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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ueb
friedigung der natürlichen Bedürfnisse abziehlt. Der
Ueberfluß schwächt überall die Annehmlichkeit des
Genusses.

Diejenigen, denen die Wahl der Mittel zur Be-
friedigung der natürlichen Bedürfnisse schweerer
wird, als die Anschaffung derselben, genießen un-
streitig weniger Vergnügen, als die, deren Begier-
den durch einige Schwierigkeiten sie zu befriedigen
gereizt, und deren Geschmak durch Mäßigkeit in
seiner natürlichen Lebhaftigkeit erhalten wird. Eben
so geht es in Sachen, die blos auf die feinere Be-
dürfnisse der Seele abziehlen. Was für ein ent-
zükendes Vergnügen ist es nicht, sich der Wollust
der Freundschaft und der Zärtlichkeit zu überlassen,
wenn die Gelegenheit dazu etwas selten ist? Mit
was für durchdringendem Vergnügen wird man
nicht eingenommen, wenn man sich in einer guten
Gesellschaft befindet, wo Geist, Munterkeit und
Vergnügen mit Verstand und Kenntniß herrscht,
wenn man sie selten genießt?

Eine reiche Bildergallerie rührt anfänglich durch
den Reichthum und die Mannigfaltigkeit, aber der
Geist wird bald durch die Menge der Gegenstände
zerstreuet; man hat Mühe seine Aufmerksamkeit zu
sammeln, um das Vergnügen von einem Meister-
stük ganz zu genießen. Ein Gemählde von der er-
sten Art in einem Zimmer, sammelt alle unsre Sin-
nen zusammen, und wir genießen es ganz. Ein
einziger Diamant an dem Hals, oder auf der Brust
einer Schönen, reizt das Auge ungemein; aber die
Menge derselben macht einen Augenblik erstaunt,
und verliehrt bald allen Reiz.

Der Künstler versteht seinen Vortheil gewiß nicht,
der das Schöne in seinen Werken aufzuhäufen
sucht; denn je höher seine Gattung ist, je sparsa-
mer muß es vorkommen. Die fürtreflichsten Gleich-
nisse, die häufig sind, verliehren ihre Kraft; in ei-
nem Gemählde von viel Figuren, wo jede eine
Hauptfigur zu seyn verdienet; im Drama, wo jede
Person unsrer ganzen Aufmerksamkeit werth wäre,
in einem Tonstük, wo jeder Ton mit allen Vorthei-
len des Reizes und des Nachdruks vorgetragen wird,
wo jede Figur tief ins Herz dringet, an allen solchen
Werken ist ein schädlicher Ueberflus. Nichts ist für-
treflicher, als die Metaphern und die starken Gedan-
ken des englischen Dichters Voung, aber ihr Ueber-
flus macht sie ermüdend und gebiehrt Ekel.

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Ueb

Es scheinet, als wenn die ersten Kenner, sowol
unter den Alten, als unter den Neuern die vornehm-
sten Werke der Bildhauer mehr bewunderten, als
die ersten Werke der Mahler. Sollte der Grund hie-
von in der Sparsamkeit des Schönen liegen, die in
jenen größer ist? Daß die feinesten Kenner den
Schriften aus den Zeiten des Augustus und Lud-
wig des XIV vor denen, die unter Trajan, und
unter Ludwig dem XV erschienen sind, den Vorzug
geben, kommt größtentheils daher, daß die leztern
an Schönheiten überfließen, die in jenen mit klu-
ger Sparsamkeit angebracht sind.

Es ist ein ungemein schädliches Vorurtheil, zu
glauben, daß man Schlag auf Schlag unaufhörlich
den Geist und die Empfindung angreifen müsse.
Denn dieses ist der gewisseste Weg nur schwach zu
rühren. Der Künstler versteht sein Jnteresse am
besten, der jeden großen Eindruk so weit von an-
dern entfernt, daß er Zeit hat, sich völlig dem Ge-
müthe einzudrüken, und sich darin ganz auszubrei-
ten. Je größer die Schönheiten in einem Werk
sind, je sparsamer müssen sie vorkommen.

Jst diese Sparsamkeit auch bey der höchsten Schön-
heit nöthig, so ist sie es noch sehr vielmehr bey Din-
gen, die blos als Zierrathen anzusehen sind, wo der
Ueberflus schnellen Ekel gebiehrt. Die Anmerkun-
gen, welche wir im Artikel über die edle Einfalt
vorgetragen, können hieher gezogen werden. Diese
ganze Betrachtung aber ist für den deutschen Künst-
ler vorzüglich nothwendig; damit er nicht durch den
Schein geblendet, die Werke andrer Völker aus
dem Zeitpunkt der Ueppigkeit zu Mustern annehme,
wie die ersten italiänischen Baumeister gethan haben.

