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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ron Rüh
lung natürlich, und alsdenn kann das Rondeau ein
sehr angenehmes kleines Gedicht seyn." (*)

Der Tonsezer, wählt nach dem Jnhalt eine gera-
de, oder ungerade Taktart, von geschwinder oder
langsamer Bewegung für den ersten Theil der Stro-
phen. Für den zweyten Theil macht er, nach Be-
schaffenheit des Rondeau eine, oder mehrere Melo-
dien in verschiedenen mit dem Tone des ersten Theils
verwandten Tonarten. Jn beyden Theilen muß die
Modulation so beschaffen seyn, daß der Schluß des
ersten Theiles auf den Anfang jedes andern, und
der Schluß jedes zweyten Theiles auf den Anfang
des ersten immer passe.

Rührend.
(Schöne Künste.)

Eigentlich wird alles, was leidenschaftliche Em-
pfindung erwekt, rührend genennt, und in diesem
allgemeinen Sinne wird das Wort in dem folgen-
den Artikel genommen; hier aber halten wir uns
bey der besondern Bedeutung desselben auf, nach
welcher es blos von dem genommen wird, was
sanft eindringende und stillere Leidenschaften, Zärt-
lichkeit, stille Traurigkeit, sanfte Freude u. d. gl.
erweket. Denn in diesem Sinne wird es genom-
men, wenn man von Gedichten, von Auftritten,
von Geschichten sagt, sie seyen rührend.

Diese Art des Leidenschaftlichen ist in den schönen
Künsten von dem allgemeinesten und ausgedähnte-
sten Gebrauche. Der Künstler, der blos zu gefallen
sucht, erreicht seinen Endzwek am sichersten, durch
einen rührenden Stoff; weil kein andrer so durch-
gehenden und allgemeinen Beyfall gewinnt. Jeder
Stand, jedes Alter, und bald jeder Charakter der
Menschen findet in zärtlichen und sanften Leiden-
schaften eine Wollust; und für einen Menschen, der
vorzüglich das Große, das sehr Pathetische, liebt,
findet man zwanzig, denen das Rührende mehr ge-
fällt. Es ist nur wenigen Menschen gegeben
an Wahrheit, Vollkommenheit, und Größe, Nah-
rung für den Geist, oder für das Herz zu finden;
fast alle finden sie in dem Rührenden. Man wird
in dem dramatischen Schauspiehl allezeit wahrneh-
men, daß rührende Scenen alle Logen und alle Bänke
in Bewegung sezen, da bey viel andern Scenen von
großer Schönheit, ein Theil der Zuhörer ziemlich
kalt und ruhig bleibt. Neben dem Vortheil des all-
gemeinesten Beyfalles, hat es noch den, daß es am
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Rüh
leichtesten zu erreichen ist; in dem nicht selten auch
mittelmäßige Künstler darin glüklich sind.

Wie aber die angenehmesten Speisen weder die
gesundesten noch die nahrhaftesten sind, so ist auch
das Rührende deswegen, weil es am meisten gefällt,
nicht eben die schäzbareste Art des Stoffs zu Wer-
ken der schönen Kunst. Man kann überhaupt dar-
auf anwenden, was wir im Artikel Mitleiden über
den traurigen Stoff gesagt haben. Dem Menschen
dessen Herz den sanftern Leidenschaften verschlossen
ist, fehlet in der That sowol zum Genuß des Lebens,
als zur nüzlichen Würksamkeit, etwas Wesentliches;
er ist der süßesten Wollust beraubt; zu mancher wich-
tigen Pflicht, mangelt es ihm an Beweggrund, und
bey mancher Gelegenheit versäumet er aus Mangel
des Antriebes, Gutes zu thun. Aber der, den
nichts angreift, als was sanft rühret, kann leicht
in einen weichlichen Wollüstling, in einen schwa-
chen zu jeder wichtigen That unfähigen Menschen
ausarten. Diese Betrachtungen sind für den Künst-
ler, der um die beste Anwendung seiner Talente be-
sorgt ist, von Wichtigkeit. Vorzüglich sind sie den
dramatischen Dichtern und Romanenschreibern zu
empfehlen, weil ihre Werke sich am weitesten in das
Publicum verbreiten. Es ist leichter die Menschen zu
verzärteln, als ihnen überlegende Vernunft, Stärke
des Geistes und Herzens, Standhaftigkeit und Größe
einzuflößen. Darum ist es nicht gut, wenn der
Geschmak am Rührenden so die Oberhand gewinnt,
daß er beynahe ein ausschließendes Recht auf die
Schaubühne und auf die Romane bekommt. Man
thut wol, wenn man auch hierin die Alten zum
Muster nihmt, bey denen das Rührende nie herr-
schend worden, und sich weder der Schaubühne,
noch der lyrischen Poesie, noch, so viel wir davon
wissen können, der Musik mit vorzüglichem Anspruch
bemächtiget hat.

