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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Täu
nig nachgedacht: aber sie erfodert große Erfahrung
über die Kraft der Musik und den Ausdruk der Mo-
dulation, der Fortschreitung und der verschiedenen
Bewegungen. Der Tonsezer muß dazu eine große
Geschiklichkeit besizen, jede Gemüthsbewegung aus-
zudrüken. Denn alles, was der Tänzer ausdrükt,
muß schon durch die Melodie und Harmonie ange-
deutet werden.

Täuschung.
(Schöne Künste.)

Die Täuschung ist ein Jrrthum, in dem man den
Schein einer Sache für Wahrheit oder Würklich-
keit hält. Wenn wir bey einem Gemähld verges-
sen, daß es blos die todte Vorstellung einer Scene
der Natur ist, und die Sache selbst zu sehen glau-
ben; so werden wir getäuscht. Dieses geschieht
auch, wenn wir eine Handlung auf der Schaubühne
so natürlich vorgestellt sehen, daß wir dabey ver-
gessen, daß das, was wir sehen, blos Nachahmung
ist, und die Schauspiehler würklich für die Personen
halten, die sie vorstellen.

Man sieht sogleich, daß die gute Würkung vieler
Werke des Geschmaks von der Täuschung herkommt,
die sie in uns bewürken. Jn den Werken, die na-
türliche Gegenstände schildern, sie seyen aus der
körperlichen oder sittlichen Welt genommen, kommt
die Hauptsach auf die Täuschung an. Weiß der
Künstler sie zu bewürken, so ist er ziemlich Meister
über die Gemüther der Menschen; er kann sie mit
Lust oder Verdruß, mit Fröhlichkeit oder Schreken
erfüllen. Es ist demnach ein sehr wesentlicher
Punkt in der Theorie der Künste, daß die Ursachen
der Täuschung untersucht, und die Mittel, wodurch
sie erhalten wird, angezeiget werden.

Die gänzliche, völlige Täuschung, wie die war,
da der Ritter von Mancha in dem Marionetten-
spiehl von Dom Gaiforos und der schönen Meli-
sandra, die Marionetten für die würklichen Personen
hielt, und den Degen gegen hölzerne Puppen zog,
hat große Aehnlichkeit mit dem Traume, in welchem
wir unsre Phantasien für Empfindungen der Sinnen
halten. Deswegen kann auch die Betrachtung der
eigentlichen Beschaffenheit der Träume, uns einiges
Licht über die wahren Ursachen der Täuschung geben.

[Spaltenumbruch]
Täu

Die Ursachen der Täuschung in den Träumen,
sind offenbar. Sie beruhet auf einer gänzlichen
Schwächung derjenigen sinnlichen Empfindungen,
die uns Vorstellungen von den äußerlichen persönli-
chen Umständen, in denen wir uns befinden, erweken.
Wenn wir uns blos innerer Vorstellungen bewußt
sind, denen nichts beygemischt ist, das sich auf die
Zeit, den Ort und alles, was zu unsern äußerli-
chen persönlichen Umständen gehört, so kann es
nicht anders seyn, als daß wir die Vorstellungen
der Einbildungskraft für würkliches Gefühl halten;
weil gar nichts in den Vorstellungen ist, das uns
des Gegentheils versicherte. Wir müssen nothwen-
dig uns einbilden, wir seyen an dem Orte, in dem
uns die Phantasie versezt hat, wenn wir von dem
würklichen Orte, da wir uns befinden, nichts füh-
len; nothwendig glauben, daß die Personen, deren
Bilder nur in der Einbildungskraft liegen, zugegen
seyen; wenn unser Aug alsdenn nichts empfindet,
das uns des Jrrthums überführen könnte. (+) Wenn
also gar alles Gefühl unsers äußerlichen Zustandes
aufhört, und bloße Vorstellungen der Phantasie klar
bleiben, so ist die Täuschung vollkommen; ist aber
jenes Gefühl blos schwach, und weniger lebhaft,
als die Vorstellungen der Phantasie, so ist sie zwar
nicht vollkommen, aber doch hinreichend genug,
daß wir von den Gegenständen der Phantasie so stark
gerührt werden, als von würklichen Eindrüken der
Sinnen.

