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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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tasie ihn leitet, unvermerkt dahin führen, wo man
ihn haben will.

Man seze, ein Geschichtschreiber erzähle in der
Geschichte Peters des I. seine Heyrath mit Catharina.
Wann er, ohne die Frage zu berühren, ob es an-
ständig, oder nüzlich sey, daß ein großer Monarch
eine Person von niedrigem Stande zur Gemahlinn
nehme, und neben sich auf den Thron seze, die Sa-
che dem Ansehen nach blos historisch behandelt, aber
mit einiger Lebhaftigkeit sich bey der Erzählung ver-
weilet, um den vortreflichen Charakter der Catharine
zu schildern; wenn er erzählt, daß dieser Schritt
den Beyfall des Hofes und der ganzen Nation er-
halten habe u. d. gl.; so wird kein uneingenomme-
ner Leser sich leicht unterstehen, von der Sach an-
ders zu urtheilen, und jeder wird stillschweigend aus
diesem Falle sich überhaupt bereden, daß der größte
Monarch ohne Verlezung seiner Ehre, ohne Unan-
ständigkeit, aus der niedrigsten Classe seiner Unter-
thanen, sich eine Gemahlinn wählen könne.

Würde man aber im Gegentheil die Geschichte
von der geheimen Vermählung Ludwigs des XIV
mit der Maintenon so erzählen, daß man die Be-
stürzung des Hofes lebhaft schilderte; daß man be-
schriebe, wie der Minister sich dem König zu Füßen
wirft und ihn in pathetischem Tone beschwöhret sei-
nen Thron nicht zu befleken u. d. gl.; so würde bey
dem Leser gerade die entgegengesezte Würkung fol-
gen. Er würde nun dafür halten, daß ein großer
Herr nichts schimpflicheres thun könne, als eine so
ungleiche Heyrath einzugehen. So leicht ist es,
das Urtheil der Menschen zu lenken; wenn sie noch
nicht eingenommen sind.

Es kommt also bey der Ueberredung nicht sowol
auf die Richtigkeit der Beweise, als auf die Lebhaf-
tigkeit womit sie vorgetragen werden, an. Gegen
Vorurtheile kommt nicht leicht ein blos wahrschein-
licher Beweis auf, und wo diese nicht sind, da läßt
man sich auch durch schwache Beweise, durch bloße
Versicherungen, und so gar auch ohne diese, durch
Erschleichung bereden. Sehr wichtig ist es dabey
daß der Redner die Kunst besize dem Zuhörer in sei-
nem Urtheil vorzugreifen, ohne daß er es merke,
und seinen Verstand durch die Empfindung zu len-
ken. Er muß schlechterdings wissen jede Sache in
dem seinem Zweke günstigstem Lichte vorzustellen,
und daß Herz dafür zu intreßiren. Es muß aber
so natürlich, so gar ohne Zwang geschehen, daß der
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Zuhörer den Gesichtspunkt, aus dem man ihm die
Sache sehen läßt, für den eigentlichsten hält, um
die Sache richtig zu beurtheilen. Denn muß Ton
und Ausdruk genau auf diesen Gesichtspunkt passen.
Was in ein günstiges Licht gestellt worden, muß
auch mit den vortheilhaftesten Namen genennt, und
mit einnehmendem Ausdruk beschrieben werden:
Und was in ein wiedriges Licht gesezt worden, muß
auch in einem Ausdruke vorgetragen werden, der
ihm angemessen ist. Dieses hat vornehmlich Cicero
verstanden, dessen Ausdruk allemal einnehmend,
schonend, vergrößernd oder verkleinernd, hart oder
sanft ist, nachdem er für, oder gegen eine Sach
einzunehmen sucht.

Uebertrieben.
(Schöne Künste.)

Man übertreibet eine Sache, wenn man ihr etwas
zuschreibet oder zumuthet, das die Schranken ihrer
Art überschreitet und entweder unmöglich, oder doch
unnatürlich und der Art, wozu die Sache gehört,
zuwieder ist. Es wäre eine übertriebene Zumuthung
von einem Menschen so viel Arbeit zu verlangen,
als nur mehrere zu leisten im Stande sind; darum
wär es auch übertrieben, wenn man von ihm sagte,
er habe so viel Arbeit gethan. Auch das ist über-
trieben, wenn man das, was einer Sache zu-
kommt, ihr in solchem Uebermaaße beylegt, daß da-
durch die Art derselben geändert, und die Würkung,
die man zu vermehren gesucht hat, dadurch vermin-
dert wird. Man sagt im Sprüchwort: wer zu viel
beweißt, der beweise gar nichts;
und wo des Ge-
würzes zu viel genommen wird, da wird die Speise
dadurch wiedrig.

