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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Achilles besser fortschreitend, Ulysses aber besser ste-
hend, oder sizend gebildet werden. Bey ruhiger
Stellung ohne Handlung wird man auch natürli-
cher Weise, auf die Beobachtung des ganzen Cha-
rakters, nicht auf eine einzige Handlung geführet.

Man siehet aber hieraus leicht, daß eine vollkom-
mene Statue das höchste Werk des Genies und der
Kunst sey. Darum haben auch die Griechen einen
Phidias eben so bewundert, als irgend einen andern
großen Geist. Aber da es gegenwärtig so ungewöhn-
lich ist, Verdienste fürtreflicher Männer durch Statuen
zu verehren, und wenn es noch geschieht, der gan-
zen Veranstaltung die Hoheit und Feyerlichkeit, die
zu solchen öffentlichen Handlungen nothwendig erfo-
dert wird, meistentheils fehlet, folglich die Bildhauer-
kunst bey uns nicht in dem Glanz erscheinet, der ihr
nöthig wäre, um große dazu tüchtige Genie in die
rechte Würksamkeit zu sezen; so dürfen wir es uns
nicht befremden lassen, daß in dieser Art so sehr sel-
ten etwas erscheinet, das den guten Statuen des Al-
terthums könnte zur Seite gesezt werden.

Steiff.
(Schöne Künste.)

Es wird im eigentlichen Sinn von Menschen und
Thieren genommen, denen ein Theil der Gelenkig-
keit fehlt. Also braucht man es in den zeichnenden
Künsten von den Figuren, welche so gezeichnet sind,
daß man ihnen die Unbeweglichkeit, oder den Man-
gel der Leichtigkeit der Bewegung ansehen kann.

Hernach kann der Begriff auf alle Dinge, in denen
Bewegung, oder etwas der Bewegung ähnliches ist,
angewendet werden. Steiffe Schreibart, ein steif-
fer Vers, eine steiffe Melodie. Man braucht es
auch von der ganzen Gemüthsart, die man steif
nennt, wenn der Mensch nie, wo es seyn sollte,
nachgeben, oder sich auf eine andere, als ihm ge-
wöhnliche Seite lenken kann.

Daß das Steiffe des Körpers der Schönheit ent-
gegen sey, fühlt Jedermann, und der Grund davon
ist auch anderswo von uns angezeiget worden. (*)
Jn den zeichnenden Künsten hat man sich also sorg-
fältig vor allem Steifen zu hüten, es sey denn, daß
man nach der Absicht des Werks einen häßlichen
und ungeschikten Menschen vorzustellen habe.

Jn redenden Künsten wird man steiff, wenn man
entweder seine Materie nicht vollkommen besizt, und
etwas sagen will, was man selbst nicht mit voller
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Klarheit sich vorstellt; oder wenn man sich zwingt
kürzer zu seyn, als es der Gedanken verträgt, oder
endlich auch, wenn man die Sprach nicht völlig in
seiner Gewalt hat. Aehnliche Ursachen bringen auch
das Steiffe in der Musik hervor. Eine steiffe Mo-
dulation, ein steiffer Gesang, entstehen gemeiniglich
daher, daß der Tonsezer keine hinlängliche Kenntnis
der Harmonie hat, und deswegen Töne, oder Har-
monien auf einander folgen läßt, zwischen denen die
genaue Verbindung fehlet.

Eine sehr genaue und vertraute Bekanntschaft
mit der Materie, die man zu behandeln hat, ist
das sicherste Mittel das Steiffe zu vermeiden. Wer
von Sachen spricht, die ihm selbst noch etwas neu
und unbekannt sind, muß sich nothwendig bisweilen
etwas steiff ausdrüken. Man versteht insgemein
das Horazische nonum prematur in annum nur von
der Ausarbeitung der Werke des Geschmaks; es ist
aber noch wichtiger, es auf das Ueberdenken der
Materie, oder des Stoffs, anzuwenden. Zwar
haben leichtsinnige Köpfe die Gabe, von Dingen, die
sie nur halb erkennen, mit Dreistigkeit und einer
scheinbaren Leichtigkeit zu sprechen, so daß man sie
keiner Steiffigkeit beschuldigen kann. Aber denn
fehlet es an Richtigkeit und Wahrheit. Es ist nicht
wol möglich ohne Steiffigkeit sehr bestimmt und gründ-
lich zu seyn, wenn man nicht zugleich seine Materie
lang und vollkommen überdacht hat.

Steinschneider; Stempelschneider.