Wenn also Dichter und Schauspiehler durch das
Drama so viel bey uns würken können, daß die Vor-
stellungen und Empfindungen von unserm äußerlichen
Zustande, die wir währendem Schauspiehl haben,
schwächer werden, als die, welche die Scene selbst
giebt; so haben sie die Täuschung hinlänglich er-
reicht. Man sieht aber leicht ein, daß dieses nicht
blos von der Beschaffenheit der Werke der Kunst,
sondern zum Theil auch von uns selbst abhängt.
Wer sich nicht in der Gemüthslage befindet, sich den
Eindrüken, die von der Kunst herrühren, zu über-
lassen, oder sonst keine Wärme des Gefühls und der
Phantasie hat, der ist schweerlich zu täuschen. Der
Künstler muß also Menschen von Empfindsamkeit
und einiger Lebhaftigkeit der Einbildungskraft vor-
aussezen. Hat er solche, so liegt ihm ob, sein

Werk
(+) Wer dieses etwas weiter ausgeführt zu sehen wün-
schet, wird auf die Zergliederung der Vernunft verwiesen
[Spaltenumbruch] die ich in den Memoires de l'Academie Royale de Sciences
et Belles-Lettres
im Jahr 1758 gegeben habe.

[Spaltenumbruch]

Taͤu
nig nachgedacht: aber ſie erfodert große Erfahrung
uͤber die Kraft der Muſik und den Ausdruk der Mo-
dulation, der Fortſchreitung und der verſchiedenen
Bewegungen. Der Tonſezer muß dazu eine große
Geſchiklichkeit beſizen, jede Gemuͤthsbewegung aus-
zudruͤken. Denn alles, was der Taͤnzer ausdruͤkt,
muß ſchon durch die Melodie und Harmonie ange-
deutet werden.

Taͤuſchung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Taͤuſchung iſt ein Jrrthum, in dem man den
Schein einer Sache fuͤr Wahrheit oder Wuͤrklich-
keit haͤlt. Wenn wir bey einem Gemaͤhld vergeſ-
ſen, daß es blos die todte Vorſtellung einer Scene
der Natur iſt, und die Sache ſelbſt zu ſehen glau-
ben; ſo werden wir getaͤuſcht. Dieſes geſchieht
auch, wenn wir eine Handlung auf der Schaubuͤhne
ſo natuͤrlich vorgeſtellt ſehen, daß wir dabey ver-
geſſen, daß das, was wir ſehen, blos Nachahmung
iſt, und die Schauſpiehler wuͤrklich fuͤr die Perſonen
halten, die ſie vorſtellen.

Man ſieht ſogleich, daß die gute Wuͤrkung vieler
Werke des Geſchmaks von der Taͤuſchung herkommt,
die ſie in uns bewuͤrken. Jn den Werken, die na-
tuͤrliche Gegenſtaͤnde ſchildern, ſie ſeyen aus der
koͤrperlichen oder ſittlichen Welt genommen, kommt
die Hauptſach auf die Taͤuſchung an. Weiß der
Kuͤnſtler ſie zu bewuͤrken, ſo iſt er ziemlich Meiſter
uͤber die Gemuͤther der Menſchen; er kann ſie mit
Luſt oder Verdruß, mit Froͤhlichkeit oder Schreken
erfuͤllen. Es iſt demnach ein ſehr weſentlicher
Punkt in der Theorie der Kuͤnſte, daß die Urſachen
der Taͤuſchung unterſucht, und die Mittel, wodurch
ſie erhalten wird, angezeiget werden.

Die gaͤnzliche, voͤllige Taͤuſchung, wie die war,
da der Ritter von Mancha in dem Marionetten-
ſpiehl von Dom Gaiforos und der ſchoͤnen Meli-
ſandra, die Marionetten fuͤr die wuͤrklichen Perſonen
hielt, und den Degen gegen hoͤlzerne Puppen zog,
hat große Aehnlichkeit mit dem Traume, in welchem
wir unſre Phantaſien fuͤr Empfindungen der Sinnen
halten. Deswegen kann auch die Betrachtung der
eigentlichen Beſchaffenheit der Traͤume, uns einiges
Licht uͤber die wahren Urſachen der Taͤuſchung geben.