Es giebt also zwey Arten des Uebertriebenen; die
eine macht den übertriebenen Gegenstand schimärisch,
oder unmöglich; die andere verändert seine Art und
benihmt ihm die Würkung, die man ihm durch Ueber-
treibung seiner Eigenschaften zu geben gesucht hat.
Beyde Arten sind in Werken des Geschmaks sorg-
fältig zu vermeiden, weil sie von sehr übler Wür-
kung sind.

Zu der erstern Art rechnen wir die abentheuerliche
gigantische Größe der Helden in den Ritterromanen,
da ein einziger bisweilen ganze Heere in die Flucht
schlägt: von der andern Art ist unmäßiges Lob, oder
Tadel, und andre unzeitige, die verlangte Würkung

viel-

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Ueb
taſie ihn leitet, unvermerkt dahin fuͤhren, wo man
ihn haben will.

Man ſeze, ein Geſchichtſchreiber erzaͤhle in der
Geſchichte Peters des I. ſeine Heyrath mit Catharina.
Wann er, ohne die Frage zu beruͤhren, ob es an-
ſtaͤndig, oder nuͤzlich ſey, daß ein großer Monarch
eine Perſon von niedrigem Stande zur Gemahlinn
nehme, und neben ſich auf den Thron ſeze, die Sa-
che dem Anſehen nach blos hiſtoriſch behandelt, aber
mit einiger Lebhaftigkeit ſich bey der Erzaͤhlung ver-
weilet, um den vortreflichen Charakter der Catharine
zu ſchildern; wenn er erzaͤhlt, daß dieſer Schritt
den Beyfall des Hofes und der ganzen Nation er-
halten habe u. d. gl.; ſo wird kein uneingenomme-
ner Leſer ſich leicht unterſtehen, von der Sach an-
ders zu urtheilen, und jeder wird ſtillſchweigend aus
dieſem Falle ſich uͤberhaupt bereden, daß der groͤßte
Monarch ohne Verlezung ſeiner Ehre, ohne Unan-
ſtaͤndigkeit, aus der niedrigſten Claſſe ſeiner Unter-
thanen, ſich eine Gemahlinn waͤhlen koͤnne.

Wuͤrde man aber im Gegentheil die Geſchichte
von der geheimen Vermaͤhlung Ludwigs des XIV
mit der Maintenon ſo erzaͤhlen, daß man die Be-
ſtuͤrzung des Hofes lebhaft ſchilderte; daß man be-
ſchriebe, wie der Miniſter ſich dem Koͤnig zu Fuͤßen
wirft und ihn in pathetiſchem Tone beſchwoͤhret ſei-
nen Thron nicht zu befleken u. d. gl.; ſo wuͤrde bey
dem Leſer gerade die entgegengeſezte Wuͤrkung fol-
gen. Er wuͤrde nun dafuͤr halten, daß ein großer
Herr nichts ſchimpflicheres thun koͤnne, als eine ſo
ungleiche Heyrath einzugehen. So leicht iſt es,
das Urtheil der Menſchen zu lenken; wenn ſie noch
nicht eingenommen ſind.

Es kommt alſo bey der Ueberredung nicht ſowol
auf die Richtigkeit der Beweiſe, als auf die Lebhaf-
tigkeit womit ſie vorgetragen werden, an. Gegen
Vorurtheile kommt nicht leicht ein blos wahrſchein-
licher Beweis auf, und wo dieſe nicht ſind, da laͤßt
man ſich auch durch ſchwache Beweiſe, durch bloße
Verſicherungen, und ſo gar auch ohne dieſe, durch
Erſchleichung bereden. Sehr wichtig iſt es dabey
daß der Redner die Kunſt beſize dem Zuhoͤrer in ſei-
nem Urtheil vorzugreifen, ohne daß er es merke,
und ſeinen Verſtand durch die Empfindung zu len-
ken. Er muß ſchlechterdings wiſſen jede Sache in
dem ſeinem Zweke guͤnſtigſtem Lichte vorzuſtellen,
und daß Herz dafuͤr zu intreßiren. Es muß aber
ſo natuͤrlich, ſo gar ohne Zwang geſchehen, daß der
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Zuhoͤrer den Geſichtspunkt, aus dem man ihm die
Sache ſehen laͤßt, fuͤr den eigentlichſten haͤlt, um
die Sache richtig zu beurtheilen. Denn muß Ton
und Ausdruk genau auf dieſen Geſichtspunkt paſſen.
Was in ein guͤnſtiges Licht geſtellt worden, muß
auch mit den vortheilhafteſten Namen genennt, und
mit einnehmendem Ausdruk beſchrieben werden:
Und was in ein wiedriges Licht geſezt worden, muß
auch in einem Ausdruke vorgetragen werden, der
ihm angemeſſen iſt. Dieſes hat vornehmlich Cicero
verſtanden, deſſen Ausdruk allemal einnehmend,
ſchonend, vergroͤßernd oder verkleinernd, hart oder
ſanft iſt, nachdem er fuͤr, oder gegen eine Sach
einzunehmen ſucht.

