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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Syst
mehr Kunst und Charakter in seinen Opernsympho-
nien gebracht, doch fehlte seiner zärtlichen Seele das
hiezu nöthige Feuer. Der schöne Gefang, der ihn
nie verließ, so schäzbar er auch ist, ist in jeder Sym-
phonie doch nur von matter Würkung. Man glaubt
eine feurige Opernarie zu hören, die von Jnstru-
menten vorgetragen wird. Graun würde in die-
sem Fach von seinem Bruder, dem verstorbenen
Concertmeister übertroffen worden seyn, der in eini-
gen Cammersymphonien den wahren Geist der Sym-
phonie getroffen hat. Auch hat Hasse ihn hierin
übertroffen, obgleich dessen Opernsymphonien auch
viel arienmäßiges haben.

Die Franzosen suchen in ihren Symphonien vor
den Operetten Tändeleyen mit erhabenen Gedanken
abzuwechseln. Aber alle ihre Erhabenheit artet in
Schwulst aus; man darf, um sich hievon zu über-
zeugen, nur die erste die beste französische Sympho-
nie in Partitur sehen, oder anhören. Da die Ope-
retten überhaupt mehr Charakteristisches, als die
großen Opern haben, so ist es nicht ausgemacht,
daß es jedesmal eine Symphonie seyn müsse, womit
das Stük anfängt. Manche Operette kann einen
Charakter haben, wozu sich das Große der Sym-
phonie gar nicht schikt. Hier wäre Gelegenheit,
neue Formen zu erfinden, die jedem Stük angemes-
sen wären, und die man den allgemeinen Namen
Jntroduction geben könnte, damit sie nicht mit der
Symphonie, die eigentlich immer nur die Pracht
und das Große der Jnstrumentalmusik zum End-
zwek haben sollte, verwechselt würden.

Die Kirchensymphonie unterscheidet sich von den
übrigen fürnemlich durch die ernste Schreibart. Sie be-
steht oft nur aus einem einzigen Stük. Sie verträgt
nicht, wie die Kammersymphonie, Ausschweifungen
oder Unordnung in den melodischen und harmoni-
schen Fortschreitungen, sondern geht in gesezten und
nach Beschaffenheit des Ausdruks des Kirchenstüks
geschwinderen oder langsameren Schritten fort,
und beobachtet genau die Regeln des Sazes. Sie
hat statt des Prächtigen oft eine stille Erhabenheit
zum Endzwek, und verträgt am besten eine pathe-
tische und wol ausgearbeitete Fuge.

System.
(Musik.)

Das Wort hat mehrere Bedeutungen. Die Grie-
chen nannten jedes Jntervall, in so fern es als aus
[Spaltenumbruch]

Syst
zwey, oder mehr andern zusammengesezt betrachtet
wird, System; in diesem Sinne kann die Octave
so genennt werden, in so fern sie aus einer Quart
und einer Quinte zusammengesezt ist; die Quinte,
in so fern sie aus einer kleinen und einer großen
Terz zusammengesezt ist u. s. f. Jn besonderm Sinne
wurd der Name der Quarte gegeben, in so fern sie
auf verschiedene Arten aus kleinern Jntervallen zu-
sammengesezt wurde, deren Beschaffenheit die so ge-
nannten Genera, oder Gattungen des Systems
ausmachten, nämlich das enharmonische, chroma-
tische und diatonische. Auch die ganze Reyhe der
Töne, die von den freyen Sayten eines Jnstruments
angegeben wurden, hieß das System; daher denn
endlich auch die Bedeutung des Wortes gekommen
ist, nach der es die ganze Reyhe aller in der Musik
brauchbaren Töne vom tiefsten bis zum höchsten an-
zeiget. Zu allen diesen Bedeutungen kommt in der
heutigen Musik noch die, nach der man auch den
fünf Linien, auf welche die Noten gesezt werden,
den Namen des Systems giebt; insgemein aber
werden diese Linien das Notensystem genennt.

Wir werden in diesem Artikel drey zur Theorie
der Musik gehörige Punkte betrachten, von denen
das Wort System gebraucht wird. 1 Das Sy-
stem einer diatonischen Octave. 2. Das System
aller in Bezirk einer Octave liegenden in der heuti-
gen Musik brauchbaren Töne, und 3. die Reyhe
aller Töne unsrer Musik vom tiefsten bis zum
höchsten.