Uebergang.
(Redende Künste.)

Die verschiedenen Arten wie Redner und Dichter
von einem Gedanken auf den folgenden, von einem
vorgetragenen Punkt auf einen andern übergehen,
verdienet in der Theorie der redenden Künste beson-
ders betrachtet zu werden; weil sie sehr viel zur An-
nehmlichkeit, Klarheit und dem Charakter der Rede
überhaupt beytragen. Dieser Uebergang geschiehet
entweder unmittelbar, so daß zwey ganz verschiedene
Gedanken, ohne etwas dazwischen geseztes auf ein-
ander folgen, oder mittelbar durch Bindewörter,
oder kurze Bindesäze und Formeln, wodurch der
Grund oder die Art der Verbindung angezeiget wird.

Wir
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Ueb
friedigung der natuͤrlichen Beduͤrfniſſe abziehlt. Der
Ueberfluß ſchwaͤcht uͤberall die Annehmlichkeit des
Genuſſes.

Diejenigen, denen die Wahl der Mittel zur Be-
friedigung der natuͤrlichen Beduͤrfniſſe ſchweerer
wird, als die Anſchaffung derſelben, genießen un-
ſtreitig weniger Vergnuͤgen, als die, deren Begier-
den durch einige Schwierigkeiten ſie zu befriedigen
gereizt, und deren Geſchmak durch Maͤßigkeit in
ſeiner natuͤrlichen Lebhaftigkeit erhalten wird. Eben
ſo geht es in Sachen, die blos auf die feinere Be-
duͤrfniſſe der Seele abziehlen. Was fuͤr ein ent-
zuͤkendes Vergnuͤgen iſt es nicht, ſich der Wolluſt
der Freundſchaft und der Zaͤrtlichkeit zu uͤberlaſſen,
wenn die Gelegenheit dazu etwas ſelten iſt? Mit
was fuͤr durchdringendem Vergnuͤgen wird man
nicht eingenommen, wenn man ſich in einer guten
Geſellſchaft befindet, wo Geiſt, Munterkeit und
Vergnuͤgen mit Verſtand und Kenntniß herrſcht,
wenn man ſie ſelten genießt?

Eine reiche Bildergallerie ruͤhrt anfaͤnglich durch
den Reichthum und die Mannigfaltigkeit, aber der
Geiſt wird bald durch die Menge der Gegenſtaͤnde
zerſtreuet; man hat Muͤhe ſeine Aufmerkſamkeit zu
ſammeln, um das Vergnuͤgen von einem Meiſter-
ſtuͤk ganz zu genießen. Ein Gemaͤhlde von der er-
ſten Art in einem Zimmer, ſammelt alle unſre Sin-
nen zuſammen, und wir genießen es ganz. Ein
einziger Diamant an dem Hals, oder auf der Bruſt
einer Schoͤnen, reizt das Auge ungemein; aber die
Menge derſelben macht einen Augenblik erſtaunt,
und verliehrt bald allen Reiz.

Der Kuͤnſtler verſteht ſeinen Vortheil gewiß nicht,
der das Schoͤne in ſeinen Werken aufzuhaͤufen
ſucht; denn je hoͤher ſeine Gattung iſt, je ſparſa-
mer muß es vorkommen. Die fuͤrtreflichſten Gleich-
niſſe, die haͤufig ſind, verliehren ihre Kraft; in ei-
nem Gemaͤhlde von viel Figuren, wo jede eine
Hauptfigur zu ſeyn verdienet; im Drama, wo jede
Perſon unſrer ganzen Aufmerkſamkeit werth waͤre,
in einem Tonſtuͤk, wo jeder Ton mit allen Vorthei-
len des Reizes und des Nachdruks vorgetragen wird,
wo jede Figur tief ins Herz dringet, an allen ſolchen
Werken iſt ein ſchaͤdlicher Ueberflus. Nichts iſt fuͤr-
treflicher, als die Metaphern und die ſtarken Gedan-
ken des engliſchen Dichters Voung, aber ihr Ueber-
flus macht ſie ermuͤdend und gebiehrt Ekel.

