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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Schn
Schnizwerk.
(Bildhauerey.)

Unter den Ueberbleibseln der griechischen und römi-
schen Bildhauerkunst findet sich nichts häufiger, als
historische und allegorische Vorstellungen, da die in
Marmor gehauenen Figuren, mehr oder weniger er-
haben, aus dem Marmor hervorstehen. Dieses
Schnizwerk, das die Jtaliäner Relievo nennen,
stellt also Schildereyen in Marmor ausgehauen vor,
aber so, daß die Bilder, wie auf den Münzen, nur
zum Theil über den flachen Grund des Marmors
heraustreten, daher solche Arbeit der Beschädigung
weniger unterworfen ist, als die Statuen, denen
durch Stoßen oder Umstürzen gemeiniglich die Aerme,
Beine oder Köpfe abgebrochen werden.

Dergleichen Schnizwerk, das die Stelle der Ge-
mählde vertreten sollte, wurd an Tempeln und an-
dern großen Gebäuden an schiklichen Orten in die
glatte Mauer, etwas vertieft eingesezt, und man
konnte natürlicher Weise versichert seyn, daß diese
Art Gemählde ziemlich wol erhalten bis auf die
spätheste Nachwelt kommen würde.

Unter den römischen Kaysern hatte man den Ein-
fall dergleichen Schnizwerk an den Schaften großer
zum Andenken vorzüglicher Thaten oder Begebenhei-
ten auf freyen Pläzen aufgerichteter Säulen anzu-
bringen, und noch izt stehen in Rom zwey solche
Säulen, davon die eine dem Antoninus, die andre
dem Trajanus zu Ehren gesezt worden. Aber sehr
lange vorher hatten die Egyptier flaches Schnizwerk
von Hieroglyphen auf ihre Obelisken eingehauen.

Man unterscheidet zwey Arten dieses Schnizwerks;
eine erhabenere, da die Figuren stark und oft viel
über die Hälfte ihrer Dike aus dem Grund hervor-
stehen; und eine flachere, da sie unter der Hälfte
ihrer Dike herausstehen: jene Art wird von den Jta-
liänern Alto relievo; diese basso relievo genennt.
Hievon haben wir an einen andern Orte mit meh-
rerm gesprochen. (*)

Schön.
(Schöne Künste.)

Die Untersuchung über die Natur und Beschaffen-
heit des Schönen, die an sich schon schweer genug
ist, wird dadurch noch beträchtlich schweerer gemacht,
daß das Wort vielfältig von Dingen gebraucht wird,
die gefallen, ob wir gleich von ihrer Beschaffenheit
nichts erkennen. Wir müssen also vor allen Dingen
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Schö
versuchen den eigentlichsten und engesten Sinn des
Worts zu bestimmen.

So gewiß es ist, daß alles Schöne gefällt, so
gewiß ist es auch, daß nicht alles, was gefällt, im
eigentlichen Sinn schön genennt werden kann. Das
Schöne macht nur eine von den mehreren Gattun-
gen der Dinge, die gefallen, aus, und um sie von
andern unterscheiden zu können, müssen wir diese
Gattungen alle betrachten. Wir wollen aber, ohne
uns in schweerfällige und tiefsinnige Speculationen
einzulassen, blos bey dem stehen bleiben, was die
allgemeine und tägliche Erfahrung darüber an die
Hand giebt.

Diese lehret uns ohne Zweydeutigkeit, daß einige
Dinge uns gefallen, oder Vergnügen erweken, ob
wir gleich von ihrer Beschaffenheit nicht den gering-
sten Begriff haben. Von dieser Gattung sind alle
Gegenstände, die blos einen angenehmen Reiz in die
Gliedmaaßen der Sinnen verursachen, an dem die
Ueberlegung und die Kenntnis der Beschaffenheit des
Gegenstandes, der ihn verursachet, nicht den gering-
sten Antheil haben. Jm Grunde haben wir in die-
sem Fall nicht an der Sache, die uns das Vergnü-
gen macht, sondern blos an der Empfindung, die
sie bewürkt, unser Wolgefallen. Wir wissen so gar
ofte nicht wo der Gegenstand, der uns dieses Ver-
gnügen macht, ist, noch was er ist; wir empfinden
und lieben blos seine Würkung, ohne uns mit ihm
selbst zu beschäftigen. Dies ist um so viel unzwei-
felhafter, da wir mehrere Arten dieses Vergnügens
mit den Thieren gemein haben, die sich gewiß nie
bey Betrachtung der Gegenstände, die auf sie wür-
ken, aufhalten. Diese Dinge haben eine unmittel-
bare, oder doch nahe mittelbare Beziehung auf unsre
Bedürfnisse, und machen eigentlich die Classe aus,
der man den Namen des Guten gegeben hat. Nur
Kinder sagen von Speisen, sie schmeken schön; wer
mehr unterscheiden gelernt hat, sagt, sie schme-
ken gut.

