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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Rüh
alle dergleichen Fälle steigen ins hohe Rührende, und
oft ins Erhabene. Hingegen bleiben die gewöhnli-
chere Fälle sanfter Freud und Traurigkeit, einer
durch Hindernisse gekränkten, oder durch neue Hof-
nungen gereizten Zärtlichkeit, bey dem gemeinen
Rührenden stehen.

Sophokles und Euripides sind reich an dem Rüh-
renden der höhern Art, das sich zur tragischen Bühne
sehr schiket, für die das gemeinere Rührende zu
schwach ist. Es steht besser in der Comödie, und
in Hirtenliedern, wiewol auch darin unser Geßner
es ofte bis zum höhern Rührenden hebt. Auch schiket
es sich ganz vorzüglich zur Elegie und zum Liede.
Sappho ist bis zum Schmelzen rührend. Unter den
Neuern sind Petrarcha und Racine vorzüglich als
rührende Dichter bekannt; Shakespear aber übertrift
in dem hohen Rührenden, und Klopstok in dem
höchsten Grad des Zärtlichen, alle Dichter alter und
neuer Zeit.

Rührende Rede.
(Beredsamkeit.)

Eine der drey Hauptgattungen der Rede in Absicht
auf den Jnhalt (*) Jhr Zwek geht auf Erwekung
der Leidenschaften, die nach der Absicht des Redners
entweder Entschließungen, oder Unternehmungen
befördern, oder hintertreiben sollen. Die Leiden-
schaften sind die eigentlichen Triebfedern, wodurch
diejenigen Handlungen vollbracht werden, dazu
starke Anstrengung der Kräfte nöthig ist; nämlich
wo die Handlung an sich sehr mühesam und voll Be-
schwerniß, wo sie mit Gefahr begleitet ist, oder wo
ihr sonst in dem Gemüthe des handelnden Menschen
starke Hindernisse im Wege stehen. Nicht nur die
meisten und wichtigsten der öffentlichen Staatsun-
ternehmungen sind in diesem Falle, sondern gar oft
auch Privathandlungen von einiger Wichtigkeit.

Wenn also die Menschen zwar einsehen, was sie
thun sollten, aber nicht stark genug sind ihren Ein-
sichten gemäß zu handeln; so müssen die Leidenschaf-
ten zu Hülfe gerufen werden, um ihnen die Kräfte
zu geben. Bisweilen aber sind diese Triebfedern
auch schon nöthig, um nur den Entschluß zu wich-
tigen Handlungen zu fassen. Denn gar ofte sind
die Einsichten der Vernunft dazu nicht hinlänglich,
weil sie nicht mit Gefühl begleitet sind.

Die schönen Künste sind die eigentlichen Mittel
Leidenschaften zu erweken, wo sie nicht aus der
[Spaltenumbruch]

Rüh
Lage, darin der Mensch sich befindet, schon von
selbst entstehen. Unter den schönen Künsten aber
braucht die Beredsamkeit die wenigsten Veranstal-
tungen dazu. Ueberall, wo es nöthig ist, kann
der Redner auftreten, weil er das Jnstrument,
wodurch er würken soll, schon mit sich führet. Also
wird es ihm am leichtesten durch Erwekung heilsa-
mer Leidenschaften den Menschen nüzlich zu werden.
Dieses veranlasset die leidenschaftliche Rede, deren
Beschaffenheit wir nun näher zu betrachten haben.

Es kommt also bey dieser Rede allemal darauf
an, daß lebhafte Empfindungen für, oder gegen
eine Sache in den Herzen der Zuhörer erwekt wer-
den. Dieses kann, wie schon anderswo (*) gezei-
get worden, auf zweyerley Weise geschehen. Ent-
weder schildert der Redner den Gegenstand, aus des-
sen Betrachtung die Leidenschaft, die er zu erweken
sucht, natürlicher Weise entsteht; oder er selbst
äußert die Leidenschaft auf eine lebhafte Weise und
entzündet dadurch die Herzen seiner Zuhörer. Wer
uns in Furcht sezen will, muß uns entweder von
einer nahen Gefahr so lebhaft überzeugen, daß wir sie
nicht nur erkennen, sondern auch fühlen; weil das
Gefühl der Gefahr die Furcht gewiß hervorbringt,
oder er selbst muß die Furcht so lebhaft äußern,
daß auch wir davon angesteket werden. Auf die
erste Weise hat Demosthenes seine Mitbürger mit
Furcht für den Philippus erfüllet, indem er auf das
deutlichste und lebhafteste, die weit aussehenden Un-
ternehmungen dieses gefährlichen Nachbars, geschil-
dert, und die Gefahr, die der Freyheit den Unter-
gang drohete, auf eine rührende Weise vorgestellt
hat. Nach der andern Art verfahren durchgehends
die so genannten ascetischen geistlichen Redner, die,
anstatt erst den Verstand zu überzeugen, geradezu
das Herz angreifen, und die Leidenschaft in den
Gemüthern ihrer Zuhörer dadurch erweken, daß sie
das, was sie selbst davon fühlen, auf eine sehr nach-
drükliche und anstekende Weise äußern.