Das Rührende ist aber nicht von einerley Art;
es kann sich bis zum hohen Pathetischen erheben,
oder auch blos bey dem gemeinen zärtlichen stehen
bleiben: in jenes mischet sich immer etwas von Be-
wundrung; dieses erhebet sich nicht über die Schran-
ken der gemeinen Empfindung. Eine ungewöhn-
liche Großmuth, eine völlige Gelassenheit, oder Ge-
dult bey schweerem Leiden, ein unverdientes Unglük,
das Personen befällt, für die wir große Hochach-
tung haben; ein unerwartetes Glük das Traurig-
keit in Freude, Elend in Glükseeligkeit verwandelt,

alle
(*) S.
Dict. de
Mus. Art.
Rondeau.

[Spaltenumbruch]

Ron Ruͤh
lung natuͤrlich, und alsdenn kann das Rondeau ein
ſehr angenehmes kleines Gedicht ſeyn.“ (*)

Der Tonſezer, waͤhlt nach dem Jnhalt eine gera-
de, oder ungerade Taktart, von geſchwinder oder
langſamer Bewegung fuͤr den erſten Theil der Stro-
phen. Fuͤr den zweyten Theil macht er, nach Be-
ſchaffenheit des Rondeau eine, oder mehrere Melo-
dien in verſchiedenen mit dem Tone des erſten Theils
verwandten Tonarten. Jn beyden Theilen muß die
Modulation ſo beſchaffen ſeyn, daß der Schluß des
erſten Theiles auf den Anfang jedes andern, und
der Schluß jedes zweyten Theiles auf den Anfang
des erſten immer paſſe.

Ruͤhrend.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Eigentlich wird alles, was leidenſchaftliche Em-
pfindung erwekt, ruͤhrend genennt, und in dieſem
allgemeinen Sinne wird das Wort in dem folgen-
den Artikel genommen; hier aber halten wir uns
bey der beſondern Bedeutung deſſelben auf, nach
welcher es blos von dem genommen wird, was
ſanft eindringende und ſtillere Leidenſchaften, Zaͤrt-
lichkeit, ſtille Traurigkeit, ſanfte Freude u. d. gl.
erweket. Denn in dieſem Sinne wird es genom-
men, wenn man von Gedichten, von Auftritten,
von Geſchichten ſagt, ſie ſeyen ruͤhrend.

Dieſe Art des Leidenſchaftlichen iſt in den ſchoͤnen
Kuͤnſten von dem allgemeineſten und ausgedaͤhnte-
ſten Gebrauche. Der Kuͤnſtler, der blos zu gefallen
ſucht, erreicht ſeinen Endzwek am ſicherſten, durch
einen ruͤhrenden Stoff; weil kein andrer ſo durch-
gehenden und allgemeinen Beyfall gewinnt. Jeder
Stand, jedes Alter, und bald jeder Charakter der
Menſchen findet in zaͤrtlichen und ſanften Leiden-
ſchaften eine Wolluſt; und fuͤr einen Menſchen, der
vorzuͤglich das Große, das ſehr Pathetiſche, liebt,
findet man zwanzig, denen das Ruͤhrende mehr ge-
faͤllt. Es iſt nur wenigen Menſchen gegeben
an Wahrheit, Vollkommenheit, und Groͤße, Nah-
rung fuͤr den Geiſt, oder fuͤr das Herz zu finden;
faſt alle finden ſie in dem Ruͤhrenden. Man wird
in dem dramatiſchen Schauſpiehl allezeit wahrneh-
men, daß ruͤhrende Scenen alle Logen und alle Baͤnke
in Bewegung ſezen, da bey viel andern Scenen von
großer Schoͤnheit, ein Theil der Zuhoͤrer ziemlich
kalt und ruhig bleibt. Neben dem Vortheil des all-
gemeineſten Beyfalles, hat es noch den, daß es am
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Ruͤh
leichteſten zu erreichen iſt; in dem nicht ſelten auch
mittelmaͤßige Kuͤnſtler darin gluͤklich ſind.