1. Ohne Zweifel haben die Menschen lange ge-
sungen, eh' es einem nachdenkenden Kopf einfiel eine
Reyhe bestimmter Töne für den Gesang festzusezen.
Die Geschichte sagt uns nichts Zuverläßiges von der
Erfindung eines Tonsystems; aber da der menschli-
che Geist sich in allen Zeiten in dem allgemeinen
Gange auf dem er seine Erfindungen macht, gleich
bleibet, so haben wir hier nicht nöthig uns in der
Dunkelheit des höchsten Alterthums um Nachrichten
von dem Ursprung desselben umzusehen. Wir ken-
nen noch genug halbwilde Völker, die ohne festge-
seztes Tonsystem Lieder singen, und es ist zu vermu-
then, daß die Griechen und andre Völker des Alter-
thums, bey denen die Musik zu einer ordentlichen
Kunst geworden, es eben so werden gemacht haben.
Der natürliche Sänger wählt die Töne, wie die Em-
pfindung sie ihm in die Kehle legt, und weiß von
keinem System, aus dem er sie zu wählen hätte. Wenn

man
Zweyter Theil. A a a a a a a

[Spaltenumbruch]

Syſt
mehr Kunſt und Charakter in ſeinen Opernſympho-
nien gebracht, doch fehlte ſeiner zaͤrtlichen Seele das
hiezu noͤthige Feuer. Der ſchoͤne Gefang, der ihn
nie verließ, ſo ſchaͤzbar er auch iſt, iſt in jeder Sym-
phonie doch nur von matter Wuͤrkung. Man glaubt
eine feurige Opernarie zu hoͤren, die von Jnſtru-
menten vorgetragen wird. Graun wuͤrde in die-
ſem Fach von ſeinem Bruder, dem verſtorbenen
Concertmeiſter uͤbertroffen worden ſeyn, der in eini-
gen Cammerſymphonien den wahren Geiſt der Sym-
phonie getroffen hat. Auch hat Haſſe ihn hierin
uͤbertroffen, obgleich deſſen Opernſymphonien auch
viel arienmaͤßiges haben.

Die Franzoſen ſuchen in ihren Symphonien vor
den Operetten Taͤndeleyen mit erhabenen Gedanken
abzuwechſeln. Aber alle ihre Erhabenheit artet in
Schwulſt aus; man darf, um ſich hievon zu uͤber-
zeugen, nur die erſte die beſte franzoͤſiſche Sympho-
nie in Partitur ſehen, oder anhoͤren. Da die Ope-
retten uͤberhaupt mehr Charakteriſtiſches, als die
großen Opern haben, ſo iſt es nicht ausgemacht,
daß es jedesmal eine Symphonie ſeyn muͤſſe, womit
das Stuͤk anfaͤngt. Manche Operette kann einen
Charakter haben, wozu ſich das Große der Sym-
phonie gar nicht ſchikt. Hier waͤre Gelegenheit,
neue Formen zu erfinden, die jedem Stuͤk angemeſ-
ſen waͤren, und die man den allgemeinen Namen
Jntroduction geben koͤnnte, damit ſie nicht mit der
Symphonie, die eigentlich immer nur die Pracht
und das Große der Jnſtrumentalmuſik zum End-
zwek haben ſollte, verwechſelt wuͤrden.

Die Kirchenſymphonie unterſcheidet ſich von den
uͤbrigen fuͤrnemlich durch die ernſte Schreibart. Sie be-
ſteht oft nur aus einem einzigen Stuͤk. Sie vertraͤgt
nicht, wie die Kammerſymphonie, Ausſchweifungen
oder Unordnung in den melodiſchen und harmoni-
ſchen Fortſchreitungen, ſondern geht in geſezten und
nach Beſchaffenheit des Ausdruks des Kirchenſtuͤks
geſchwinderen oder langſameren Schritten fort,
und beobachtet genau die Regeln des Sazes. Sie
hat ſtatt des Praͤchtigen oft eine ſtille Erhabenheit
zum Endzwek, und vertraͤgt am beſten eine pathe-
tiſche und wol ausgearbeitete Fuge.

Syſtem.
(Muſik.)