Jn dem erstern Fall hat die Rede zwar die Form
der lehrenden Rede, weil sie unmittelbar auf den
Verstand arbeitet. Sie ist aber nicht blos durch
ihren Zwek, sondern auch durch die Art der Be-
handlung und des Tones von der eigentlich lehren-
den Red unterschieden. Bey der lehrenden Rede ist
der Zwek völlig erreicht, wenn der Zuhörer am Ende
wol unterrichtet, oder völlig überzeuget ist. Hier
aber ist der genaueste Unterricht und die gründlichste

Ueber-
(*) S.
Rede.
(*) S.
Leiden-
schaft.
G g g g g g 3

[Spaltenumbruch]

Ruͤh
alle dergleichen Faͤlle ſteigen ins hohe Ruͤhrende, und
oft ins Erhabene. Hingegen bleiben die gewoͤhnli-
chere Faͤlle ſanfter Freud und Traurigkeit, einer
durch Hinderniſſe gekraͤnkten, oder durch neue Hof-
nungen gereizten Zaͤrtlichkeit, bey dem gemeinen
Ruͤhrenden ſtehen.

Sophokles und Euripides ſind reich an dem Ruͤh-
renden der hoͤhern Art, das ſich zur tragiſchen Buͤhne
ſehr ſchiket, fuͤr die das gemeinere Ruͤhrende zu
ſchwach iſt. Es ſteht beſſer in der Comoͤdie, und
in Hirtenliedern, wiewol auch darin unſer Geßner
es ofte bis zum hoͤhern Ruͤhrenden hebt. Auch ſchiket
es ſich ganz vorzuͤglich zur Elegie und zum Liede.
Sappho iſt bis zum Schmelzen ruͤhrend. Unter den
Neuern ſind Petrarcha und Racine vorzuͤglich als
ruͤhrende Dichter bekannt; Shakeſpear aber uͤbertrift
in dem hohen Ruͤhrenden, und Klopſtok in dem
hoͤchſten Grad des Zaͤrtlichen, alle Dichter alter und
neuer Zeit.

Ruͤhrende Rede.
(Beredſamkeit.)

Eine der drey Hauptgattungen der Rede in Abſicht
auf den Jnhalt (*) Jhr Zwek geht auf Erwekung
der Leidenſchaften, die nach der Abſicht des Redners
entweder Entſchließungen, oder Unternehmungen
befoͤrdern, oder hintertreiben ſollen. Die Leiden-
ſchaften ſind die eigentlichen Triebfedern, wodurch
diejenigen Handlungen vollbracht werden, dazu
ſtarke Anſtrengung der Kraͤfte noͤthig iſt; naͤmlich
wo die Handlung an ſich ſehr muͤheſam und voll Be-
ſchwerniß, wo ſie mit Gefahr begleitet iſt, oder wo
ihr ſonſt in dem Gemuͤthe des handelnden Menſchen
ſtarke Hinderniſſe im Wege ſtehen. Nicht nur die
meiſten und wichtigſten der oͤffentlichen Staatsun-
ternehmungen ſind in dieſem Falle, ſondern gar oft
auch Privathandlungen von einiger Wichtigkeit.

Wenn alſo die Menſchen zwar einſehen, was ſie
thun ſollten, aber nicht ſtark genug ſind ihren Ein-
ſichten gemaͤß zu handeln; ſo muͤſſen die Leidenſchaf-
ten zu Huͤlfe gerufen werden, um ihnen die Kraͤfte
zu geben. Bisweilen aber ſind dieſe Triebfedern
auch ſchon noͤthig, um nur den Entſchluß zu wich-
tigen Handlungen zu faſſen. Denn gar ofte ſind
die Einſichten der Vernunft dazu nicht hinlaͤnglich,
weil ſie nicht mit Gefuͤhl begleitet ſind.

Die ſchoͤnen Kuͤnſte ſind die eigentlichen Mittel
Leidenſchaften zu erweken, wo ſie nicht aus der
[Spaltenumbruch]

Ruͤh
Lage, darin der Menſch ſich befindet, ſchon von
ſelbſt entſtehen. Unter den ſchoͤnen Kuͤnſten aber
braucht die Beredſamkeit die wenigſten Veranſtal-
tungen dazu. Ueberall, wo es noͤthig iſt, kann
der Redner auftreten, weil er das Jnſtrument,
wodurch er wuͤrken ſoll, ſchon mit ſich fuͤhret. Alſo
wird es ihm am leichteſten durch Erwekung heilſa-
mer Leidenſchaften den Menſchen nuͤzlich zu werden.
Dieſes veranlaſſet die leidenſchaftliche Rede, deren
Beſchaffenheit wir nun naͤher zu betrachten haben.

