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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Rüh
mit ausgebreiteter Kenntnis der Menschen und Er-
fahrung in Geschäften verbunden seyn. Man trift
deswegen viel angenehme, einschmeichelnde, gefäl-
lige Redner an, ehe man auf einen hinreißenden
kommt. Die Wärme des Herzens muß bey einem
solchen Redner nicht von dem Feuer der bloßen Ein-
bildungskraft, sondern vornehmlich von der Stärke
der Vernunft herkommen. Wahrheit und Recht
(das im Grund auch nichts, als praktische Wahr-
heit ist) müssen eine so große Kraft auf ihn haben,
daß er schon dadurch allein in leidenschaftliche Em-
pfindung gesezt wird. Der kalte Philosoph, der
alles auf das genaueste sieht, und der subtile Dia-
lektiker, der die feinesten Schattirungen der Begriffe
bemerkt, als ob er durch ein Vergrößerungsglaß sähe,
schiken sich am wenigsten hiezu: man lernt von ih-
nen blos genau sehen, nicht empfinden. Der rüh-
rende Redner steht zwar auch richtig, mit einem
Blik entdeket er die wahre Beschaffenheit einer Sa-
che ohne Zergliedern und ohne subtiles Forschen, und
die Wahrheit giebt seiner Empfindung selbst einen
Stoß.

Weniger gehöret zu der rührenden Rede, wo der
Redner die Leidenschaft selbst, ohne Entwiklung des
Gegenstandes, der sie hervorbringt, äußert. Wenn
wir an einem Menschen alle Zeichen eines tiefen
Schmerzens sehen, so nehmen wir Theil daran,
wenn uns die Ursache seines Leidens auch unbekannt
ist. Jst nun ein Redner von der Leidenschaft, die
er in andern erweken will, ganz durchdrungen, und
hat er eine lebhafte Einbildungskraft den Gegen-
stand derselben, ohne ihn genau zu schildern, auf
verschiedene Seiten zu wenden, wodurch die Leiden-
schaft immer neue Nahrung bekommt; so braucht
er eben nicht sehr methodisch zu verfahren, um das
Feuer, das in ihm brennt, auch in andern anzu-
zünden. Man vergleiche, um diesen Unterschied
zu fühlen die philippischen und catilinarischen Reden
des Cicero, die meistens blos Aeußerungen der in dem
Redner aufwallenden Leidenschaften sind, mit der,
die er gegen die Austheilung der Aeker vor dem
Volke gehalten, wo er rührend unterrichtet. Es
gehöret unendlich mehr dazu eine Rede von dieser
Art zu verfertigen, als zu einer der ersten Art.

Man hat Beyspiehle genug daß hizige Köpfe,
ohne Verstand und Einsicht, politische und religiöse
Schwärmer, durch leidenschaftliche Reden, darin
man Verstand, oder Gründlichkeit vergeblich sucht,
[Spaltenumbruch]

Rük
unglaublich viel ausgerichtet haben. Freylich kommt
hier sehr viel auf die Umstände und auf den Cha-
rakter der Zuhörer an. Wo die Umstände selbst
schon eine Gährung in den Gemüthern verursachet
haben, wo die Einbildungskraft bereits erhitzt ist,
und wo man es mit einer Versammlung zu thun
hat, die gewohnt ist sich mehr durch sinnliche Ein-
drüke als durch Vorstellungen der Vernunft leiten
zu lassen, da braucht es eben nicht viel, in den
Gemüthern das heftigste Feuer anzuzünden. Rüh-
rende Reden für solche Gelegenheiten sind nicht mehr
als Werke der Kunst anzusehen. Nur da, wo
man es mit Männern zu thun hat, die nicht so,
wie der Pöbel leicht aufzubringen sind, erfodert auch
diese Art wahre Beredsamkeit.

Sie hat aber nur da statt, wo die Gegenstän-
de, die die Leidenschaft hervorbringen sollen, klar ge-
nug am Tage liegen, daß der Verstand nicht mehr
nöthig hat, über die wahre Beschaffenheit der Sach
unterrichtet zu werden, sondern nur die Empfin-
dung stärker zu reizen ist. Da geht der Redner
mit seinem Beyspiehl dem Zuhörer vor; er äußert
auf mancherley Weise das, was er selbst fühlet;
er sucht das, was in seinem Gemüthe vorgeht,
auf die lebhafteste, rührendste Art an den Tag zu
legen. Und hiebey thut nun der Vortrag selbst
die größte Würkung. Der Redner muß in Stimm
und Gebehrden das, was er empfindet, so lebhaft,
als durch die Worte selbst ausdrüken. Alsdann wird
er seinen Zwek nicht leicht verfehlen.