Hingegen giebt es auch Dinge, die nicht eher
gefallen, bis man sich eine deutliche Vorstellung
von ihrer Beschaffenheit gemacht hat. Zuerst be-
schäftigen sie blos den Verstand, und erst hernach,
wenn dieser eine gewisse Beschaffenheit an ihnen deut-
lich erkennet, fangen sie an zu gefallen. Wer nicht
im Stand ist, nachzudenken, oder jene Beschaffen-
heit einzusehen, dem bleiben sie völlig gleichgültig.
Jn diese Classe gehört alles, was durch Vollkommen-

heit
(*) S.
Flaches
Schni-
werk.
N n n n n n 2
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Schn
Schnizwerk.
(Bildhauerey.)

Unter den Ueberbleibſeln der griechiſchen und roͤmi-
ſchen Bildhauerkunſt findet ſich nichts haͤufiger, als
hiſtoriſche und allegoriſche Vorſtellungen, da die in
Marmor gehauenen Figuren, mehr oder weniger er-
haben, aus dem Marmor hervorſtehen. Dieſes
Schnizwerk, das die Jtaliaͤner Relievo nennen,
ſtellt alſo Schildereyen in Marmor ausgehauen vor,
aber ſo, daß die Bilder, wie auf den Muͤnzen, nur
zum Theil uͤber den flachen Grund des Marmors
heraustreten, daher ſolche Arbeit der Beſchaͤdigung
weniger unterworfen iſt, als die Statuen, denen
durch Stoßen oder Umſtuͤrzen gemeiniglich die Aerme,
Beine oder Koͤpfe abgebrochen werden.

Dergleichen Schnizwerk, das die Stelle der Ge-
maͤhlde vertreten ſollte, wurd an Tempeln und an-
dern großen Gebaͤuden an ſchiklichen Orten in die
glatte Mauer, etwas vertieft eingeſezt, und man
konnte natuͤrlicher Weiſe verſichert ſeyn, daß dieſe
Art Gemaͤhlde ziemlich wol erhalten bis auf die
ſpaͤtheſte Nachwelt kommen wuͤrde.

Unter den roͤmiſchen Kayſern hatte man den Ein-
fall dergleichen Schnizwerk an den Schaften großer
zum Andenken vorzuͤglicher Thaten oder Begebenhei-
ten auf freyen Plaͤzen aufgerichteter Saͤulen anzu-
bringen, und noch izt ſtehen in Rom zwey ſolche
Saͤulen, davon die eine dem Antoninus, die andre
dem Trajanus zu Ehren geſezt worden. Aber ſehr
lange vorher hatten die Egyptier flaches Schnizwerk
von Hieroglyphen auf ihre Obelisken eingehauen.

Man unterſcheidet zwey Arten dieſes Schnizwerks;
eine erhabenere, da die Figuren ſtark und oft viel
uͤber die Haͤlfte ihrer Dike aus dem Grund hervor-
ſtehen; und eine flachere, da ſie unter der Haͤlfte
ihrer Dike herausſtehen: jene Art wird von den Jta-
liaͤnern Alto relievo; dieſe baſſo relievo genennt.
Hievon haben wir an einen andern Orte mit meh-
rerm geſprochen. (*)

Schoͤn.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Unterſuchung uͤber die Natur und Beſchaffen-
heit des Schoͤnen, die an ſich ſchon ſchweer genug
iſt, wird dadurch noch betraͤchtlich ſchweerer gemacht,
daß das Wort vielfaͤltig von Dingen gebraucht wird,
die gefallen, ob wir gleich von ihrer Beſchaffenheit
nichts erkennen. Wir muͤſſen alſo vor allen Dingen
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Schoͤ
verſuchen den eigentlichſten und engeſten Sinn des
Worts zu beſtimmen.

So gewiß es iſt, daß alles Schoͤne gefaͤllt, ſo
gewiß iſt es auch, daß nicht alles, was gefaͤllt, im
eigentlichen Sinn ſchoͤn genennt werden kann. Das
Schoͤne macht nur eine von den mehreren Gattun-
gen der Dinge, die gefallen, aus, und um ſie von
andern unterſcheiden zu koͤnnen, muͤſſen wir dieſe
Gattungen alle betrachten. Wir wollen aber, ohne
uns in ſchweerfaͤllige und tiefſinnige Speculationen
einzulaſſen, blos bey dem ſtehen bleiben, was die
allgemeine und taͤgliche Erfahrung daruͤber an die
Hand giebt.