Es kommt alſo bey dieſer Rede allemal darauf
an, daß lebhafte Empfindungen fuͤr, oder gegen
eine Sache in den Herzen der Zuhoͤrer erwekt wer-
den. Dieſes kann, wie ſchon anderswo (*) gezei-
get worden, auf zweyerley Weiſe geſchehen. Ent-
weder ſchildert der Redner den Gegenſtand, aus deſ-
ſen Betrachtung die Leidenſchaft, die er zu erweken
ſucht, natuͤrlicher Weiſe entſteht; oder er ſelbſt
aͤußert die Leidenſchaft auf eine lebhafte Weiſe und
entzuͤndet dadurch die Herzen ſeiner Zuhoͤrer. Wer
uns in Furcht ſezen will, muß uns entweder von
einer nahen Gefahr ſo lebhaft uͤberzeugen, daß wir ſie
nicht nur erkennen, ſondern auch fuͤhlen; weil das
Gefuͤhl der Gefahr die Furcht gewiß hervorbringt,
oder er ſelbſt muß die Furcht ſo lebhaft aͤußern,
daß auch wir davon angeſteket werden. Auf die
erſte Weiſe hat Demoſthenes ſeine Mitbuͤrger mit
Furcht fuͤr den Philippus erfuͤllet, indem er auf das
deutlichſte und lebhafteſte, die weit ausſehenden Un-
ternehmungen dieſes gefaͤhrlichen Nachbars, geſchil-
dert, und die Gefahr, die der Freyheit den Unter-
gang drohete, auf eine ruͤhrende Weiſe vorgeſtellt
hat. Nach der andern Art verfahren durchgehends
die ſo genannten aſcetiſchen geiſtlichen Redner, die,
anſtatt erſt den Verſtand zu uͤberzeugen, geradezu
das Herz angreifen, und die Leidenſchaft in den
Gemuͤthern ihrer Zuhoͤrer dadurch erweken, daß ſie
das, was ſie ſelbſt davon fuͤhlen, auf eine ſehr nach-
druͤkliche und anſtekende Weiſe aͤußern.

Jn dem erſtern Fall hat die Rede zwar die Form
der lehrenden Rede, weil ſie unmittelbar auf den
Verſtand arbeitet. Sie iſt aber nicht blos durch
ihren Zwek, ſondern auch durch die Art der Be-
handlung und des Tones von der eigentlich lehren-
den Red unterſchieden. Bey der lehrenden Rede iſt
der Zwek voͤllig erreicht, wenn der Zuhoͤrer am Ende
wol unterrichtet, oder voͤllig uͤberzeuget iſt. Hier
aber iſt der genaueſte Unterricht und die gruͤndlichſte