[Spaltenumbruch]
Taͤu

Die Urſachen der Taͤuſchung in den Traͤumen,
ſind offenbar. Sie beruhet auf einer gaͤnzlichen
Schwaͤchung derjenigen ſinnlichen Empfindungen,
die uns Vorſtellungen von den aͤußerlichen perſoͤnli-
chen Umſtaͤnden, in denen wir uns befinden, erweken.
Wenn wir uns blos innerer Vorſtellungen bewußt
ſind, denen nichts beygemiſcht iſt, das ſich auf die
Zeit, den Ort und alles, was zu unſern aͤußerli-
chen perſoͤnlichen Umſtaͤnden gehoͤrt, ſo kann es
nicht anders ſeyn, als daß wir die Vorſtellungen
der Einbildungskraft fuͤr wuͤrkliches Gefuͤhl halten;
weil gar nichts in den Vorſtellungen iſt, das uns
des Gegentheils verſicherte. Wir muͤſſen nothwen-
dig uns einbilden, wir ſeyen an dem Orte, in dem
uns die Phantaſie verſezt hat, wenn wir von dem
wuͤrklichen Orte, da wir uns befinden, nichts fuͤh-
len; nothwendig glauben, daß die Perſonen, deren
Bilder nur in der Einbildungskraft liegen, zugegen
ſeyen; wenn unſer Aug alsdenn nichts empfindet,
das uns des Jrrthums uͤberfuͤhren koͤnnte. (†) Wenn
alſo gar alles Gefuͤhl unſers aͤußerlichen Zuſtandes
aufhoͤrt, und bloße Vorſtellungen der Phantaſie klar
bleiben, ſo iſt die Taͤuſchung vollkommen; iſt aber
jenes Gefuͤhl blos ſchwach, und weniger lebhaft,
als die Vorſtellungen der Phantaſie, ſo iſt ſie zwar
nicht vollkommen, aber doch hinreichend genug,
daß wir von den Gegenſtaͤnden der Phantaſie ſo ſtark
geruͤhrt werden, als von wuͤrklichen Eindruͤken der
Sinnen.

Wenn alſo Dichter und Schauſpiehler durch das
Drama ſo viel bey uns wuͤrken koͤnnen, daß die Vor-
ſtellungen und Empfindungen von unſerm aͤußerlichen
Zuſtande, die wir waͤhrendem Schauſpiehl haben,
ſchwaͤcher werden, als die, welche die Scene ſelbſt
giebt; ſo haben ſie die Taͤuſchung hinlaͤnglich er-
reicht. Man ſieht aber leicht ein, daß dieſes nicht
blos von der Beſchaffenheit der Werke der Kunſt,
ſondern zum Theil auch von uns ſelbſt abhaͤngt.
Wer ſich nicht in der Gemuͤthslage befindet, ſich den
Eindruͤken, die von der Kunſt herruͤhren, zu uͤber-
laſſen, oder ſonſt keine Waͤrme des Gefuͤhls und der
Phantaſie hat, der iſt ſchweerlich zu taͤuſchen. Der
Kuͤnſtler muß alſo Menſchen von Empfindſamkeit
und einiger Lebhaftigkeit der Einbildungskraft vor-
ausſezen. Hat er ſolche, ſo liegt ihm ob, ſein