Rükkehr.
(Redende Künste.)

Wir wollen diesen Namen einem Kunstgrif geben,
wodurch Redner oder Dichter die Zuhörer plözlich
auf eine Reyhe vorhergegangener Vorstellungen zu-
rükführen, um alle ihre Kräfte izt zu einer einzi-
gen Würkung zu vereinigen. Um uns die Bestim-
mung dieses Begriffes zu erleichtern, wollen wir
ohne weitere Erklärung Beyspiehle der Rükkehr ge-
ben. Das erste nehmen wir aus des Euripides
Hekuba. Polymestor
ein ehemaliger Freund die-
ser Königin, hat die schändlichste aller Thaten began-
gen, indem er den, ihm zur Sicherheit anver-
trauten Sohn der Hekuba, aus der ärgsten Nieder-
trächtigkeit umgebracht hat. Diese That erwekt die
Rachgierd der Königin; aber izt ist sie eine Gefan-
gene, nichts mehr, als eine Magd des Agamemnons,

des

[Spaltenumbruch]

Ruͤh
mit ausgebreiteter Kenntnis der Menſchen und Er-
fahrung in Geſchaͤften verbunden ſeyn. Man trift
deswegen viel angenehme, einſchmeichelnde, gefaͤl-
lige Redner an, ehe man auf einen hinreißenden
kommt. Die Waͤrme des Herzens muß bey einem
ſolchen Redner nicht von dem Feuer der bloßen Ein-
bildungskraft, ſondern vornehmlich von der Staͤrke
der Vernunft herkommen. Wahrheit und Recht
(das im Grund auch nichts, als praktiſche Wahr-
heit iſt) muͤſſen eine ſo große Kraft auf ihn haben,
daß er ſchon dadurch allein in leidenſchaftliche Em-
pfindung geſezt wird. Der kalte Philoſoph, der
alles auf das genaueſte ſieht, und der ſubtile Dia-
lektiker, der die feineſten Schattirungen der Begriffe
bemerkt, als ob er durch ein Vergroͤßerungsglaß ſaͤhe,
ſchiken ſich am wenigſten hiezu: man lernt von ih-
nen blos genau ſehen, nicht empfinden. Der ruͤh-
rende Redner ſteht zwar auch richtig, mit einem
Blik entdeket er die wahre Beſchaffenheit einer Sa-
che ohne Zergliedern und ohne ſubtiles Forſchen, und
die Wahrheit giebt ſeiner Empfindung ſelbſt einen
Stoß.

Weniger gehoͤret zu der ruͤhrenden Rede, wo der
Redner die Leidenſchaft ſelbſt, ohne Entwiklung des
Gegenſtandes, der ſie hervorbringt, aͤußert. Wenn
wir an einem Menſchen alle Zeichen eines tiefen
Schmerzens ſehen, ſo nehmen wir Theil daran,
wenn uns die Urſache ſeines Leidens auch unbekannt
iſt. Jſt nun ein Redner von der Leidenſchaft, die
er in andern erweken will, ganz durchdrungen, und
hat er eine lebhafte Einbildungskraft den Gegen-
ſtand derſelben, ohne ihn genau zu ſchildern, auf
verſchiedene Seiten zu wenden, wodurch die Leiden-
ſchaft immer neue Nahrung bekommt; ſo braucht
er eben nicht ſehr methodiſch zu verfahren, um das
Feuer, das in ihm brennt, auch in andern anzu-
zuͤnden. Man vergleiche, um dieſen Unterſchied
zu fuͤhlen die philippiſchen und catilinariſchen Reden
des Cicero, die meiſtens blos Aeußerungen der in dem
Redner aufwallenden Leidenſchaften ſind, mit der,
die er gegen die Austheilung der Aeker vor dem
Volke gehalten, wo er ruͤhrend unterrichtet. Es
gehoͤret unendlich mehr dazu eine Rede von dieſer
Art zu verfertigen, als zu einer der erſten Art.