Ueber-
(*) S.
Rede.
(*) S.
Leiden-
ſchaft.
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[991[973]/0420] Ruͤh Ruͤh alle dergleichen Faͤlle ſteigen ins hohe Ruͤhrende, und oft ins Erhabene. Hingegen bleiben die gewoͤhnli- chere Faͤlle ſanfter Freud und Traurigkeit, einer durch Hinderniſſe gekraͤnkten, oder durch neue Hof- nungen gereizten Zaͤrtlichkeit, bey dem gemeinen Ruͤhrenden ſtehen. Sophokles und Euripides ſind reich an dem Ruͤh- renden der hoͤhern Art, das ſich zur tragiſchen Buͤhne ſehr ſchiket, fuͤr die das gemeinere Ruͤhrende zu ſchwach iſt. Es ſteht beſſer in der Comoͤdie, und in Hirtenliedern, wiewol auch darin unſer Geßner es ofte bis zum hoͤhern Ruͤhrenden hebt. Auch ſchiket es ſich ganz vorzuͤglich zur Elegie und zum Liede. Sappho iſt bis zum Schmelzen ruͤhrend. Unter den Neuern ſind Petrarcha und Racine vorzuͤglich als ruͤhrende Dichter bekannt; Shakeſpear aber uͤbertrift in dem hohen Ruͤhrenden, und Klopſtok in dem hoͤchſten Grad des Zaͤrtlichen, alle Dichter alter und neuer Zeit. Ruͤhrende Rede. (Beredſamkeit.) Eine der drey Hauptgattungen der Rede in Abſicht auf den Jnhalt (*) Jhr Zwek geht auf Erwekung der Leidenſchaften, die nach der Abſicht des Redners entweder Entſchließungen, oder Unternehmungen befoͤrdern, oder hintertreiben ſollen. Die Leiden- ſchaften ſind die eigentlichen Triebfedern, wodurch diejenigen Handlungen vollbracht werden, dazu ſtarke Anſtrengung der Kraͤfte noͤthig iſt; naͤmlich wo die Handlung an ſich ſehr muͤheſam und voll Be- ſchwerniß, wo ſie mit Gefahr begleitet iſt, oder wo ihr ſonſt in dem Gemuͤthe des handelnden Menſchen ſtarke Hinderniſſe im Wege ſtehen. Nicht nur die meiſten und wichtigſten der oͤffentlichen Staatsun- ternehmungen ſind in dieſem Falle, ſondern gar oft auch Privathandlungen von einiger Wichtigkeit. Wenn alſo die Menſchen zwar einſehen, was ſie thun ſollten, aber nicht ſtark genug ſind ihren Ein- ſichten gemaͤß zu handeln; ſo muͤſſen die Leidenſchaf- ten zu Huͤlfe gerufen werden, um ihnen die Kraͤfte zu geben. Bisweilen aber ſind dieſe Triebfedern auch ſchon noͤthig, um nur den Entſchluß zu wich- tigen Handlungen zu faſſen. Denn gar ofte ſind die Einſichten der Vernunft dazu nicht hinlaͤnglich, weil ſie nicht mit Gefuͤhl begleitet ſind. Die ſchoͤnen Kuͤnſte ſind die eigentlichen Mittel Leidenſchaften zu erweken, wo ſie nicht aus der Lage, darin der Menſch ſich befindet, ſchon von ſelbſt entſtehen. Unter den ſchoͤnen Kuͤnſten aber braucht die Beredſamkeit die wenigſten Veranſtal- tungen dazu. Ueberall, wo es noͤthig iſt, kann der Redner auftreten, weil er das Jnſtrument, wodurch er wuͤrken ſoll, ſchon mit ſich fuͤhret. Alſo wird es ihm am leichteſten durch Erwekung heilſa- mer Leidenſchaften den Menſchen nuͤzlich zu werden. Dieſes veranlaſſet die leidenſchaftliche Rede, deren Beſchaffenheit wir nun naͤher zu betrachten haben. Es kommt alſo bey dieſer Rede allemal darauf an, daß lebhafte Empfindungen fuͤr, oder gegen eine Sache in den Herzen der Zuhoͤrer erwekt wer- den. Dieſes kann, wie ſchon anderswo (*) gezei- get worden, auf zweyerley Weiſe geſchehen. Ent- weder ſchildert der Redner den Gegenſtand, aus deſ- ſen Betrachtung die Leidenſchaft, die er zu erweken ſucht, natuͤrlicher Weiſe entſteht; oder er ſelbſt aͤußert die Leidenſchaft auf eine lebhafte Weiſe und entzuͤndet dadurch die Herzen ſeiner Zuhoͤrer. Wer uns in Furcht ſezen will, muß uns entweder von einer nahen Gefahr ſo lebhaft uͤberzeugen, daß wir ſie nicht nur erkennen, ſondern auch fuͤhlen; weil das Gefuͤhl der Gefahr die Furcht gewiß hervorbringt, oder er ſelbſt muß die Furcht ſo lebhaft aͤußern, daß auch wir davon angeſteket werden. Auf die erſte Weiſe hat Demoſthenes ſeine Mitbuͤrger mit Furcht fuͤr den Philippus erfuͤllet, indem er auf das deutlichſte und lebhafteſte, die weit ausſehenden Un- ternehmungen dieſes gefaͤhrlichen Nachbars, geſchil- dert, und die Gefahr, die der Freyheit den Unter- gang drohete, auf eine ruͤhrende Weiſe vorgeſtellt hat. Nach der andern Art verfahren durchgehends die ſo genannten aſcetiſchen geiſtlichen Redner, die, anſtatt erſt den Verſtand zu uͤberzeugen, geradezu das Herz angreifen, und die Leidenſchaft in den Gemuͤthern ihrer Zuhoͤrer dadurch erweken, daß ſie das, was ſie ſelbſt davon fuͤhlen, auf eine ſehr nach- druͤkliche und anſtekende Weiſe aͤußern. Jn dem erſtern Fall hat die Rede zwar die Form der lehrenden Rede, weil ſie unmittelbar auf den Verſtand arbeitet. Sie iſt aber nicht blos durch ihren Zwek, ſondern auch durch die Art der Be- handlung und des Tones von der eigentlich lehren- den Red unterſchieden. Bey der lehrenden Rede iſt der Zwek voͤllig erreicht, wenn der Zuhoͤrer am Ende wol unterrichtet, oder voͤllig uͤberzeuget iſt. Hier aber iſt der genaueſte Unterricht und die gruͤndlichſte Ueber- (*) S. Rede. (*) S. Leiden- ſchaft. G g g g g g 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 991[973]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/420>, abgerufen am 29.04.2024.