Uebertrieben.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Man uͤbertreibet eine Sache, wenn man ihr etwas
zuſchreibet oder zumuthet, das die Schranken ihrer
Art uͤberſchreitet und entweder unmoͤglich, oder doch
unnatuͤrlich und der Art, wozu die Sache gehoͤrt,
zuwieder iſt. Es waͤre eine uͤbertriebene Zumuthung
von einem Menſchen ſo viel Arbeit zu verlangen,
als nur mehrere zu leiſten im Stande ſind; darum
waͤr es auch uͤbertrieben, wenn man von ihm ſagte,
er habe ſo viel Arbeit gethan. Auch das iſt uͤber-
trieben, wenn man das, was einer Sache zu-
kommt, ihr in ſolchem Uebermaaße beylegt, daß da-
durch die Art derſelben geaͤndert, und die Wuͤrkung,
die man zu vermehren geſucht hat, dadurch vermin-
dert wird. Man ſagt im Spruͤchwort: wer zu viel
beweißt, der beweiſe gar nichts;
und wo des Ge-
wuͤrzes zu viel genommen wird, da wird die Speiſe
dadurch wiedrig.

Es giebt alſo zwey Arten des Uebertriebenen; die
eine macht den uͤbertriebenen Gegenſtand ſchimaͤriſch,
oder unmoͤglich; die andere veraͤndert ſeine Art und
benihmt ihm die Wuͤrkung, die man ihm durch Ueber-
treibung ſeiner Eigenſchaften zu geben geſucht hat.
Beyde Arten ſind in Werken des Geſchmaks ſorg-
faͤltig zu vermeiden, weil ſie von ſehr uͤbler Wuͤr-
kung ſind.

Zu der erſtern Art rechnen wir die abentheuerliche
gigantiſche Groͤße der Helden in den Ritterromanen,
da ein einziger bisweilen ganze Heere in die Flucht
ſchlaͤgt: von der andern Art iſt unmaͤßiges Lob, oder
Tadel, und andre unzeitige, die verlangte Wuͤrkung

