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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Sit
die, eine Erzählung, oder irgend ein anderes Werk
der Kunst, darin blos feinere sittliche Gegenstände
geschildert worden, wie belustigend oder rührend,
wie edel oder wie groß sie auch an sich seyen, oder
wie fürtrefflich der Künstler sie behandelt habe, wird
Menschen von etwas stumpfen Sinnen wenig gefal-
len; desto mehr Vergnügen aber findet der feinere
Geschmak darin. So gefällt auch eine feuerige oder
pathetische Schreibart dem gemeinesten Leser, aber
die blos sittliche, gelassene, wie fürtrefflich sie auch
sonst sey, hat nur den Beyfall der Kenner.

Es ist aber auch leicht zu sehen, daß weit mehr
dazu gehört durch das Sittliche, als durch das Lei-
denschaftliche zu gefallen. Bey diesem ist es ofte
schon hinreichend, daß man lebhaft empfinde, oder
einen sehr stark in die Augen fallenden Gegenstand
ergreiffe; jenes aber erfodert schon feinere Bemer-
kungen, und folglich auch zum Ausdruk mehr Kennt-
niß und Kunst. Einem Mahler muß es sehr viel
leichter seyn einen Menschen zu zeichnen, der sich
vor heftigen Schmerzen windet, und das Gesicht
verzerret, als einen, an dem man bey ruhiger Stel-
lung und gelassener Mine allerhand sorgsame Gedan-
ken wahrnehmen könnte. Und so ist es mit jedem
andern blos sittlichen Gegenstande beschaffen.

Das Leidenschaftliche erwekt mehr Empfindung
als Gedanken; beym Sittlichen denkt man mehr, als
man empfindet. Deswegen kann man sich auch
mit diesem weit länger und anhaltender beschäftigen,
als mit jenem. Denn in Gedanken herrscht weit
mehr Mannigfaltigkeit, als in Empfindungen;
und weil sie nicht so stark angreifen, als diese, so
ermüden sie auch weniger.

Damit wollen wir gar nicht sagen, daß für die
Werke des Geschmaks jeder sittliche Gegenstand, je-
dem leidenschaftlichen vorzuziehen sey. Es kommt
hier auf die Absicht des Werks und auf die Personen
an, für die es bestimmt ist. Ein Redner, der vor
der großen Menge spricht, muß seinen Stoff ganz
anders wählen und behandeln, als wenn er es blos
mit feinern denkenden Köpfen zu thun hat; und
wenn es darauf ankommt schnell, stark und allen-
falls auch nur vorübergehend zu rühren, so muß
man ganz anders verfahren, als wenn man den Zu-
hörer auf immer belehren, oder überzeugen will.
Eine ruhige und sittliche Schreibart, auch ein münd-
licher Vortrag von diesem Charakter, schiket sich zu
einem ruhigen und sittlichen Jnhalt, aber feuerig
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Sit
und leidenschaftlich muß beydes seyn, wenn der
Stoff der Rede stark leidenschaftlich ist. Ueber das
Sittliche der Schreibart des Redners giebt Quintilian
einige gründliche Lehren, auf die wir uns Kürze hal-
ber beziehen. (*)

Sol.
(Musik.)

Die fünfte Sylbe der Aretinischen Solmisation, die
die Quinte des Hexachords bezeichnete, wenn dessen
Umfang von sechs Tönen nicht überschritten wurde.
Jn der heutigen Solmisation bezeichnet sie unser G;
und bey denen, die die Transposition derselben in
alle Tonarten annehmen, wovon in dem folgenden
Artikel gesprochen wird, ist sie allezeit die Domi-
nante der Tonica.

Solfeggiren. Solmisiren.
(Musik.)

Bedeutet ursprünglich, vermittelst der sechs areti-
nischen Sylben, eine Melodie singen; es wird aber
auch überhaupt von jedem Notenlesen oder Singen
gebraucht, wobey man den Noten gewisse Namen
giebt. Jn diesem weiten Sinne nehmen wir das
Wort in diesem Artikel, in welchem von diesen er-
sten Uebungen der künftigen Sänger soll gesprochen
werden. Anfänger der Singkunst machen mit dem
Solfeggiren den Anfang, und werden auf mannig-
faltige Art so lange darin geübt, bis sie nach Noten
singen, oder, wie man sagt, treffen können.