Das Wort hat mehrere Bedeutungen. Die Grie-
chen nannten jedes Jntervall, in ſo fern es als aus
[Spaltenumbruch]

Syſt
zwey, oder mehr andern zuſammengeſezt betrachtet
wird, Syſtem; in dieſem Sinne kann die Octave
ſo genennt werden, in ſo fern ſie aus einer Quart
und einer Quinte zuſammengeſezt iſt; die Quinte,
in ſo fern ſie aus einer kleinen und einer großen
Terz zuſammengeſezt iſt u. ſ. f. Jn beſonderm Sinne
wurd der Name der Quarte gegeben, in ſo fern ſie
auf verſchiedene Arten aus kleinern Jntervallen zu-
ſammengeſezt wurde, deren Beſchaffenheit die ſo ge-
nannten Genera, oder Gattungen des Syſtems
ausmachten, naͤmlich das enharmoniſche, chroma-
tiſche und diatoniſche. Auch die ganze Reyhe der
Toͤne, die von den freyen Sayten eines Jnſtruments
angegeben wurden, hieß das Syſtem; daher denn
endlich auch die Bedeutung des Wortes gekommen
iſt, nach der es die ganze Reyhe aller in der Muſik
brauchbaren Toͤne vom tiefſten bis zum hoͤchſten an-
zeiget. Zu allen dieſen Bedeutungen kommt in der
heutigen Muſik noch die, nach der man auch den
fuͤnf Linien, auf welche die Noten geſezt werden,
den Namen des Syſtems giebt; insgemein aber
werden dieſe Linien das Notenſyſtem genennt.

Wir werden in dieſem Artikel drey zur Theorie
der Muſik gehoͤrige Punkte betrachten, von denen
das Wort Syſtem gebraucht wird. 1 Das Sy-
ſtem einer diatoniſchen Octave. 2. Das Syſtem
aller in Bezirk einer Octave liegenden in der heuti-
gen Muſik brauchbaren Toͤne, und 3. die Reyhe
aller Toͤne unſrer Muſik vom tiefſten bis zum
hoͤchſten.

1. Ohne Zweifel haben die Menſchen lange ge-
ſungen, eh’ es einem nachdenkenden Kopf einfiel eine
Reyhe beſtimmter Toͤne fuͤr den Geſang feſtzuſezen.
Die Geſchichte ſagt uns nichts Zuverlaͤßiges von der
Erfindung eines Tonſyſtems; aber da der menſchli-
che Geiſt ſich in allen Zeiten in dem allgemeinen
Gange auf dem er ſeine Erfindungen macht, gleich
bleibet, ſo haben wir hier nicht noͤthig uns in der
Dunkelheit des hoͤchſten Alterthums um Nachrichten
von dem Urſprung deſſelben umzuſehen. Wir ken-
nen noch genug halbwilde Voͤlker, die ohne feſtge-
ſeztes Tonſyſtem Lieder ſingen, und es iſt zu vermu-
then, daß die Griechen und andre Voͤlker des Alter-
thums, bey denen die Muſik zu einer ordentlichen
Kunſt geworden, es eben ſo werden gemacht haben.
Der natuͤrliche Saͤnger waͤhlt die Toͤne, wie die Em-
pfindung ſie ihm in die Kehle legt, und weiß von
keinem Syſtem, aus dem er ſie zu waͤhlen haͤtte. Wenn