viel-
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[1194[1176]/0623] Ueb Ueb taſie ihn leitet, unvermerkt dahin fuͤhren, wo man ihn haben will. Man ſeze, ein Geſchichtſchreiber erzaͤhle in der Geſchichte Peters des I. ſeine Heyrath mit Catharina. Wann er, ohne die Frage zu beruͤhren, ob es an- ſtaͤndig, oder nuͤzlich ſey, daß ein großer Monarch eine Perſon von niedrigem Stande zur Gemahlinn nehme, und neben ſich auf den Thron ſeze, die Sa- che dem Anſehen nach blos hiſtoriſch behandelt, aber mit einiger Lebhaftigkeit ſich bey der Erzaͤhlung ver- weilet, um den vortreflichen Charakter der Catharine zu ſchildern; wenn er erzaͤhlt, daß dieſer Schritt den Beyfall des Hofes und der ganzen Nation er- halten habe u. d. gl.; ſo wird kein uneingenomme- ner Leſer ſich leicht unterſtehen, von der Sach an- ders zu urtheilen, und jeder wird ſtillſchweigend aus dieſem Falle ſich uͤberhaupt bereden, daß der groͤßte Monarch ohne Verlezung ſeiner Ehre, ohne Unan- ſtaͤndigkeit, aus der niedrigſten Claſſe ſeiner Unter- thanen, ſich eine Gemahlinn waͤhlen koͤnne. Wuͤrde man aber im Gegentheil die Geſchichte von der geheimen Vermaͤhlung Ludwigs des XIV mit der Maintenon ſo erzaͤhlen, daß man die Be- ſtuͤrzung des Hofes lebhaft ſchilderte; daß man be- ſchriebe, wie der Miniſter ſich dem Koͤnig zu Fuͤßen wirft und ihn in pathetiſchem Tone beſchwoͤhret ſei- nen Thron nicht zu befleken u. d. gl.; ſo wuͤrde bey dem Leſer gerade die entgegengeſezte Wuͤrkung fol- gen. Er wuͤrde nun dafuͤr halten, daß ein großer Herr nichts ſchimpflicheres thun koͤnne, als eine ſo ungleiche Heyrath einzugehen. So leicht iſt es, das Urtheil der Menſchen zu lenken; wenn ſie noch nicht eingenommen ſind. Es kommt alſo bey der Ueberredung nicht ſowol auf die Richtigkeit der Beweiſe, als auf die Lebhaf- tigkeit womit ſie vorgetragen werden, an. Gegen Vorurtheile kommt nicht leicht ein blos wahrſchein- licher Beweis auf, und wo dieſe nicht ſind, da laͤßt man ſich auch durch ſchwache Beweiſe, durch bloße Verſicherungen, und ſo gar auch ohne dieſe, durch Erſchleichung bereden. Sehr wichtig iſt es dabey daß der Redner die Kunſt beſize dem Zuhoͤrer in ſei- nem Urtheil vorzugreifen, ohne daß er es merke, und ſeinen Verſtand durch die Empfindung zu len- ken. Er muß ſchlechterdings wiſſen jede Sache in dem ſeinem Zweke guͤnſtigſtem Lichte vorzuſtellen, und daß Herz dafuͤr zu intreßiren. Es muß aber ſo natuͤrlich, ſo gar ohne Zwang geſchehen, daß der Zuhoͤrer den Geſichtspunkt, aus dem man ihm die Sache ſehen laͤßt, fuͤr den eigentlichſten haͤlt, um die Sache richtig zu beurtheilen. Denn muß Ton und Ausdruk genau auf dieſen Geſichtspunkt paſſen. Was in ein guͤnſtiges Licht geſtellt worden, muß auch mit den vortheilhafteſten Namen genennt, und mit einnehmendem Ausdruk beſchrieben werden: Und was in ein wiedriges Licht geſezt worden, muß auch in einem Ausdruke vorgetragen werden, der ihm angemeſſen iſt. Dieſes hat vornehmlich Cicero verſtanden, deſſen Ausdruk allemal einnehmend, ſchonend, vergroͤßernd oder verkleinernd, hart oder ſanft iſt, nachdem er fuͤr, oder gegen eine Sach einzunehmen ſucht. Uebertrieben. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man uͤbertreibet eine Sache, wenn man ihr etwas zuſchreibet oder zumuthet, das die Schranken ihrer Art uͤberſchreitet und entweder unmoͤglich, oder doch unnatuͤrlich und der Art, wozu die Sache gehoͤrt, zuwieder iſt. Es waͤre eine uͤbertriebene Zumuthung von einem Menſchen ſo viel Arbeit zu verlangen, als nur mehrere zu leiſten im Stande ſind; darum waͤr es auch uͤbertrieben, wenn man von ihm ſagte, er habe ſo viel Arbeit gethan. Auch das iſt uͤber- trieben, wenn man das, was einer Sache zu- kommt, ihr in ſolchem Uebermaaße beylegt, daß da- durch die Art derſelben geaͤndert, und die Wuͤrkung, die man zu vermehren geſucht hat, dadurch vermin- dert wird. Man ſagt im Spruͤchwort: wer zu viel beweißt, der beweiſe gar nichts; und wo des Ge- wuͤrzes zu viel genommen wird, da wird die Speiſe dadurch wiedrig. Es giebt alſo zwey Arten des Uebertriebenen; die eine macht den uͤbertriebenen Gegenſtand ſchimaͤriſch, oder unmoͤglich; die andere veraͤndert ſeine Art und benihmt ihm die Wuͤrkung, die man ihm durch Ueber- treibung ſeiner Eigenſchaften zu geben geſucht hat. Beyde Arten ſind in Werken des Geſchmaks ſorg- faͤltig zu vermeiden, weil ſie von ſehr uͤbler Wuͤr- kung ſind. Zu der erſtern Art rechnen wir die abentheuerliche gigantiſche Groͤße der Helden in den Ritterromanen, da ein einziger bisweilen ganze Heere in die Flucht ſchlaͤgt: von der andern Art iſt unmaͤßiges Lob, oder Tadel, und andre unzeitige, die verlangte Wuͤrkung viel-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1194[1176]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/623>, abgerufen am 29.04.2024.