Jn den mehresten Orten Deutschlands bedient
man sich zum Solfeggiren der nämlichen Sylben
und Buchstaben, womit die Töne benennet werden.
Man singt die Tonleiter von C über c d e f g a h cn
und die Fortschreitungen durch halbe Töne über c cis
d dis e u. s. w. ohne dazu andere Sylben zu gebrau-
chen. Diese Methode hat den Vortheil, daß das
Gedächtniß des Singschülers nicht mit zweyerley
Benennungen desselben Tones beschweret wird: in-
dessen ist nicht zu leugnen, daß einige Mitlauter und
die vielen i in cis, dis, fis u. a. der Stimme im
Singen etwas hart und unbequem fallen. Doch so
arg ist es hiemit nicht, als Rousseau es vielleicht
meint, wenn er sagt, daß die Methode der Deut-
schen so hart und so voller Verwirrung sey, daß
man ein Deutscher seyn müsse, um danach solfeggi-
ren zu können und demohngeachtet ein Meister der
Kunst zu werden (*). Ein Franzose hat freylich

können
(*) Inst. L.
VI. c
2.
(*) Dict.
de Musi-
que. Art.
Solfier.

[Spaltenumbruch]

Sit
die, eine Erzaͤhlung, oder irgend ein anderes Werk
der Kunſt, darin blos feinere ſittliche Gegenſtaͤnde
geſchildert worden, wie beluſtigend oder ruͤhrend,
wie edel oder wie groß ſie auch an ſich ſeyen, oder
wie fuͤrtrefflich der Kuͤnſtler ſie behandelt habe, wird
Menſchen von etwas ſtumpfen Sinnen wenig gefal-
len; deſto mehr Vergnuͤgen aber findet der feinere
Geſchmak darin. So gefaͤllt auch eine feuerige oder
pathetiſche Schreibart dem gemeineſten Leſer, aber
die blos ſittliche, gelaſſene, wie fuͤrtrefflich ſie auch
ſonſt ſey, hat nur den Beyfall der Kenner.

Es iſt aber auch leicht zu ſehen, daß weit mehr
dazu gehoͤrt durch das Sittliche, als durch das Lei-
denſchaftliche zu gefallen. Bey dieſem iſt es ofte
ſchon hinreichend, daß man lebhaft empfinde, oder
einen ſehr ſtark in die Augen fallenden Gegenſtand
ergreiffe; jenes aber erfodert ſchon feinere Bemer-
kungen, und folglich auch zum Ausdruk mehr Kennt-
niß und Kunſt. Einem Mahler muß es ſehr viel
leichter ſeyn einen Menſchen zu zeichnen, der ſich
vor heftigen Schmerzen windet, und das Geſicht
verzerret, als einen, an dem man bey ruhiger Stel-
lung und gelaſſener Mine allerhand ſorgſame Gedan-
ken wahrnehmen koͤnnte. Und ſo iſt es mit jedem
andern blos ſittlichen Gegenſtande beſchaffen.

Das Leidenſchaftliche erwekt mehr Empfindung
als Gedanken; beym Sittlichen denkt man mehr, als
man empfindet. Deswegen kann man ſich auch
mit dieſem weit laͤnger und anhaltender beſchaͤftigen,
als mit jenem. Denn in Gedanken herrſcht weit
mehr Mannigfaltigkeit, als in Empfindungen;
und weil ſie nicht ſo ſtark angreifen, als dieſe, ſo
ermuͤden ſie auch weniger.

Damit wollen wir gar nicht ſagen, daß fuͤr die
Werke des Geſchmaks jeder ſittliche Gegenſtand, je-
dem leidenſchaftlichen vorzuziehen ſey. Es kommt
hier auf die Abſicht des Werks und auf die Perſonen
an, fuͤr die es beſtimmt iſt. Ein Redner, der vor
der großen Menge ſpricht, muß ſeinen Stoff ganz
anders waͤhlen und behandeln, als wenn er es blos
mit feinern denkenden Koͤpfen zu thun hat; und
wenn es darauf ankommt ſchnell, ſtark und allen-
falls auch nur voruͤbergehend zu ruͤhren, ſo muß
man ganz anders verfahren, als wenn man den Zu-
hoͤrer auf immer belehren, oder uͤberzeugen will.
Eine ruhige und ſittliche Schreibart, auch ein muͤnd-
licher Vortrag von dieſem Charakter, ſchiket ſich zu
einem ruhigen und ſittlichen Jnhalt, aber feuerig
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Sit
und leidenſchaftlich muß beydes ſeyn, wenn der
Stoff der Rede ſtark leidenſchaftlich iſt. Ueber das
Sittliche der Schreibart des Redners giebt Quintilian
einige gruͤndliche Lehren, auf die wir uns Kuͤrze hal-
ber beziehen. (*)

Sol.
(Muſik.)