Wir nehmen diese beyden Arten der Künstler hier
zusammen; weil unter ihren Künsten eine genaue
Verwandschaft ist und, wenigstens in den neuern
Zeiten, Viele beyde zugleich getrieben haben, auch
in beyden groß gewesen sind, obgleich die Behand-
lung der Arbeit sehr verschieden ist. Von diesen
beyden Künsten und ihren Werken, den geschnittenen
Steinen und den Schaumünzen haben wir bereits
in besondern Artikeln gesprochen, also bleibet uns
hier nur übrig von den Künstlern selbst zu sprechen.

Daß das Alterthum viel sehr große Meister in
beyden Künsten beseßen habe, ist aus der beträchtli-
chen Menge fürtreflicher Werke, die noch vorhanden
sind, hinlänglich abzunehmen. Ob aber das Stem-
pelschneiden bey den Alten eine besondere Kunst gewe-
sen, oder ob die Steinschneider auch die Stempel zu
den Münzen gemacht haben, ist mir nicht bekannt.
Aus dem Edikt des Alexanders, dessen Plinius und

andere
(*) S.
Schönheit.

[Spaltenumbruch]

Ste
Achilles beſſer fortſchreitend, Ulyſſes aber beſſer ſte-
hend, oder ſizend gebildet werden. Bey ruhiger
Stellung ohne Handlung wird man auch natuͤrli-
cher Weiſe, auf die Beobachtung des ganzen Cha-
rakters, nicht auf eine einzige Handlung gefuͤhret.

Man ſiehet aber hieraus leicht, daß eine vollkom-
mene Statue das hoͤchſte Werk des Genies und der
Kunſt ſey. Darum haben auch die Griechen einen
Phidias eben ſo bewundert, als irgend einen andern
großen Geiſt. Aber da es gegenwaͤrtig ſo ungewoͤhn-
lich iſt, Verdienſte fuͤrtreflicher Maͤnner durch Statuen
zu verehren, und wenn es noch geſchieht, der gan-
zen Veranſtaltung die Hoheit und Feyerlichkeit, die
zu ſolchen oͤffentlichen Handlungen nothwendig erfo-
dert wird, meiſtentheils fehlet, folglich die Bildhauer-
kunſt bey uns nicht in dem Glanz erſcheinet, der ihr
noͤthig waͤre, um große dazu tuͤchtige Genie in die
rechte Wuͤrkſamkeit zu ſezen; ſo duͤrfen wir es uns
nicht befremden laſſen, daß in dieſer Art ſo ſehr ſel-
ten etwas erſcheinet, das den guten Statuen des Al-
terthums koͤnnte zur Seite geſezt werden.

Steiff.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Es wird im eigentlichen Sinn von Menſchen und
Thieren genommen, denen ein Theil der Gelenkig-
keit fehlt. Alſo braucht man es in den zeichnenden
Kuͤnſten von den Figuren, welche ſo gezeichnet ſind,
daß man ihnen die Unbeweglichkeit, oder den Man-
gel der Leichtigkeit der Bewegung anſehen kann.

Hernach kann der Begriff auf alle Dinge, in denen
Bewegung, oder etwas der Bewegung aͤhnliches iſt,
angewendet werden. Steiffe Schreibart, ein ſteif-
fer Vers, eine ſteiffe Melodie. Man braucht es
auch von der ganzen Gemuͤthsart, die man ſteif
nennt, wenn der Menſch nie, wo es ſeyn ſollte,
nachgeben, oder ſich auf eine andere, als ihm ge-
woͤhnliche Seite lenken kann.

Daß das Steiffe des Koͤrpers der Schoͤnheit ent-
gegen ſey, fuͤhlt Jedermann, und der Grund davon
iſt auch anderswo von uns angezeiget worden. (*)
Jn den zeichnenden Kuͤnſten hat man ſich alſo ſorg-
faͤltig vor allem Steifen zu huͤten, es ſey denn, daß
man nach der Abſicht des Werks einen haͤßlichen
und ungeſchikten Menſchen vorzuſtellen habe.

Jn redenden Kuͤnſten wird man ſteiff, wenn man
entweder ſeine Materie nicht vollkommen beſizt, und
etwas ſagen will, was man ſelbſt nicht mit voller
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Ste
Klarheit ſich vorſtellt; oder wenn man ſich zwingt
kuͤrzer zu ſeyn, als es der Gedanken vertraͤgt, oder
endlich auch, wenn man die Sprach nicht voͤllig in
ſeiner Gewalt hat. Aehnliche Urſachen bringen auch
das Steiffe in der Muſik hervor. Eine ſteiffe Mo-
dulation, ein ſteiffer Geſang, entſtehen gemeiniglich
daher, daß der Tonſezer keine hinlaͤngliche Kenntnis
der Harmonie hat, und deswegen Toͤne, oder Har-
monien auf einander folgen laͤßt, zwiſchen denen die
genaue Verbindung fehlet.

