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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Schö
faßt. Aber wo Mannigfaltigkeit da ist, da würkt
jeder Theil etwas zum Ganzen. Man wird in eine
angenehme Ueberraschung gesezt, zu sehen, wie so
vielerley Dinge, doch nur ein Ding ausmachen. Da-
mit aber das Mannigfaltige durch die Menge nicht
verwirre, muß Ebenmaaß und Ordnung darin seyn.
Diese würken Faßlichkeit in der Menge (*).

3. Von diesem Mannigfaltigen muß kein Theil
besonders und für sich rühren; weil er die Faßlich-
keit des Ganzen hindern würde, indem er die Kraft
der Aufmerksamkeit auf sich zöge. Darum muß, in
Absicht auf die Größe der Theile, jeder ein gutes Ver-
hältniß zum übrigen haben; und in andern Absichten
z. E. Form, Farbe und andrer in die Sinnen oder
Phantasie fallenden Eigenschaften, gute Ueberein-
stimmung oder Harmonie. Wo die Menge kleine-
rer Theile groß ist, da müssen sie in größern Grup-
pen zusammenhangen, damit man nicht das kleine-
ste mit dem Ganzen, sondern mit dem Haupttheil,
davon es ein Glied macht, zu vergleichen habe.
Alles dieses ist in andern Artikeln weiter ausgeführt
worden (*). Dieses erlaubet uns die Eigenschaften
des Schönen hier blos anzuzeigen, ohne die Sachen
weitläuftig auszuführen.

Wo alle diese Eigenschaften sich zusammen fin-
den, da ist Schönheit: Aber darum noch nicht jene
paradiesische oder himmlische Schönheit, deren Ge-
nuß Glükseeligkeit ist. Das Schöne, dessen Eigen-
schaften wir angezeiget haben, erwekt Wolgefallen;
aber es bleibet in der Phantasie und berührt das
Herz nur leicht und gleichsam an der Oberfläche.
Nur Menschen ohne Herz und ohne Verstand, die
ganz Phantasie sind, finden Befriedigung daran.
Virtuosen von der leichtern Art, die gleichsam von
Dünsten und Luft leben, und auch von bloßem Hauch
der Luft in Bewegung gesezt werden, sprechen oft
mit Entzüken von dieser Schönheit; die Täuschung
macht sie schon seelig.

Jm Grund ist dieses Schöne nur die äußere
Form, oder das Kleid, in dem sowol gute als
schlechte Dinge erscheinen können. Es giebt ihnen
noch keinen inneren Werth, sondern dienet blos die
Aufmerksamkeit zu reizen, daß man mit Wolgefal-
len auf diese schön bekleidete Dinge sieht.

Eine höhere Gattung des Schönen entsteht aus
enger Vereinigung des Vollkommenen, des Schö-
nen und des Guten. Diese erwekt nicht blos Wol-
gefallen, sondern wahre innere Wollust, die sich ofte
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Schö
der ganzen Seele bemächtiget, und deren Genuß
Glükseeligkeit ist. Wir begnügen uns die Art und
das eigentliche Wesen dieser Schönheit nur an einem
besonderen Falle zu beschreiben, um ein sinnliches Bild
davon zu geben, vermittelst dessen der Begriff dieser
höhern Schönheit faßlich werde. Dieses Bild ist
der Jnhalt des folgenden Artikels.

Schönheit.

Daß die menschliche Gestalt der schönste aller sicht-
baren Gegenstände sey, därf nicht erwiesen werden;
der Vorzug den diese Schönheit über andre Gattun-
gen behauptet, zeiget sich deutlich genug aus ihrer
Würkung, der in dieser Art nichts zu vergleichen
ist. Die stärksten, die edelsten und die seeligsten
Empfindungen, deren das menschliche Gemüth fä-
hig ist, sind Würkungen dieser Schönheit. Dieses
berechtiget uns, sie zum Bild oder Muster zu neh-
men, an dem wir das Wesen und die Eigenschaften
des höchsten und vollkommensten Schönen anschauend
erkennen können.

Gelinget es uns die Beschaffenheit dieser Schön-
heit zu entwikeln, so haben wir eben dadurch zugleich
den wahren Begriff der höchsten Schönheit gegeben,
die das menschliche Gemüth zu fassen im Stand ist.

Bey der großen Verschiedenheit des Geschmaks
und allen Wiedersprüchen die sich in den Urtheilen
ganzer Völker und einzeler Menschen zeigen, wird
man nach genauerer Untersuchung der Sache finden,
daß jeder Mensch den für den schönsten hält, dessen
Gestalt dem Aug des Beurtheilers den vollkommen-
sten und besten Menschen ankündiget. Können wir
dieses außer Zweifel sezen, so werden wir auch et-
was Gewisses von der absoluten Schönheit der
menschlichen Gestalt anzugeben im Stande seyn.