Die fuͤnfte Sylbe der Aretiniſchen Solmiſation, die
die Quinte des Hexachords bezeichnete, wenn deſſen
Umfang von ſechs Toͤnen nicht uͤberſchritten wurde.
Jn der heutigen Solmiſation bezeichnet ſie unſer G;
und bey denen, die die Transpoſition derſelben in
alle Tonarten annehmen, wovon in dem folgenden
Artikel geſprochen wird, iſt ſie allezeit die Domi-
nante der Tonica.

Solfeggiren. Solmiſiren.
(Muſik.)

Bedeutet urſpruͤnglich, vermittelſt der ſechs areti-
niſchen Sylben, eine Melodie ſingen; es wird aber
auch uͤberhaupt von jedem Notenleſen oder Singen
gebraucht, wobey man den Noten gewiſſe Namen
giebt. Jn dieſem weiten Sinne nehmen wir das
Wort in dieſem Artikel, in welchem von dieſen er-
ſten Uebungen der kuͤnftigen Saͤnger ſoll geſprochen
werden. Anfaͤnger der Singkunſt machen mit dem
Solfeggiren den Anfang, und werden auf mannig-
faltige Art ſo lange darin geuͤbt, bis ſie nach Noten
ſingen, oder, wie man ſagt, treffen koͤnnen.

Jn den mehreſten Orten Deutſchlands bedient
man ſich zum Solfeggiren der naͤmlichen Sylben
und Buchſtaben, womit die Toͤne benennet werden.
Man ſingt die Tonleiter von C uͤber c d e f g a h 𝄀 c̄
und die Fortſchreitungen durch halbe Toͤne uͤber c cis
d dis e u. ſ. w. ohne dazu andere Sylben zu gebrau-
chen. Dieſe Methode hat den Vortheil, daß das
Gedaͤchtniß des Singſchuͤlers nicht mit zweyerley
Benennungen deſſelben Tones beſchweret wird: in-
deſſen iſt nicht zu leugnen, daß einige Mitlauter und
die vielen i in cis, dis, fis u. a. der Stimme im
Singen etwas hart und unbequem fallen. Doch ſo
arg iſt es hiemit nicht, als Rouſſeau es vielleicht
meint, wenn er ſagt, daß die Methode der Deut-
ſchen ſo hart und ſo voller Verwirrung ſey, daß
man ein Deutſcher ſeyn muͤſſe, um danach ſolfeggi-
ren zu koͤnnen und demohngeachtet ein Meiſter der
Kunſt zu werden (*). Ein Franzoſe hat freylich