man
Zweyter Theil. A a a a a a a
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[1123[1105]/0552] Syſt Syſt mehr Kunſt und Charakter in ſeinen Opernſympho- nien gebracht, doch fehlte ſeiner zaͤrtlichen Seele das hiezu noͤthige Feuer. Der ſchoͤne Gefang, der ihn nie verließ, ſo ſchaͤzbar er auch iſt, iſt in jeder Sym- phonie doch nur von matter Wuͤrkung. Man glaubt eine feurige Opernarie zu hoͤren, die von Jnſtru- menten vorgetragen wird. Graun wuͤrde in die- ſem Fach von ſeinem Bruder, dem verſtorbenen Concertmeiſter uͤbertroffen worden ſeyn, der in eini- gen Cammerſymphonien den wahren Geiſt der Sym- phonie getroffen hat. Auch hat Haſſe ihn hierin uͤbertroffen, obgleich deſſen Opernſymphonien auch viel arienmaͤßiges haben. Die Franzoſen ſuchen in ihren Symphonien vor den Operetten Taͤndeleyen mit erhabenen Gedanken abzuwechſeln. Aber alle ihre Erhabenheit artet in Schwulſt aus; man darf, um ſich hievon zu uͤber- zeugen, nur die erſte die beſte franzoͤſiſche Sympho- nie in Partitur ſehen, oder anhoͤren. Da die Ope- retten uͤberhaupt mehr Charakteriſtiſches, als die großen Opern haben, ſo iſt es nicht ausgemacht, daß es jedesmal eine Symphonie ſeyn muͤſſe, womit das Stuͤk anfaͤngt. Manche Operette kann einen Charakter haben, wozu ſich das Große der Sym- phonie gar nicht ſchikt. Hier waͤre Gelegenheit, neue Formen zu erfinden, die jedem Stuͤk angemeſ- ſen waͤren, und die man den allgemeinen Namen Jntroduction geben koͤnnte, damit ſie nicht mit der Symphonie, die eigentlich immer nur die Pracht und das Große der Jnſtrumentalmuſik zum End- zwek haben ſollte, verwechſelt wuͤrden. Die Kirchenſymphonie unterſcheidet ſich von den uͤbrigen fuͤrnemlich durch die ernſte Schreibart. Sie be- ſteht oft nur aus einem einzigen Stuͤk. Sie vertraͤgt nicht, wie die Kammerſymphonie, Ausſchweifungen oder Unordnung in den melodiſchen und harmoni- ſchen Fortſchreitungen, ſondern geht in geſezten und nach Beſchaffenheit des Ausdruks des Kirchenſtuͤks geſchwinderen oder langſameren Schritten fort, und beobachtet genau die Regeln des Sazes. Sie hat ſtatt des Praͤchtigen oft eine ſtille Erhabenheit zum Endzwek, und vertraͤgt am beſten eine pathe- tiſche und wol ausgearbeitete Fuge. Syſtem. (Muſik.) Das Wort hat mehrere Bedeutungen. Die Grie- chen nannten jedes Jntervall, in ſo fern es als aus zwey, oder mehr andern zuſammengeſezt betrachtet wird, Syſtem; in dieſem Sinne kann die Octave ſo genennt werden, in ſo fern ſie aus einer Quart und einer Quinte zuſammengeſezt iſt; die Quinte, in ſo fern ſie aus einer kleinen und einer großen Terz zuſammengeſezt iſt u. ſ. f. Jn beſonderm Sinne wurd der Name der Quarte gegeben, in ſo fern ſie auf verſchiedene Arten aus kleinern Jntervallen zu- ſammengeſezt wurde, deren Beſchaffenheit die ſo ge- nannten Genera, oder Gattungen des Syſtems ausmachten, naͤmlich das enharmoniſche, chroma- tiſche und diatoniſche. Auch die ganze Reyhe der Toͤne, die von den freyen Sayten eines Jnſtruments angegeben wurden, hieß das Syſtem; daher denn endlich auch die Bedeutung des Wortes gekommen iſt, nach der es die ganze Reyhe aller in der Muſik brauchbaren Toͤne vom tiefſten bis zum hoͤchſten an- zeiget. Zu allen dieſen Bedeutungen kommt in der heutigen Muſik noch die, nach der man auch den fuͤnf Linien, auf welche die Noten geſezt werden, den Namen des Syſtems giebt; insgemein aber werden dieſe Linien das Notenſyſtem genennt. Wir werden in dieſem Artikel drey zur Theorie der Muſik gehoͤrige Punkte betrachten, von denen das Wort Syſtem gebraucht wird. 1 Das Sy- ſtem einer diatoniſchen Octave. 2. Das Syſtem aller in Bezirk einer Octave liegenden in der heuti- gen Muſik brauchbaren Toͤne, und 3. die Reyhe aller Toͤne unſrer Muſik vom tiefſten bis zum hoͤchſten. 1. Ohne Zweifel haben die Menſchen lange ge- ſungen, eh’ es einem nachdenkenden Kopf einfiel eine Reyhe beſtimmter Toͤne fuͤr den Geſang feſtzuſezen. Die Geſchichte ſagt uns nichts Zuverlaͤßiges von der Erfindung eines Tonſyſtems; aber da der menſchli- che Geiſt ſich in allen Zeiten in dem allgemeinen Gange auf dem er ſeine Erfindungen macht, gleich bleibet, ſo haben wir hier nicht noͤthig uns in der Dunkelheit des hoͤchſten Alterthums um Nachrichten von dem Urſprung deſſelben umzuſehen. Wir ken- nen noch genug halbwilde Voͤlker, die ohne feſtge- ſeztes Tonſyſtem Lieder ſingen, und es iſt zu vermu- then, daß die Griechen und andre Voͤlker des Alter- thums, bey denen die Muſik zu einer ordentlichen Kunſt geworden, es eben ſo werden gemacht haben. Der natuͤrliche Saͤnger waͤhlt die Toͤne, wie die Em- pfindung ſie ihm in die Kehle legt, und weiß von keinem Syſtem, aus dem er ſie zu waͤhlen haͤtte. Wenn man Zweyter Theil. A a a a a a a

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1123[1105]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/552>, abgerufen am 29.04.2024.