Eine ſehr genaue und vertraute Bekanntſchaft
mit der Materie, die man zu behandeln hat, iſt
das ſicherſte Mittel das Steiffe zu vermeiden. Wer
von Sachen ſpricht, die ihm ſelbſt noch etwas neu
und unbekannt ſind, muß ſich nothwendig bisweilen
etwas ſteiff ausdruͤken. Man verſteht insgemein
das Horaziſche nonum prematur in annum nur von
der Ausarbeitung der Werke des Geſchmaks; es iſt
aber noch wichtiger, es auf das Ueberdenken der
Materie, oder des Stoffs, anzuwenden. Zwar
haben leichtſinnige Koͤpfe die Gabe, von Dingen, die
ſie nur halb erkennen, mit Dreiſtigkeit und einer
ſcheinbaren Leichtigkeit zu ſprechen, ſo daß man ſie
keiner Steiffigkeit beſchuldigen kann. Aber denn
fehlet es an Richtigkeit und Wahrheit. Es iſt nicht
wol moͤglich ohne Steiffigkeit ſehr beſtimmt und gruͤnd-
lich zu ſeyn, wenn man nicht zugleich ſeine Materie
lang und vollkommen uͤberdacht hat.

Steinſchneider; Stempelſchneider.

Wir nehmen dieſe beyden Arten der Kuͤnſtler hier
zuſammen; weil unter ihren Kuͤnſten eine genaue
Verwandſchaft iſt und, wenigſtens in den neuern
Zeiten, Viele beyde zugleich getrieben haben, auch
in beyden groß geweſen ſind, obgleich die Behand-
lung der Arbeit ſehr verſchieden iſt. Von dieſen
beyden Kuͤnſten und ihren Werken, den geſchnittenen
Steinen und den Schaumuͤnzen haben wir bereits
in beſondern Artikeln geſprochen, alſo bleibet uns
hier nur uͤbrig von den Kuͤnſtlern ſelbſt zu ſprechen.

Daß das Alterthum viel ſehr große Meiſter in
beyden Kuͤnſten beſeßen habe, iſt aus der betraͤchtli-
chen Menge fuͤrtreflicher Werke, die noch vorhanden
ſind, hinlaͤnglich abzunehmen. Ob aber das Stem-
pelſchneiden bey den Alten eine beſondere Kunſt gewe-
ſen, oder ob die Steinſchneider auch die Stempel zu
den Muͤnzen gemacht haben, iſt mir nicht bekannt.
Aus dem Edikt des Alexanders, deſſen Plinius und