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Ueb

Es ſcheinet, als wenn die erſten Kenner, ſowol
unter den Alten, als unter den Neuern die vornehm-
ſten Werke der Bildhauer mehr bewunderten, als
die erſten Werke der Mahler. Sollte der Grund hie-
von in der Sparſamkeit des Schoͤnen liegen, die in
jenen groͤßer iſt? Daß die feineſten Kenner den
Schriften aus den Zeiten des Auguſtus und Lud-
wig des XIV vor denen, die unter Trajan, und
unter Ludwig dem XV erſchienen ſind, den Vorzug
geben, kommt groͤßtentheils daher, daß die leztern
an Schoͤnheiten uͤberfließen, die in jenen mit klu-
ger Sparſamkeit angebracht ſind.

Es iſt ein ungemein ſchaͤdliches Vorurtheil, zu
glauben, daß man Schlag auf Schlag unaufhoͤrlich
den Geiſt und die Empfindung angreifen muͤſſe.
Denn dieſes iſt der gewiſſeſte Weg nur ſchwach zu
ruͤhren. Der Kuͤnſtler verſteht ſein Jntereſſe am
beſten, der jeden großen Eindruk ſo weit von an-
dern entfernt, daß er Zeit hat, ſich voͤllig dem Ge-
muͤthe einzudruͤken, und ſich darin ganz auszubrei-
ten. Je groͤßer die Schoͤnheiten in einem Werk
ſind, je ſparſamer muͤſſen ſie vorkommen.

Jſt dieſe Sparſamkeit auch bey der hoͤchſten Schoͤn-
heit noͤthig, ſo iſt ſie es noch ſehr vielmehr bey Din-
gen, die blos als Zierrathen anzuſehen ſind, wo der
Ueberflus ſchnellen Ekel gebiehrt. Die Anmerkun-
gen, welche wir im Artikel uͤber die edle Einfalt
vorgetragen, koͤnnen hieher gezogen werden. Dieſe
ganze Betrachtung aber iſt fuͤr den deutſchen Kuͤnſt-
ler vorzuͤglich nothwendig; damit er nicht durch den
Schein geblendet, die Werke andrer Voͤlker aus
dem Zeitpunkt der Ueppigkeit zu Muſtern annehme,
wie die erſten italiaͤniſchen Baumeiſter gethan haben.

Uebergang.
(Redende Kuͤnſte.)

Die verſchiedenen Arten wie Redner und Dichter
von einem Gedanken auf den folgenden, von einem
vorgetragenen Punkt auf einen andern uͤbergehen,
verdienet in der Theorie der redenden Kuͤnſte beſon-
ders betrachtet zu werden; weil ſie ſehr viel zur An-
nehmlichkeit, Klarheit und dem Charakter der Rede
uͤberhaupt beytragen. Dieſer Uebergang geſchiehet
entweder unmittelbar, ſo daß zwey ganz verſchiedene
Gedanken, ohne etwas dazwiſchen geſeztes auf ein-
ander folgen, oder mittelbar durch Bindewoͤrter,
oder kurze Bindeſaͤze und Formeln, wodurch der
Grund oder die Art der Verbindung angezeiget wird.