Man hat Beyſpiehle genug daß hizige Koͤpfe,
ohne Verſtand und Einſicht, politiſche und religioͤſe
Schwaͤrmer, durch leidenſchaftliche Reden, darin
man Verſtand, oder Gruͤndlichkeit vergeblich ſucht,
[Spaltenumbruch]

Ruͤk
unglaublich viel ausgerichtet haben. Freylich kommt
hier ſehr viel auf die Umſtaͤnde und auf den Cha-
rakter der Zuhoͤrer an. Wo die Umſtaͤnde ſelbſt
ſchon eine Gaͤhrung in den Gemuͤthern verurſachet
haben, wo die Einbildungskraft bereits erhitzt iſt,
und wo man es mit einer Verſammlung zu thun
hat, die gewohnt iſt ſich mehr durch ſinnliche Ein-
druͤke als durch Vorſtellungen der Vernunft leiten
zu laſſen, da braucht es eben nicht viel, in den
Gemuͤthern das heftigſte Feuer anzuzuͤnden. Ruͤh-
rende Reden fuͤr ſolche Gelegenheiten ſind nicht mehr
als Werke der Kunſt anzuſehen. Nur da, wo
man es mit Maͤnnern zu thun hat, die nicht ſo,
wie der Poͤbel leicht aufzubringen ſind, erfodert auch
dieſe Art wahre Beredſamkeit.

Sie hat aber nur da ſtatt, wo die Gegenſtaͤn-
de, die die Leidenſchaft hervorbringen ſollen, klar ge-
nug am Tage liegen, daß der Verſtand nicht mehr
noͤthig hat, uͤber die wahre Beſchaffenheit der Sach
unterrichtet zu werden, ſondern nur die Empfin-
dung ſtaͤrker zu reizen iſt. Da geht der Redner
mit ſeinem Beyſpiehl dem Zuhoͤrer vor; er aͤußert
auf mancherley Weiſe das, was er ſelbſt fuͤhlet;
er ſucht das, was in ſeinem Gemuͤthe vorgeht,
auf die lebhafteſte, ruͤhrendſte Art an den Tag zu
legen. Und hiebey thut nun der Vortrag ſelbſt
die groͤßte Wuͤrkung. Der Redner muß in Stimm
und Gebehrden das, was er empfindet, ſo lebhaft,
als durch die Worte ſelbſt ausdruͤken. Alsdann wird
er ſeinen Zwek nicht leicht verfehlen.

Ruͤkkehr.
(Redende Kuͤnſte.)

Wir wollen dieſen Namen einem Kunſtgrif geben,
wodurch Redner oder Dichter die Zuhoͤrer ploͤzlich
auf eine Reyhe vorhergegangener Vorſtellungen zu-
ruͤkfuͤhren, um alle ihre Kraͤfte izt zu einer einzi-
gen Wuͤrkung zu vereinigen. Um uns die Beſtim-
mung dieſes Begriffes zu erleichtern, wollen wir
ohne weitere Erklaͤrung Beyſpiehle der Ruͤkkehr ge-
ben. Das erſte nehmen wir aus des Euripides
Hekuba. Polymeſtor
ein ehemaliger Freund die-
ſer Koͤnigin, hat die ſchaͤndlichſte aller Thaten began-
gen, indem er den, ihm zur Sicherheit anver-
trauten Sohn der Hekuba, aus der aͤrgſten Nieder-
traͤchtigkeit umgebracht hat. Dieſe That erwekt die
Rachgierd der Koͤnigin; aber izt iſt ſie eine Gefan-
gene, nichts mehr, als eine Magd des Agamemnons,