Dieſe lehret uns ohne Zweydeutigkeit, daß einige
Dinge uns gefallen, oder Vergnuͤgen erweken, ob
wir gleich von ihrer Beſchaffenheit nicht den gering-
ſten Begriff haben. Von dieſer Gattung ſind alle
Gegenſtaͤnde, die blos einen angenehmen Reiz in die
Gliedmaaßen der Sinnen verurſachen, an dem die
Ueberlegung und die Kenntnis der Beſchaffenheit des
Gegenſtandes, der ihn verurſachet, nicht den gering-
ſten Antheil haben. Jm Grunde haben wir in die-
ſem Fall nicht an der Sache, die uns das Vergnuͤ-
gen macht, ſondern blos an der Empfindung, die
ſie bewuͤrkt, unſer Wolgefallen. Wir wiſſen ſo gar
ofte nicht wo der Gegenſtand, der uns dieſes Ver-
gnuͤgen macht, iſt, noch was er iſt; wir empfinden
und lieben blos ſeine Wuͤrkung, ohne uns mit ihm
ſelbſt zu beſchaͤftigen. Dies iſt um ſo viel unzwei-
felhafter, da wir mehrere Arten dieſes Vergnuͤgens
mit den Thieren gemein haben, die ſich gewiß nie
bey Betrachtung der Gegenſtaͤnde, die auf ſie wuͤr-
ken, aufhalten. Dieſe Dinge haben eine unmittel-
bare, oder doch nahe mittelbare Beziehung auf unſre
Beduͤrfniſſe, und machen eigentlich die Claſſe aus,
der man den Namen des Guten gegeben hat. Nur
Kinder ſagen von Speiſen, ſie ſchmeken ſchoͤn; wer
mehr unterſcheiden gelernt hat, ſagt, ſie ſchme-
ken gut.

Hingegen giebt es auch Dinge, die nicht eher
gefallen, bis man ſich eine deutliche Vorſtellung
von ihrer Beſchaffenheit gemacht hat. Zuerſt be-
ſchaͤftigen ſie blos den Verſtand, und erſt hernach,
wenn dieſer eine gewiſſe Beſchaffenheit an ihnen deut-
lich erkennet, fangen ſie an zu gefallen. Wer nicht
im Stand iſt, nachzudenken, oder jene Beſchaffen-
heit einzuſehen, dem bleiben ſie voͤllig gleichguͤltig.
Jn dieſe Claſſe gehoͤrt alles, was durch Vollkommen-