andere
(*) S.
Schoͤnheit.
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[1108[1090]/0537] Ste Ste Achilles beſſer fortſchreitend, Ulyſſes aber beſſer ſte- hend, oder ſizend gebildet werden. Bey ruhiger Stellung ohne Handlung wird man auch natuͤrli- cher Weiſe, auf die Beobachtung des ganzen Cha- rakters, nicht auf eine einzige Handlung gefuͤhret. Man ſiehet aber hieraus leicht, daß eine vollkom- mene Statue das hoͤchſte Werk des Genies und der Kunſt ſey. Darum haben auch die Griechen einen Phidias eben ſo bewundert, als irgend einen andern großen Geiſt. Aber da es gegenwaͤrtig ſo ungewoͤhn- lich iſt, Verdienſte fuͤrtreflicher Maͤnner durch Statuen zu verehren, und wenn es noch geſchieht, der gan- zen Veranſtaltung die Hoheit und Feyerlichkeit, die zu ſolchen oͤffentlichen Handlungen nothwendig erfo- dert wird, meiſtentheils fehlet, folglich die Bildhauer- kunſt bey uns nicht in dem Glanz erſcheinet, der ihr noͤthig waͤre, um große dazu tuͤchtige Genie in die rechte Wuͤrkſamkeit zu ſezen; ſo duͤrfen wir es uns nicht befremden laſſen, daß in dieſer Art ſo ſehr ſel- ten etwas erſcheinet, das den guten Statuen des Al- terthums koͤnnte zur Seite geſezt werden. Steiff. (Schoͤne Kuͤnſte.) Es wird im eigentlichen Sinn von Menſchen und Thieren genommen, denen ein Theil der Gelenkig- keit fehlt. Alſo braucht man es in den zeichnenden Kuͤnſten von den Figuren, welche ſo gezeichnet ſind, daß man ihnen die Unbeweglichkeit, oder den Man- gel der Leichtigkeit der Bewegung anſehen kann. Hernach kann der Begriff auf alle Dinge, in denen Bewegung, oder etwas der Bewegung aͤhnliches iſt, angewendet werden. Steiffe Schreibart, ein ſteif- fer Vers, eine ſteiffe Melodie. Man braucht es auch von der ganzen Gemuͤthsart, die man ſteif nennt, wenn der Menſch nie, wo es ſeyn ſollte, nachgeben, oder ſich auf eine andere, als ihm ge- woͤhnliche Seite lenken kann. Daß das Steiffe des Koͤrpers der Schoͤnheit ent- gegen ſey, fuͤhlt Jedermann, und der Grund davon iſt auch anderswo von uns angezeiget worden. (*) Jn den zeichnenden Kuͤnſten hat man ſich alſo ſorg- faͤltig vor allem Steifen zu huͤten, es ſey denn, daß man nach der Abſicht des Werks einen haͤßlichen und ungeſchikten Menſchen vorzuſtellen habe. Jn redenden Kuͤnſten wird man ſteiff, wenn man entweder ſeine Materie nicht vollkommen beſizt, und etwas ſagen will, was man ſelbſt nicht mit voller Klarheit ſich vorſtellt; oder wenn man ſich zwingt kuͤrzer zu ſeyn, als es der Gedanken vertraͤgt, oder endlich auch, wenn man die Sprach nicht voͤllig in ſeiner Gewalt hat. Aehnliche Urſachen bringen auch das Steiffe in der Muſik hervor. Eine ſteiffe Mo- dulation, ein ſteiffer Geſang, entſtehen gemeiniglich daher, daß der Tonſezer keine hinlaͤngliche Kenntnis der Harmonie hat, und deswegen Toͤne, oder Har- monien auf einander folgen laͤßt, zwiſchen denen die genaue Verbindung fehlet. Eine ſehr genaue und vertraute Bekanntſchaft mit der Materie, die man zu behandeln hat, iſt das ſicherſte Mittel das Steiffe zu vermeiden. Wer von Sachen ſpricht, die ihm ſelbſt noch etwas neu und unbekannt ſind, muß ſich nothwendig bisweilen etwas ſteiff ausdruͤken. Man verſteht insgemein das Horaziſche nonum prematur in annum nur von der Ausarbeitung der Werke des Geſchmaks; es iſt aber noch wichtiger, es auf das Ueberdenken der Materie, oder des Stoffs, anzuwenden. Zwar haben leichtſinnige Koͤpfe die Gabe, von Dingen, die ſie nur halb erkennen, mit Dreiſtigkeit und einer ſcheinbaren Leichtigkeit zu ſprechen, ſo daß man ſie keiner Steiffigkeit beſchuldigen kann. Aber denn fehlet es an Richtigkeit und Wahrheit. Es iſt nicht wol moͤglich ohne Steiffigkeit ſehr beſtimmt und gruͤnd- lich zu ſeyn, wenn man nicht zugleich ſeine Materie lang und vollkommen uͤberdacht hat. Steinſchneider; Stempelſchneider. Wir nehmen dieſe beyden Arten der Kuͤnſtler hier zuſammen; weil unter ihren Kuͤnſten eine genaue Verwandſchaft iſt und, wenigſtens in den neuern Zeiten, Viele beyde zugleich getrieben haben, auch in beyden groß geweſen ſind, obgleich die Behand- lung der Arbeit ſehr verſchieden iſt. Von dieſen beyden Kuͤnſten und ihren Werken, den geſchnittenen Steinen und den Schaumuͤnzen haben wir bereits in beſondern Artikeln geſprochen, alſo bleibet uns hier nur uͤbrig von den Kuͤnſtlern ſelbſt zu ſprechen. Daß das Alterthum viel ſehr große Meiſter in beyden Kuͤnſten beſeßen habe, iſt aus der betraͤchtli- chen Menge fuͤrtreflicher Werke, die noch vorhanden ſind, hinlaͤnglich abzunehmen. Ob aber das Stem- pelſchneiden bey den Alten eine beſondere Kunſt gewe- ſen, oder ob die Steinſchneider auch die Stempel zu den Muͤnzen gemacht haben, iſt mir nicht bekannt. Aus dem Edikt des Alexanders, deſſen Plinius und andere (*) S. Schoͤnheit.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1108[1090]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/537>, abgerufen am 29.04.2024.