Wie aber die angenehmeſten Speiſen weder die
geſundeſten noch die nahrhafteſten ſind, ſo iſt auch
das Ruͤhrende deswegen, weil es am meiſten gefaͤllt,
nicht eben die ſchaͤzbareſte Art des Stoffs zu Wer-
ken der ſchoͤnen Kunſt. Man kann uͤberhaupt dar-
auf anwenden, was wir im Artikel Mitleiden uͤber
den traurigen Stoff geſagt haben. Dem Menſchen
deſſen Herz den ſanftern Leidenſchaften verſchloſſen
iſt, fehlet in der That ſowol zum Genuß des Lebens,
als zur nuͤzlichen Wuͤrkſamkeit, etwas Weſentliches;
er iſt der ſuͤßeſten Wolluſt beraubt; zu mancher wich-
tigen Pflicht, mangelt es ihm an Beweggrund, und
bey mancher Gelegenheit verſaͤumet er aus Mangel
des Antriebes, Gutes zu thun. Aber der, den
nichts angreift, als was ſanft ruͤhret, kann leicht
in einen weichlichen Wolluͤſtling, in einen ſchwa-
chen zu jeder wichtigen That unfaͤhigen Menſchen
ausarten. Dieſe Betrachtungen ſind fuͤr den Kuͤnſt-
ler, der um die beſte Anwendung ſeiner Talente be-
ſorgt iſt, von Wichtigkeit. Vorzuͤglich ſind ſie den
dramatiſchen Dichtern und Romanenſchreibern zu
empfehlen, weil ihre Werke ſich am weiteſten in das
Publicum verbreiten. Es iſt leichter die Menſchen zu
verzaͤrteln, als ihnen uͤberlegende Vernunft, Staͤrke
des Geiſtes und Herzens, Standhaftigkeit und Groͤße
einzufloͤßen. Darum iſt es nicht gut, wenn der
Geſchmak am Ruͤhrenden ſo die Oberhand gewinnt,
daß er beynahe ein ausſchließendes Recht auf die
Schaubuͤhne und auf die Romane bekommt. Man
thut wol, wenn man auch hierin die Alten zum
Muſter nihmt, bey denen das Ruͤhrende nie herr-
ſchend worden, und ſich weder der Schaubuͤhne,
noch der lyriſchen Poeſie, noch, ſo viel wir davon
wiſſen koͤnnen, der Muſik mit vorzuͤglichem Anſpruch
bemaͤchtiget hat.

Das Ruͤhrende iſt aber nicht von einerley Art;
es kann ſich bis zum hohen Pathetiſchen erheben,
oder auch blos bey dem gemeinen zaͤrtlichen ſtehen
bleiben: in jenes miſchet ſich immer etwas von Be-
wundrung; dieſes erhebet ſich nicht uͤber die Schran-
ken der gemeinen Empfindung. Eine ungewoͤhn-
liche Großmuth, eine voͤllige Gelaſſenheit, oder Ge-
dult bey ſchweerem Leiden, ein unverdientes Ungluͤk,
das Perſonen befaͤllt, fuͤr die wir große Hochach-
tung haben; ein unerwartetes Gluͤk das Traurig-
keit in Freude, Elend in Gluͤkſeeligkeit verwandelt,