heit
(*) S.
Flaches
Schni-
werk.
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[1037[1019]/0466] Schn Schoͤ Schnizwerk. (Bildhauerey.) Unter den Ueberbleibſeln der griechiſchen und roͤmi- ſchen Bildhauerkunſt findet ſich nichts haͤufiger, als hiſtoriſche und allegoriſche Vorſtellungen, da die in Marmor gehauenen Figuren, mehr oder weniger er- haben, aus dem Marmor hervorſtehen. Dieſes Schnizwerk, das die Jtaliaͤner Relievo nennen, ſtellt alſo Schildereyen in Marmor ausgehauen vor, aber ſo, daß die Bilder, wie auf den Muͤnzen, nur zum Theil uͤber den flachen Grund des Marmors heraustreten, daher ſolche Arbeit der Beſchaͤdigung weniger unterworfen iſt, als die Statuen, denen durch Stoßen oder Umſtuͤrzen gemeiniglich die Aerme, Beine oder Koͤpfe abgebrochen werden. Dergleichen Schnizwerk, das die Stelle der Ge- maͤhlde vertreten ſollte, wurd an Tempeln und an- dern großen Gebaͤuden an ſchiklichen Orten in die glatte Mauer, etwas vertieft eingeſezt, und man konnte natuͤrlicher Weiſe verſichert ſeyn, daß dieſe Art Gemaͤhlde ziemlich wol erhalten bis auf die ſpaͤtheſte Nachwelt kommen wuͤrde. Unter den roͤmiſchen Kayſern hatte man den Ein- fall dergleichen Schnizwerk an den Schaften großer zum Andenken vorzuͤglicher Thaten oder Begebenhei- ten auf freyen Plaͤzen aufgerichteter Saͤulen anzu- bringen, und noch izt ſtehen in Rom zwey ſolche Saͤulen, davon die eine dem Antoninus, die andre dem Trajanus zu Ehren geſezt worden. Aber ſehr lange vorher hatten die Egyptier flaches Schnizwerk von Hieroglyphen auf ihre Obelisken eingehauen. Man unterſcheidet zwey Arten dieſes Schnizwerks; eine erhabenere, da die Figuren ſtark und oft viel uͤber die Haͤlfte ihrer Dike aus dem Grund hervor- ſtehen; und eine flachere, da ſie unter der Haͤlfte ihrer Dike herausſtehen: jene Art wird von den Jta- liaͤnern Alto relievo; dieſe baſſo relievo genennt. Hievon haben wir an einen andern Orte mit meh- rerm geſprochen. (*) Schoͤn. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Unterſuchung uͤber die Natur und Beſchaffen- heit des Schoͤnen, die an ſich ſchon ſchweer genug iſt, wird dadurch noch betraͤchtlich ſchweerer gemacht, daß das Wort vielfaͤltig von Dingen gebraucht wird, die gefallen, ob wir gleich von ihrer Beſchaffenheit nichts erkennen. Wir muͤſſen alſo vor allen Dingen verſuchen den eigentlichſten und engeſten Sinn des Worts zu beſtimmen. So gewiß es iſt, daß alles Schoͤne gefaͤllt, ſo gewiß iſt es auch, daß nicht alles, was gefaͤllt, im eigentlichen Sinn ſchoͤn genennt werden kann. Das Schoͤne macht nur eine von den mehreren Gattun- gen der Dinge, die gefallen, aus, und um ſie von andern unterſcheiden zu koͤnnen, muͤſſen wir dieſe Gattungen alle betrachten. Wir wollen aber, ohne uns in ſchweerfaͤllige und tiefſinnige Speculationen einzulaſſen, blos bey dem ſtehen bleiben, was die allgemeine und taͤgliche Erfahrung daruͤber an die Hand giebt. Dieſe lehret uns ohne Zweydeutigkeit, daß einige Dinge uns gefallen, oder Vergnuͤgen erweken, ob wir gleich von ihrer Beſchaffenheit nicht den gering- ſten Begriff haben. Von dieſer Gattung ſind alle Gegenſtaͤnde, die blos einen angenehmen Reiz in die Gliedmaaßen der Sinnen verurſachen, an dem die Ueberlegung und die Kenntnis der Beſchaffenheit des Gegenſtandes, der ihn verurſachet, nicht den gering- ſten Antheil haben. Jm Grunde haben wir in die- ſem Fall nicht an der Sache, die uns das Vergnuͤ- gen macht, ſondern blos an der Empfindung, die ſie bewuͤrkt, unſer Wolgefallen. Wir wiſſen ſo gar ofte nicht wo der Gegenſtand, der uns dieſes Ver- gnuͤgen macht, iſt, noch was er iſt; wir empfinden und lieben blos ſeine Wuͤrkung, ohne uns mit ihm ſelbſt zu beſchaͤftigen. Dies iſt um ſo viel unzwei- felhafter, da wir mehrere Arten dieſes Vergnuͤgens mit den Thieren gemein haben, die ſich gewiß nie bey Betrachtung der Gegenſtaͤnde, die auf ſie wuͤr- ken, aufhalten. Dieſe Dinge haben eine unmittel- bare, oder doch nahe mittelbare Beziehung auf unſre Beduͤrfniſſe, und machen eigentlich die Claſſe aus, der man den Namen des Guten gegeben hat. Nur Kinder ſagen von Speiſen, ſie ſchmeken ſchoͤn; wer mehr unterſcheiden gelernt hat, ſagt, ſie ſchme- ken gut. Hingegen giebt es auch Dinge, die nicht eher gefallen, bis man ſich eine deutliche Vorſtellung von ihrer Beſchaffenheit gemacht hat. Zuerſt be- ſchaͤftigen ſie blos den Verſtand, und erſt hernach, wenn dieſer eine gewiſſe Beſchaffenheit an ihnen deut- lich erkennet, fangen ſie an zu gefallen. Wer nicht im Stand iſt, nachzudenken, oder jene Beſchaffen- heit einzuſehen, dem bleiben ſie voͤllig gleichguͤltig. Jn dieſe Claſſe gehoͤrt alles, was durch Vollkommen- heit (*) S. Flaches Schni- werk. N n n n n n 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1037[1019]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/466>, abgerufen am 29.04.2024.