koͤnnen
(*) Inſt. L.
VI. c
2.
(*) Dict.
de Muſi-
que. Art.
Solfier.
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[1090[1072]/0519] Sit Sit die, eine Erzaͤhlung, oder irgend ein anderes Werk der Kunſt, darin blos feinere ſittliche Gegenſtaͤnde geſchildert worden, wie beluſtigend oder ruͤhrend, wie edel oder wie groß ſie auch an ſich ſeyen, oder wie fuͤrtrefflich der Kuͤnſtler ſie behandelt habe, wird Menſchen von etwas ſtumpfen Sinnen wenig gefal- len; deſto mehr Vergnuͤgen aber findet der feinere Geſchmak darin. So gefaͤllt auch eine feuerige oder pathetiſche Schreibart dem gemeineſten Leſer, aber die blos ſittliche, gelaſſene, wie fuͤrtrefflich ſie auch ſonſt ſey, hat nur den Beyfall der Kenner. Es iſt aber auch leicht zu ſehen, daß weit mehr dazu gehoͤrt durch das Sittliche, als durch das Lei- denſchaftliche zu gefallen. Bey dieſem iſt es ofte ſchon hinreichend, daß man lebhaft empfinde, oder einen ſehr ſtark in die Augen fallenden Gegenſtand ergreiffe; jenes aber erfodert ſchon feinere Bemer- kungen, und folglich auch zum Ausdruk mehr Kennt- niß und Kunſt. Einem Mahler muß es ſehr viel leichter ſeyn einen Menſchen zu zeichnen, der ſich vor heftigen Schmerzen windet, und das Geſicht verzerret, als einen, an dem man bey ruhiger Stel- lung und gelaſſener Mine allerhand ſorgſame Gedan- ken wahrnehmen koͤnnte. Und ſo iſt es mit jedem andern blos ſittlichen Gegenſtande beſchaffen. Das Leidenſchaftliche erwekt mehr Empfindung als Gedanken; beym Sittlichen denkt man mehr, als man empfindet. Deswegen kann man ſich auch mit dieſem weit laͤnger und anhaltender beſchaͤftigen, als mit jenem. Denn in Gedanken herrſcht weit mehr Mannigfaltigkeit, als in Empfindungen; und weil ſie nicht ſo ſtark angreifen, als dieſe, ſo ermuͤden ſie auch weniger. Damit wollen wir gar nicht ſagen, daß fuͤr die Werke des Geſchmaks jeder ſittliche Gegenſtand, je- dem leidenſchaftlichen vorzuziehen ſey. Es kommt hier auf die Abſicht des Werks und auf die Perſonen an, fuͤr die es beſtimmt iſt. Ein Redner, der vor der großen Menge ſpricht, muß ſeinen Stoff ganz anders waͤhlen und behandeln, als wenn er es blos mit feinern denkenden Koͤpfen zu thun hat; und wenn es darauf ankommt ſchnell, ſtark und allen- falls auch nur voruͤbergehend zu ruͤhren, ſo muß man ganz anders verfahren, als wenn man den Zu- hoͤrer auf immer belehren, oder uͤberzeugen will. Eine ruhige und ſittliche Schreibart, auch ein muͤnd- licher Vortrag von dieſem Charakter, ſchiket ſich zu einem ruhigen und ſittlichen Jnhalt, aber feuerig und leidenſchaftlich muß beydes ſeyn, wenn der Stoff der Rede ſtark leidenſchaftlich iſt. Ueber das Sittliche der Schreibart des Redners giebt Quintilian einige gruͤndliche Lehren, auf die wir uns Kuͤrze hal- ber beziehen. (*) Sol. (Muſik.) Die fuͤnfte Sylbe der Aretiniſchen Solmiſation, die die Quinte des Hexachords bezeichnete, wenn deſſen Umfang von ſechs Toͤnen nicht uͤberſchritten wurde. Jn der heutigen Solmiſation bezeichnet ſie unſer G; und bey denen, die die Transpoſition derſelben in alle Tonarten annehmen, wovon in dem folgenden Artikel geſprochen wird, iſt ſie allezeit die Domi- nante der Tonica. Solfeggiren. Solmiſiren. (Muſik.) Bedeutet urſpruͤnglich, vermittelſt der ſechs areti- niſchen Sylben, eine Melodie ſingen; es wird aber auch uͤberhaupt von jedem Notenleſen oder Singen gebraucht, wobey man den Noten gewiſſe Namen giebt. Jn dieſem weiten Sinne nehmen wir das Wort in dieſem Artikel, in welchem von dieſen er- ſten Uebungen der kuͤnftigen Saͤnger ſoll geſprochen werden. Anfaͤnger der Singkunſt machen mit dem Solfeggiren den Anfang, und werden auf mannig- faltige Art ſo lange darin geuͤbt, bis ſie nach Noten ſingen, oder, wie man ſagt, treffen koͤnnen. Jn den mehreſten Orten Deutſchlands bedient man ſich zum Solfeggiren der naͤmlichen Sylben und Buchſtaben, womit die Toͤne benennet werden. Man ſingt die Tonleiter von C uͤber c d e f g a h 𝄀 c̄ und die Fortſchreitungen durch halbe Toͤne uͤber c cis d dis e u. ſ. w. ohne dazu andere Sylben zu gebrau- chen. Dieſe Methode hat den Vortheil, daß das Gedaͤchtniß des Singſchuͤlers nicht mit zweyerley Benennungen deſſelben Tones beſchweret wird: in- deſſen iſt nicht zu leugnen, daß einige Mitlauter und die vielen i in cis, dis, fis u. a. der Stimme im Singen etwas hart und unbequem fallen. Doch ſo arg iſt es hiemit nicht, als Rouſſeau es vielleicht meint, wenn er ſagt, daß die Methode der Deut- ſchen ſo hart und ſo voller Verwirrung ſey, daß man ein Deutſcher ſeyn muͤſſe, um danach ſolfeggi- ren zu koͤnnen und demohngeachtet ein Meiſter der Kunſt zu werden (*). Ein Franzoſe hat freylich koͤnnen (*) Inſt. L. VI. c 2. (*) Dict. de Muſi- que. Art. Solfier.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1090[1072]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/519>, abgerufen am 29.04.2024.