rechnen, die in der That wichtig genug iſt, um als ein beſonderer Zweyg der redenden Kuͤnſte behandelt zu werden, nicht in ſo fern die Frage dar- uͤber iſt, was ein Geſchichtſchreiber ſagen ſoll, denn dieſes macht eine beſondere Wiſſenſchaft aus; ſon- dern in ſo fern unterſucht wird, wie er erzaͤhlen ſoll. Zwar koͤnnte man ſagen, daß die alten Lehrer der Redner die Kunſt des Geſchichtſchreibers bereits in der Rhetorik behandelt haben. Denn da in ihren gerichtlichen Reden, uͤber welche ſie vorzuͤglich ge- ſchrieben haben, ein Haupttheil vorkommt, den die roͤmiſchen Redner Narratio, die Erzaͤhlung nen- nen (*), ſo haben ſie eben dadurch ſchon Unterricht uͤber dem erzaͤhlenden Vortrag gegeben. Allein, die Art wie der gerichtliche Redner die Erzaͤhlung be- handelt, iſt, wie bereits anderswo erinnert wor- den (*) von der Art des Geſchichtſchreibers in einem weſentlichen Punkt voͤllig verſchieden. Der Reduer erzaͤhlt ſo partheyiſch, als moͤglich, und der Geſchicht- ſchreiber ſoll voͤllig unpartheyiſch erzaͤhlen. Es iſt ein Hauptkunſtgriff des Redners, daß er, wenn er auch bey der voͤlligen hiſtoriſchen Wahrheit bleibet, den Sachen durch einen entſchuldigenden, oder be- ſchuldigenden Ausdruk, den Anſtrich giebt, den ſein Zwek erfodert, wie wir in allen gerichtlichen Erzaͤh- lungen des Cicero ſehr deutlich ſehen. Man kann alſo nicht ſagen, daß die Lehren der Rhetoriker, uͤber die Erzaͤhlung, auch Lehren fuͤr den Geſchichtſchreiber ſeyen. Daher ſcheinet es al- lerdings, daß der hiſtoriſche Vortrag, als ein be- ſonderer Zweyg der redenden Kuͤnſte anzuſehen ſey, der beſonders in Deutſchland, wo die gerichtlichen Reden, mithin auch die Anweiſungen dazu beynahe ganz in Abgang gekommen ſind, ſehr verdiente be- ſonders behandelt zu werden. Alsdenn muͤßte man zu den zwey Theilen der Rhetorik davon im Artikel Redekunſt geſprochen worden, noch einen dritten Theil, der die Theorie des hiſtoriſchen Vortrages enthielte, hinzuthun. Wir haben auch in der That ſchon etwas von dieſer Art in der fuͤrtreflichen Ab- handlung des Lucianus, wie die Hiſtorie zu ſchrei- ben ſey. Daß die redenden Kuͤnſte uͤberhaupt in Abſicht auf den Nuzen den erſten Rang unter den ſchoͤnen Kuͤnſten behaupten, iſt bereits an mehr Orten die- ſes Werks hinlaͤnglich gezeiget worden, (*) und es wuͤrde unnoͤthige Wiederholung ſeyn, wenn ich die- ſes hier beſonders ausfuͤhren wollte. Aber ein be- ſonderer Nuzen den man daraus zieht, ob ſie ihn gleich nicht unmittelbar zum Zwek haben, verdienet hier in Erwaͤgung genommen zu werden. Wenn wir die beſondern Materien, wovon Red- ner oder Dichter bey beſondern Gelegenheiten ſpre- chen, ganz auf die Seite ſezen, und die redenden Kuͤnſte blos aus dem Geſichtspunkt betrachten, daß ſie dienen die Kunſt der Rede uͤberhaupt vollkom- mener zu machen, ſo erſcheinen ſie uns da in einer ſehr (*) de Art. Poet. vs. 111. ſeqq. (*) S. Rede. (*) S. Erzaͤhlung. (*) S. Kuͤnſte; Beredſam, keit; Dicht- kunſt. Zweyter Theil. D d d d d d

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 963[945]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/392>, abgerufen am 29.04.2024.