alle
(*) S.
Dict. de
Muſ. Art.
Rondeau.
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[990[972]/0419] Ron Ruͤh Ruͤh lung natuͤrlich, und alsdenn kann das Rondeau ein ſehr angenehmes kleines Gedicht ſeyn.“ (*) Der Tonſezer, waͤhlt nach dem Jnhalt eine gera- de, oder ungerade Taktart, von geſchwinder oder langſamer Bewegung fuͤr den erſten Theil der Stro- phen. Fuͤr den zweyten Theil macht er, nach Be- ſchaffenheit des Rondeau eine, oder mehrere Melo- dien in verſchiedenen mit dem Tone des erſten Theils verwandten Tonarten. Jn beyden Theilen muß die Modulation ſo beſchaffen ſeyn, daß der Schluß des erſten Theiles auf den Anfang jedes andern, und der Schluß jedes zweyten Theiles auf den Anfang des erſten immer paſſe. Ruͤhrend. (Schoͤne Kuͤnſte.) Eigentlich wird alles, was leidenſchaftliche Em- pfindung erwekt, ruͤhrend genennt, und in dieſem allgemeinen Sinne wird das Wort in dem folgen- den Artikel genommen; hier aber halten wir uns bey der beſondern Bedeutung deſſelben auf, nach welcher es blos von dem genommen wird, was ſanft eindringende und ſtillere Leidenſchaften, Zaͤrt- lichkeit, ſtille Traurigkeit, ſanfte Freude u. d. gl. erweket. Denn in dieſem Sinne wird es genom- men, wenn man von Gedichten, von Auftritten, von Geſchichten ſagt, ſie ſeyen ruͤhrend. Dieſe Art des Leidenſchaftlichen iſt in den ſchoͤnen Kuͤnſten von dem allgemeineſten und ausgedaͤhnte- ſten Gebrauche. Der Kuͤnſtler, der blos zu gefallen ſucht, erreicht ſeinen Endzwek am ſicherſten, durch einen ruͤhrenden Stoff; weil kein andrer ſo durch- gehenden und allgemeinen Beyfall gewinnt. Jeder Stand, jedes Alter, und bald jeder Charakter der Menſchen findet in zaͤrtlichen und ſanften Leiden- ſchaften eine Wolluſt; und fuͤr einen Menſchen, der vorzuͤglich das Große, das ſehr Pathetiſche, liebt, findet man zwanzig, denen das Ruͤhrende mehr ge- faͤllt. Es iſt nur wenigen Menſchen gegeben an Wahrheit, Vollkommenheit, und Groͤße, Nah- rung fuͤr den Geiſt, oder fuͤr das Herz zu finden; faſt alle finden ſie in dem Ruͤhrenden. Man wird in dem dramatiſchen Schauſpiehl allezeit wahrneh- men, daß ruͤhrende Scenen alle Logen und alle Baͤnke in Bewegung ſezen, da bey viel andern Scenen von großer Schoͤnheit, ein Theil der Zuhoͤrer ziemlich kalt und ruhig bleibt. Neben dem Vortheil des all- gemeineſten Beyfalles, hat es noch den, daß es am leichteſten zu erreichen iſt; in dem nicht ſelten auch mittelmaͤßige Kuͤnſtler darin gluͤklich ſind. Wie aber die angenehmeſten Speiſen weder die geſundeſten noch die nahrhafteſten ſind, ſo iſt auch das Ruͤhrende deswegen, weil es am meiſten gefaͤllt, nicht eben die ſchaͤzbareſte Art des Stoffs zu Wer- ken der ſchoͤnen Kunſt. Man kann uͤberhaupt dar- auf anwenden, was wir im Artikel Mitleiden uͤber den traurigen Stoff geſagt haben. Dem Menſchen deſſen Herz den ſanftern Leidenſchaften verſchloſſen iſt, fehlet in der That ſowol zum Genuß des Lebens, als zur nuͤzlichen Wuͤrkſamkeit, etwas Weſentliches; er iſt der ſuͤßeſten Wolluſt beraubt; zu mancher wich- tigen Pflicht, mangelt es ihm an Beweggrund, und bey mancher Gelegenheit verſaͤumet er aus Mangel des Antriebes, Gutes zu thun. Aber der, den nichts angreift, als was ſanft ruͤhret, kann leicht in einen weichlichen Wolluͤſtling, in einen ſchwa- chen zu jeder wichtigen That unfaͤhigen Menſchen ausarten. Dieſe Betrachtungen ſind fuͤr den Kuͤnſt- ler, der um die beſte Anwendung ſeiner Talente be- ſorgt iſt, von Wichtigkeit. Vorzuͤglich ſind ſie den dramatiſchen Dichtern und Romanenſchreibern zu empfehlen, weil ihre Werke ſich am weiteſten in das Publicum verbreiten. Es iſt leichter die Menſchen zu verzaͤrteln, als ihnen uͤberlegende Vernunft, Staͤrke des Geiſtes und Herzens, Standhaftigkeit und Groͤße einzufloͤßen. Darum iſt es nicht gut, wenn der Geſchmak am Ruͤhrenden ſo die Oberhand gewinnt, daß er beynahe ein ausſchließendes Recht auf die Schaubuͤhne und auf die Romane bekommt. Man thut wol, wenn man auch hierin die Alten zum Muſter nihmt, bey denen das Ruͤhrende nie herr- ſchend worden, und ſich weder der Schaubuͤhne, noch der lyriſchen Poeſie, noch, ſo viel wir davon wiſſen koͤnnen, der Muſik mit vorzuͤglichem Anſpruch bemaͤchtiget hat. Das Ruͤhrende iſt aber nicht von einerley Art; es kann ſich bis zum hohen Pathetiſchen erheben, oder auch blos bey dem gemeinen zaͤrtlichen ſtehen bleiben: in jenes miſchet ſich immer etwas von Be- wundrung; dieſes erhebet ſich nicht uͤber die Schran- ken der gemeinen Empfindung. Eine ungewoͤhn- liche Großmuth, eine voͤllige Gelaſſenheit, oder Ge- dult bey ſchweerem Leiden, ein unverdientes Ungluͤk, das Perſonen befaͤllt, fuͤr die wir große Hochach- tung haben; ein unerwartetes Gluͤk das Traurig- keit in Freude, Elend in Gluͤkſeeligkeit verwandelt, alle (*) S. Dict. de Muſ. Art. Rondeau.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 990[972]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/419>, abgerufen am 29.04.2024.