Wir
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[1189[1171]/0618] Ueb Ueb friedigung der natuͤrlichen Beduͤrfniſſe abziehlt. Der Ueberfluß ſchwaͤcht uͤberall die Annehmlichkeit des Genuſſes. Diejenigen, denen die Wahl der Mittel zur Be- friedigung der natuͤrlichen Beduͤrfniſſe ſchweerer wird, als die Anſchaffung derſelben, genießen un- ſtreitig weniger Vergnuͤgen, als die, deren Begier- den durch einige Schwierigkeiten ſie zu befriedigen gereizt, und deren Geſchmak durch Maͤßigkeit in ſeiner natuͤrlichen Lebhaftigkeit erhalten wird. Eben ſo geht es in Sachen, die blos auf die feinere Be- duͤrfniſſe der Seele abziehlen. Was fuͤr ein ent- zuͤkendes Vergnuͤgen iſt es nicht, ſich der Wolluſt der Freundſchaft und der Zaͤrtlichkeit zu uͤberlaſſen, wenn die Gelegenheit dazu etwas ſelten iſt? Mit was fuͤr durchdringendem Vergnuͤgen wird man nicht eingenommen, wenn man ſich in einer guten Geſellſchaft befindet, wo Geiſt, Munterkeit und Vergnuͤgen mit Verſtand und Kenntniß herrſcht, wenn man ſie ſelten genießt? Eine reiche Bildergallerie ruͤhrt anfaͤnglich durch den Reichthum und die Mannigfaltigkeit, aber der Geiſt wird bald durch die Menge der Gegenſtaͤnde zerſtreuet; man hat Muͤhe ſeine Aufmerkſamkeit zu ſammeln, um das Vergnuͤgen von einem Meiſter- ſtuͤk ganz zu genießen. Ein Gemaͤhlde von der er- ſten Art in einem Zimmer, ſammelt alle unſre Sin- nen zuſammen, und wir genießen es ganz. Ein einziger Diamant an dem Hals, oder auf der Bruſt einer Schoͤnen, reizt das Auge ungemein; aber die Menge derſelben macht einen Augenblik erſtaunt, und verliehrt bald allen Reiz. Der Kuͤnſtler verſteht ſeinen Vortheil gewiß nicht, der das Schoͤne in ſeinen Werken aufzuhaͤufen ſucht; denn je hoͤher ſeine Gattung iſt, je ſparſa- mer muß es vorkommen. Die fuͤrtreflichſten Gleich- niſſe, die haͤufig ſind, verliehren ihre Kraft; in ei- nem Gemaͤhlde von viel Figuren, wo jede eine Hauptfigur zu ſeyn verdienet; im Drama, wo jede Perſon unſrer ganzen Aufmerkſamkeit werth waͤre, in einem Tonſtuͤk, wo jeder Ton mit allen Vorthei- len des Reizes und des Nachdruks vorgetragen wird, wo jede Figur tief ins Herz dringet, an allen ſolchen Werken iſt ein ſchaͤdlicher Ueberflus. Nichts iſt fuͤr- treflicher, als die Metaphern und die ſtarken Gedan- ken des engliſchen Dichters Voung, aber ihr Ueber- flus macht ſie ermuͤdend und gebiehrt Ekel. Es ſcheinet, als wenn die erſten Kenner, ſowol unter den Alten, als unter den Neuern die vornehm- ſten Werke der Bildhauer mehr bewunderten, als die erſten Werke der Mahler. Sollte der Grund hie- von in der Sparſamkeit des Schoͤnen liegen, die in jenen groͤßer iſt? Daß die feineſten Kenner den Schriften aus den Zeiten des Auguſtus und Lud- wig des XIV vor denen, die unter Trajan, und unter Ludwig dem XV erſchienen ſind, den Vorzug geben, kommt groͤßtentheils daher, daß die leztern an Schoͤnheiten uͤberfließen, die in jenen mit klu- ger Sparſamkeit angebracht ſind. Es iſt ein ungemein ſchaͤdliches Vorurtheil, zu glauben, daß man Schlag auf Schlag unaufhoͤrlich den Geiſt und die Empfindung angreifen muͤſſe. Denn dieſes iſt der gewiſſeſte Weg nur ſchwach zu ruͤhren. Der Kuͤnſtler verſteht ſein Jntereſſe am beſten, der jeden großen Eindruk ſo weit von an- dern entfernt, daß er Zeit hat, ſich voͤllig dem Ge- muͤthe einzudruͤken, und ſich darin ganz auszubrei- ten. Je groͤßer die Schoͤnheiten in einem Werk ſind, je ſparſamer muͤſſen ſie vorkommen. Jſt dieſe Sparſamkeit auch bey der hoͤchſten Schoͤn- heit noͤthig, ſo iſt ſie es noch ſehr vielmehr bey Din- gen, die blos als Zierrathen anzuſehen ſind, wo der Ueberflus ſchnellen Ekel gebiehrt. Die Anmerkun- gen, welche wir im Artikel uͤber die edle Einfalt vorgetragen, koͤnnen hieher gezogen werden. Dieſe ganze Betrachtung aber iſt fuͤr den deutſchen Kuͤnſt- ler vorzuͤglich nothwendig; damit er nicht durch den Schein geblendet, die Werke andrer Voͤlker aus dem Zeitpunkt der Ueppigkeit zu Muſtern annehme, wie die erſten italiaͤniſchen Baumeiſter gethan haben. Uebergang. (Redende Kuͤnſte.) Die verſchiedenen Arten wie Redner und Dichter von einem Gedanken auf den folgenden, von einem vorgetragenen Punkt auf einen andern uͤbergehen, verdienet in der Theorie der redenden Kuͤnſte beſon- ders betrachtet zu werden; weil ſie ſehr viel zur An- nehmlichkeit, Klarheit und dem Charakter der Rede uͤberhaupt beytragen. Dieſer Uebergang geſchiehet entweder unmittelbar, ſo daß zwey ganz verſchiedene Gedanken, ohne etwas dazwiſchen geſeztes auf ein- ander folgen, oder mittelbar durch Bindewoͤrter, oder kurze Bindeſaͤze und Formeln, wodurch der Grund oder die Art der Verbindung angezeiget wird. Wir J i i i i i i 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1189[1171]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/618>, abgerufen am 29.04.2024.