Gar viel besondere Bemerkungen über die Urtheile
von Schönheit, beweisen den angegebenen allgemei-
nen Saz. Nach aller Menschen Urtheil sind er-
kannte physische Unvollkommenheiten des Körpers
der Schönheit entgegen. Plumpe, zu schnellen und
mannigfaltigen Bewegungen untüchtige Glieder, ein
abgefallener schwacher Körper, Steiffigkeit in Ge-
lenken, kurz, jede Unvollkommenheit, die die Ver-
richtungen, die jedem Menschen nöthig sind, schweer
oder unmöglich machen, ist auch, nach dem allge-
meinen Urtheil der Menschen, ein Fehler gegen die
Schönheit. Daß diese Begriffe überhaupt in unser
Urtheil über Schönheit einfließen, ist ferner daraus

offen-
(*) S.
Ordnung.
(*) S.
Ebenmaaß
Einför-
migkeit;
Glied;
Gruppe;
Harmonie.

[Spaltenumbruch]

Schoͤ
faßt. Aber wo Mannigfaltigkeit da iſt, da wuͤrkt
jeder Theil etwas zum Ganzen. Man wird in eine
angenehme Ueberraſchung geſezt, zu ſehen, wie ſo
vielerley Dinge, doch nur ein Ding ausmachen. Da-
mit aber das Mannigfaltige durch die Menge nicht
verwirre, muß Ebenmaaß und Ordnung darin ſeyn.
Dieſe wuͤrken Faßlichkeit in der Menge (*).

3. Von dieſem Mannigfaltigen muß kein Theil
beſonders und fuͤr ſich ruͤhren; weil er die Faßlich-
keit des Ganzen hindern wuͤrde, indem er die Kraft
der Aufmerkſamkeit auf ſich zoͤge. Darum muß, in
Abſicht auf die Groͤße der Theile, jeder ein gutes Ver-
haͤltniß zum uͤbrigen haben; und in andern Abſichten
z. E. Form, Farbe und andrer in die Sinnen oder
Phantaſie fallenden Eigenſchaften, gute Ueberein-
ſtimmung oder Harmonie. Wo die Menge kleine-
rer Theile groß iſt, da muͤſſen ſie in groͤßern Grup-
pen zuſammenhangen, damit man nicht das kleine-
ſte mit dem Ganzen, ſondern mit dem Haupttheil,
davon es ein Glied macht, zu vergleichen habe.
Alles dieſes iſt in andern Artikeln weiter ausgefuͤhrt
worden (*). Dieſes erlaubet uns die Eigenſchaften
des Schoͤnen hier blos anzuzeigen, ohne die Sachen
weitlaͤuftig auszufuͤhren.

Wo alle dieſe Eigenſchaften ſich zuſammen fin-
den, da iſt Schoͤnheit: Aber darum noch nicht jene
paradieſiſche oder himmliſche Schoͤnheit, deren Ge-
nuß Gluͤkſeeligkeit iſt. Das Schoͤne, deſſen Eigen-
ſchaften wir angezeiget haben, erwekt Wolgefallen;
aber es bleibet in der Phantaſie und beruͤhrt das
Herz nur leicht und gleichſam an der Oberflaͤche.
Nur Menſchen ohne Herz und ohne Verſtand, die
ganz Phantaſie ſind, finden Befriedigung daran.
Virtuoſen von der leichtern Art, die gleichſam von
Duͤnſten und Luft leben, und auch von bloßem Hauch
der Luft in Bewegung geſezt werden, ſprechen oft
mit Entzuͤken von dieſer Schoͤnheit; die Taͤuſchung
macht ſie ſchon ſeelig.

Jm Grund iſt dieſes Schoͤne nur die aͤußere
Form, oder das Kleid, in dem ſowol gute als
ſchlechte Dinge erſcheinen koͤnnen. Es giebt ihnen
noch keinen inneren Werth, ſondern dienet blos die
Aufmerkſamkeit zu reizen, daß man mit Wolgefal-
len auf dieſe ſchoͤn bekleidete Dinge ſieht.

Eine hoͤhere Gattung des Schoͤnen entſteht aus
enger Vereinigung des Vollkommenen, des Schoͤ-
nen und des Guten. Dieſe erwekt nicht blos Wol-
gefallen, ſondern wahre innere Wolluſt, die ſich ofte
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Schoͤ
der ganzen Seele bemaͤchtiget, und deren Genuß
Gluͤkſeeligkeit iſt. Wir begnuͤgen uns die Art und
das eigentliche Weſen dieſer Schoͤnheit nur an einem
beſonderen Falle zu beſchreiben, um ein ſinnliches Bild
davon zu geben, vermittelſt deſſen der Begriff dieſer
hoͤhern Schoͤnheit faßlich werde. Dieſes Bild iſt
der Jnhalt des folgenden Artikels.