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[993[975]/0422] Ruͤh Ruͤk mit ausgebreiteter Kenntnis der Menſchen und Er- fahrung in Geſchaͤften verbunden ſeyn. Man trift deswegen viel angenehme, einſchmeichelnde, gefaͤl- lige Redner an, ehe man auf einen hinreißenden kommt. Die Waͤrme des Herzens muß bey einem ſolchen Redner nicht von dem Feuer der bloßen Ein- bildungskraft, ſondern vornehmlich von der Staͤrke der Vernunft herkommen. Wahrheit und Recht (das im Grund auch nichts, als praktiſche Wahr- heit iſt) muͤſſen eine ſo große Kraft auf ihn haben, daß er ſchon dadurch allein in leidenſchaftliche Em- pfindung geſezt wird. Der kalte Philoſoph, der alles auf das genaueſte ſieht, und der ſubtile Dia- lektiker, der die feineſten Schattirungen der Begriffe bemerkt, als ob er durch ein Vergroͤßerungsglaß ſaͤhe, ſchiken ſich am wenigſten hiezu: man lernt von ih- nen blos genau ſehen, nicht empfinden. Der ruͤh- rende Redner ſteht zwar auch richtig, mit einem Blik entdeket er die wahre Beſchaffenheit einer Sa- che ohne Zergliedern und ohne ſubtiles Forſchen, und die Wahrheit giebt ſeiner Empfindung ſelbſt einen Stoß. Weniger gehoͤret zu der ruͤhrenden Rede, wo der Redner die Leidenſchaft ſelbſt, ohne Entwiklung des Gegenſtandes, der ſie hervorbringt, aͤußert. Wenn wir an einem Menſchen alle Zeichen eines tiefen Schmerzens ſehen, ſo nehmen wir Theil daran, wenn uns die Urſache ſeines Leidens auch unbekannt iſt. Jſt nun ein Redner von der Leidenſchaft, die er in andern erweken will, ganz durchdrungen, und hat er eine lebhafte Einbildungskraft den Gegen- ſtand derſelben, ohne ihn genau zu ſchildern, auf verſchiedene Seiten zu wenden, wodurch die Leiden- ſchaft immer neue Nahrung bekommt; ſo braucht er eben nicht ſehr methodiſch zu verfahren, um das Feuer, das in ihm brennt, auch in andern anzu- zuͤnden. Man vergleiche, um dieſen Unterſchied zu fuͤhlen die philippiſchen und catilinariſchen Reden des Cicero, die meiſtens blos Aeußerungen der in dem Redner aufwallenden Leidenſchaften ſind, mit der, die er gegen die Austheilung der Aeker vor dem Volke gehalten, wo er ruͤhrend unterrichtet. Es gehoͤret unendlich mehr dazu eine Rede von dieſer Art zu verfertigen, als zu einer der erſten Art. Man hat Beyſpiehle genug daß hizige Koͤpfe, ohne Verſtand und Einſicht, politiſche und religioͤſe Schwaͤrmer, durch leidenſchaftliche Reden, darin man Verſtand, oder Gruͤndlichkeit vergeblich ſucht, unglaublich viel ausgerichtet haben. Freylich kommt hier ſehr viel auf die Umſtaͤnde und auf den Cha- rakter der Zuhoͤrer an. Wo die Umſtaͤnde ſelbſt ſchon eine Gaͤhrung in den Gemuͤthern verurſachet haben, wo die Einbildungskraft bereits erhitzt iſt, und wo man es mit einer Verſammlung zu thun hat, die gewohnt iſt ſich mehr durch ſinnliche Ein- druͤke als durch Vorſtellungen der Vernunft leiten zu laſſen, da braucht es eben nicht viel, in den Gemuͤthern das heftigſte Feuer anzuzuͤnden. Ruͤh- rende Reden fuͤr ſolche Gelegenheiten ſind nicht mehr als Werke der Kunſt anzuſehen. Nur da, wo man es mit Maͤnnern zu thun hat, die nicht ſo, wie der Poͤbel leicht aufzubringen ſind, erfodert auch dieſe Art wahre Beredſamkeit. Sie hat aber nur da ſtatt, wo die Gegenſtaͤn- de, die die Leidenſchaft hervorbringen ſollen, klar ge- nug am Tage liegen, daß der Verſtand nicht mehr noͤthig hat, uͤber die wahre Beſchaffenheit der Sach unterrichtet zu werden, ſondern nur die Empfin- dung ſtaͤrker zu reizen iſt. Da geht der Redner mit ſeinem Beyſpiehl dem Zuhoͤrer vor; er aͤußert auf mancherley Weiſe das, was er ſelbſt fuͤhlet; er ſucht das, was in ſeinem Gemuͤthe vorgeht, auf die lebhafteſte, ruͤhrendſte Art an den Tag zu legen. Und hiebey thut nun der Vortrag ſelbſt die groͤßte Wuͤrkung. Der Redner muß in Stimm und Gebehrden das, was er empfindet, ſo lebhaft, als durch die Worte ſelbſt ausdruͤken. Alsdann wird er ſeinen Zwek nicht leicht verfehlen. Ruͤkkehr. (Redende Kuͤnſte.) Wir wollen dieſen Namen einem Kunſtgrif geben, wodurch Redner oder Dichter die Zuhoͤrer ploͤzlich auf eine Reyhe vorhergegangener Vorſtellungen zu- ruͤkfuͤhren, um alle ihre Kraͤfte izt zu einer einzi- gen Wuͤrkung zu vereinigen. Um uns die Beſtim- mung dieſes Begriffes zu erleichtern, wollen wir ohne weitere Erklaͤrung Beyſpiehle der Ruͤkkehr ge- ben. Das erſte nehmen wir aus des Euripides Hekuba. Polymeſtor ein ehemaliger Freund die- ſer Koͤnigin, hat die ſchaͤndlichſte aller Thaten began- gen, indem er den, ihm zur Sicherheit anver- trauten Sohn der Hekuba, aus der aͤrgſten Nieder- traͤchtigkeit umgebracht hat. Dieſe That erwekt die Rachgierd der Koͤnigin; aber izt iſt ſie eine Gefan- gene, nichts mehr, als eine Magd des Agamemnons, des

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 993[975]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/422>, abgerufen am 29.04.2024.