Werk
(†) Wer dieſes etwas weiter ausgefuͤhrt zu ſehen wuͤn-
ſchet, wird auf die Zergliederung der Vernunft verwieſen
[Spaltenumbruch] die ich in den Memoires de l’Academie Royale de Sciences
et Belles-Lettres
im Jahr 1758 gegeben habe.
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[1146[1128]/0575] Taͤu Taͤu nig nachgedacht: aber ſie erfodert große Erfahrung uͤber die Kraft der Muſik und den Ausdruk der Mo- dulation, der Fortſchreitung und der verſchiedenen Bewegungen. Der Tonſezer muß dazu eine große Geſchiklichkeit beſizen, jede Gemuͤthsbewegung aus- zudruͤken. Denn alles, was der Taͤnzer ausdruͤkt, muß ſchon durch die Melodie und Harmonie ange- deutet werden. Taͤuſchung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Taͤuſchung iſt ein Jrrthum, in dem man den Schein einer Sache fuͤr Wahrheit oder Wuͤrklich- keit haͤlt. Wenn wir bey einem Gemaͤhld vergeſ- ſen, daß es blos die todte Vorſtellung einer Scene der Natur iſt, und die Sache ſelbſt zu ſehen glau- ben; ſo werden wir getaͤuſcht. Dieſes geſchieht auch, wenn wir eine Handlung auf der Schaubuͤhne ſo natuͤrlich vorgeſtellt ſehen, daß wir dabey ver- geſſen, daß das, was wir ſehen, blos Nachahmung iſt, und die Schauſpiehler wuͤrklich fuͤr die Perſonen halten, die ſie vorſtellen. Man ſieht ſogleich, daß die gute Wuͤrkung vieler Werke des Geſchmaks von der Taͤuſchung herkommt, die ſie in uns bewuͤrken. Jn den Werken, die na- tuͤrliche Gegenſtaͤnde ſchildern, ſie ſeyen aus der koͤrperlichen oder ſittlichen Welt genommen, kommt die Hauptſach auf die Taͤuſchung an. Weiß der Kuͤnſtler ſie zu bewuͤrken, ſo iſt er ziemlich Meiſter uͤber die Gemuͤther der Menſchen; er kann ſie mit Luſt oder Verdruß, mit Froͤhlichkeit oder Schreken erfuͤllen. Es iſt demnach ein ſehr weſentlicher Punkt in der Theorie der Kuͤnſte, daß die Urſachen der Taͤuſchung unterſucht, und die Mittel, wodurch ſie erhalten wird, angezeiget werden. Die gaͤnzliche, voͤllige Taͤuſchung, wie die war, da der Ritter von Mancha in dem Marionetten- ſpiehl von Dom Gaiforos und der ſchoͤnen Meli- ſandra, die Marionetten fuͤr die wuͤrklichen Perſonen hielt, und den Degen gegen hoͤlzerne Puppen zog, hat große Aehnlichkeit mit dem Traume, in welchem wir unſre Phantaſien fuͤr Empfindungen der Sinnen halten. Deswegen kann auch die Betrachtung der eigentlichen Beſchaffenheit der Traͤume, uns einiges Licht uͤber die wahren Urſachen der Taͤuſchung geben. Die Urſachen der Taͤuſchung in den Traͤumen, ſind offenbar. Sie beruhet auf einer gaͤnzlichen Schwaͤchung derjenigen ſinnlichen Empfindungen, die uns Vorſtellungen von den aͤußerlichen perſoͤnli- chen Umſtaͤnden, in denen wir uns befinden, erweken. Wenn wir uns blos innerer Vorſtellungen bewußt ſind, denen nichts beygemiſcht iſt, das ſich auf die Zeit, den Ort und alles, was zu unſern aͤußerli- chen perſoͤnlichen Umſtaͤnden gehoͤrt, ſo kann es nicht anders ſeyn, als daß wir die Vorſtellungen der Einbildungskraft fuͤr wuͤrkliches Gefuͤhl halten; weil gar nichts in den Vorſtellungen iſt, das uns des Gegentheils verſicherte. Wir muͤſſen nothwen- dig uns einbilden, wir ſeyen an dem Orte, in dem uns die Phantaſie verſezt hat, wenn wir von dem wuͤrklichen Orte, da wir uns befinden, nichts fuͤh- len; nothwendig glauben, daß die Perſonen, deren Bilder nur in der Einbildungskraft liegen, zugegen ſeyen; wenn unſer Aug alsdenn nichts empfindet, das uns des Jrrthums uͤberfuͤhren koͤnnte. (†) Wenn alſo gar alles Gefuͤhl unſers aͤußerlichen Zuſtandes aufhoͤrt, und bloße Vorſtellungen der Phantaſie klar bleiben, ſo iſt die Taͤuſchung vollkommen; iſt aber jenes Gefuͤhl blos ſchwach, und weniger lebhaft, als die Vorſtellungen der Phantaſie, ſo iſt ſie zwar nicht vollkommen, aber doch hinreichend genug, daß wir von den Gegenſtaͤnden der Phantaſie ſo ſtark geruͤhrt werden, als von wuͤrklichen Eindruͤken der Sinnen. Wenn alſo Dichter und Schauſpiehler durch das Drama ſo viel bey uns wuͤrken koͤnnen, daß die Vor- ſtellungen und Empfindungen von unſerm aͤußerlichen Zuſtande, die wir waͤhrendem Schauſpiehl haben, ſchwaͤcher werden, als die, welche die Scene ſelbſt giebt; ſo haben ſie die Taͤuſchung hinlaͤnglich er- reicht. Man ſieht aber leicht ein, daß dieſes nicht blos von der Beſchaffenheit der Werke der Kunſt, ſondern zum Theil auch von uns ſelbſt abhaͤngt. Wer ſich nicht in der Gemuͤthslage befindet, ſich den Eindruͤken, die von der Kunſt herruͤhren, zu uͤber- laſſen, oder ſonſt keine Waͤrme des Gefuͤhls und der Phantaſie hat, der iſt ſchweerlich zu taͤuſchen. Der Kuͤnſtler muß alſo Menſchen von Empfindſamkeit und einiger Lebhaftigkeit der Einbildungskraft vor- ausſezen. Hat er ſolche, ſo liegt ihm ob, ſein Werk (†) Wer dieſes etwas weiter ausgefuͤhrt zu ſehen wuͤn- ſchet, wird auf die Zergliederung der Vernunft verwieſen die ich in den Memoires de l’Academie Royale de Sciences et Belles-Lettres im Jahr 1758 gegeben habe.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1146[1128]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/575>, abgerufen am 29.04.2024.