Schoͤnheit.

Daß die menſchliche Geſtalt der ſchoͤnſte aller ſicht-
baren Gegenſtaͤnde ſey, daͤrf nicht erwieſen werden;
der Vorzug den dieſe Schoͤnheit uͤber andre Gattun-
gen behauptet, zeiget ſich deutlich genug aus ihrer
Wuͤrkung, der in dieſer Art nichts zu vergleichen
iſt. Die ſtaͤrkſten, die edelſten und die ſeeligſten
Empfindungen, deren das menſchliche Gemuͤth faͤ-
hig iſt, ſind Wuͤrkungen dieſer Schoͤnheit. Dieſes
berechtiget uns, ſie zum Bild oder Muſter zu neh-
men, an dem wir das Weſen und die Eigenſchaften
des hoͤchſten und vollkommenſten Schoͤnen anſchauend
erkennen koͤnnen.

Gelinget es uns die Beſchaffenheit dieſer Schoͤn-
heit zu entwikeln, ſo haben wir eben dadurch zugleich
den wahren Begriff der hoͤchſten Schoͤnheit gegeben,
die das menſchliche Gemuͤth zu faſſen im Stand iſt.

Bey der großen Verſchiedenheit des Geſchmaks
und allen Wiederſpruͤchen die ſich in den Urtheilen
ganzer Voͤlker und einzeler Menſchen zeigen, wird
man nach genauerer Unterſuchung der Sache finden,
daß jeder Menſch den fuͤr den ſchoͤnſten haͤlt, deſſen
Geſtalt dem Aug des Beurtheilers den vollkommen-
ſten und beſten Menſchen ankuͤndiget. Koͤnnen wir
dieſes außer Zweifel ſezen, ſo werden wir auch et-
was Gewiſſes von der abſoluten Schoͤnheit der
menſchlichen Geſtalt anzugeben im Stande ſeyn.

Gar viel beſondere Bemerkungen uͤber die Urtheile
von Schoͤnheit, beweiſen den angegebenen allgemei-
nen Saz. Nach aller Menſchen Urtheil ſind er-
kannte phyſiſche Unvollkommenheiten des Koͤrpers
der Schoͤnheit entgegen. Plumpe, zu ſchnellen und
mannigfaltigen Bewegungen untuͤchtige Glieder, ein
abgefallener ſchwacher Koͤrper, Steiffigkeit in Ge-
lenken, kurz, jede Unvollkommenheit, die die Ver-
richtungen, die jedem Menſchen noͤthig ſind, ſchweer
oder unmoͤglich machen, iſt auch, nach dem allge-
meinen Urtheil der Menſchen, ein Fehler gegen die
Schoͤnheit. Daß dieſe Begriffe uͤberhaupt in unſer
Urtheil uͤber Schoͤnheit einfließen, iſt ferner daraus

offen-
(*) S.
Ordnung.
(*) S.
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[1040[1022]/0469] Schoͤ Schoͤ faßt. Aber wo Mannigfaltigkeit da iſt, da wuͤrkt jeder Theil etwas zum Ganzen. Man wird in eine angenehme Ueberraſchung geſezt, zu ſehen, wie ſo vielerley Dinge, doch nur ein Ding ausmachen. Da- mit aber das Mannigfaltige durch die Menge nicht verwirre, muß Ebenmaaß und Ordnung darin ſeyn. Dieſe wuͤrken Faßlichkeit in der Menge (*). 3. Von dieſem Mannigfaltigen muß kein Theil beſonders und fuͤr ſich ruͤhren; weil er die Faßlich- keit des Ganzen hindern wuͤrde, indem er die Kraft der Aufmerkſamkeit auf ſich zoͤge. Darum muß, in Abſicht auf die Groͤße der Theile, jeder ein gutes Ver- haͤltniß zum uͤbrigen haben; und in andern Abſichten z. E. Form, Farbe und andrer in die Sinnen oder Phantaſie fallenden Eigenſchaften, gute Ueberein- ſtimmung oder Harmonie. Wo die Menge kleine- rer Theile groß iſt, da muͤſſen ſie in groͤßern Grup- pen zuſammenhangen, damit man nicht das kleine- ſte mit dem Ganzen, ſondern mit dem Haupttheil, davon es ein Glied macht, zu vergleichen habe. Alles dieſes iſt in andern Artikeln weiter ausgefuͤhrt worden (*). Dieſes erlaubet uns die Eigenſchaften des Schoͤnen hier blos anzuzeigen, ohne die Sachen weitlaͤuftig auszufuͤhren. Wo alle dieſe Eigenſchaften ſich zuſammen fin- den, da iſt Schoͤnheit: Aber darum noch nicht jene paradieſiſche oder himmliſche Schoͤnheit, deren Ge- nuß Gluͤkſeeligkeit iſt. Das Schoͤne, deſſen Eigen- ſchaften wir angezeiget haben, erwekt Wolgefallen; aber es bleibet in der Phantaſie und beruͤhrt das Herz nur leicht und gleichſam an der Oberflaͤche. Nur Menſchen ohne Herz und ohne Verſtand, die ganz Phantaſie ſind, finden Befriedigung daran. Virtuoſen von der leichtern Art, die gleichſam von Duͤnſten und Luft leben, und auch von bloßem Hauch der Luft in Bewegung geſezt werden, ſprechen oft mit Entzuͤken von dieſer Schoͤnheit; die Taͤuſchung macht ſie ſchon ſeelig. Jm Grund iſt dieſes Schoͤne nur die aͤußere Form, oder das Kleid, in dem ſowol gute als ſchlechte Dinge erſcheinen koͤnnen. Es giebt ihnen noch keinen inneren Werth, ſondern dienet blos die Aufmerkſamkeit zu reizen, daß man mit Wolgefal- len auf dieſe ſchoͤn bekleidete Dinge ſieht. Eine hoͤhere Gattung des Schoͤnen entſteht aus enger Vereinigung des Vollkommenen, des Schoͤ- nen und des Guten. Dieſe erwekt nicht blos Wol- gefallen, ſondern wahre innere Wolluſt, die ſich ofte der ganzen Seele bemaͤchtiget, und deren Genuß Gluͤkſeeligkeit iſt. Wir begnuͤgen uns die Art und das eigentliche Weſen dieſer Schoͤnheit nur an einem beſonderen Falle zu beſchreiben, um ein ſinnliches Bild davon zu geben, vermittelſt deſſen der Begriff dieſer hoͤhern Schoͤnheit faßlich werde. Dieſes Bild iſt der Jnhalt des folgenden Artikels. Schoͤnheit. Daß die menſchliche Geſtalt der ſchoͤnſte aller ſicht- baren Gegenſtaͤnde ſey, daͤrf nicht erwieſen werden; der Vorzug den dieſe Schoͤnheit uͤber andre Gattun- gen behauptet, zeiget ſich deutlich genug aus ihrer Wuͤrkung, der in dieſer Art nichts zu vergleichen iſt. Die ſtaͤrkſten, die edelſten und die ſeeligſten Empfindungen, deren das menſchliche Gemuͤth faͤ- hig iſt, ſind Wuͤrkungen dieſer Schoͤnheit. Dieſes berechtiget uns, ſie zum Bild oder Muſter zu neh- men, an dem wir das Weſen und die Eigenſchaften des hoͤchſten und vollkommenſten Schoͤnen anſchauend erkennen koͤnnen. Gelinget es uns die Beſchaffenheit dieſer Schoͤn- heit zu entwikeln, ſo haben wir eben dadurch zugleich den wahren Begriff der hoͤchſten Schoͤnheit gegeben, die das menſchliche Gemuͤth zu faſſen im Stand iſt. Bey der großen Verſchiedenheit des Geſchmaks und allen Wiederſpruͤchen die ſich in den Urtheilen ganzer Voͤlker und einzeler Menſchen zeigen, wird man nach genauerer Unterſuchung der Sache finden, daß jeder Menſch den fuͤr den ſchoͤnſten haͤlt, deſſen Geſtalt dem Aug des Beurtheilers den vollkommen- ſten und beſten Menſchen ankuͤndiget. Koͤnnen wir dieſes außer Zweifel ſezen, ſo werden wir auch et- was Gewiſſes von der abſoluten Schoͤnheit der menſchlichen Geſtalt anzugeben im Stande ſeyn. Gar viel beſondere Bemerkungen uͤber die Urtheile von Schoͤnheit, beweiſen den angegebenen allgemei- nen Saz. Nach aller Menſchen Urtheil ſind er- kannte phyſiſche Unvollkommenheiten des Koͤrpers der Schoͤnheit entgegen. Plumpe, zu ſchnellen und mannigfaltigen Bewegungen untuͤchtige Glieder, ein abgefallener ſchwacher Koͤrper, Steiffigkeit in Ge- lenken, kurz, jede Unvollkommenheit, die die Ver- richtungen, die jedem Menſchen noͤthig ſind, ſchweer oder unmoͤglich machen, iſt auch, nach dem allge- meinen Urtheil der Menſchen, ein Fehler gegen die Schoͤnheit. Daß dieſe Begriffe uͤberhaupt in unſer Urtheil uͤber Schoͤnheit einfließen, iſt ferner daraus offen- (*) S. Ordnung. (*) S. Ebenmaaß Einfoͤr- migkeit; Glied; Gruppe; Harmonie.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1040[1022]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/469>, abgerufen am 29.04.2024.