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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kun
die Kunstgriffe da nöthig, wo der gewöhnliche
Gang der Kunst entweder nicht weiter reichen, oder
wo er natürlicher Weise in einen Fehler führen
würde. Daher es zwey Hauptarten der Kunstgriffe
giebt, solche, die durch ungewöhnliche Wege forthel-
fen, und solche wodurch man den Fehlern aus dem
Wege geht.

Von der ersten Art ist der Kunstgriff des Virgils
das Elend der Andromache zu erheben. Er wollte
das Mitleiden für sie aufs höchste treiben, aber ge-
radezu konnte er sie nicht unglüklicher machen, als
sie nach unsrer Empfindung schon war. Daher be-
dient er sich eines Kunstgriffs, daß er die Polyxena,
deren Unglük das größte ist, was man erdenken
kann, gegen sie als glüklich vorstellt.

O felix una ante alias Priameia virgo
Hostilem ad tumulum Troiae sub moenibus altis
Jussa mori.
(*)

Auf diese Weise hat auch Homer den Achilles ausser-
dem, was er geradezu großes von seinem Heldenmuth
sagt, erhoben, da er ihn immer weit über die Größ-
ten hervorragen läßt. Dahin gehört der von
den Alten so gelobte Kunstgriff des Timanthes, der
in dem Gemählde der Aufopferung der Jphige-
nia, den Menelaus das Gesicht unter dem Mantel
verbergen lassen, weil er jede Art der Empfindung
auf den andern Gesichtern schon erschöpft hatte. (*)
Auf diese Weise verfahren die Mahler: wenn sie das
Licht nicht höher treiben können, und doch ein hö-
heres Licht nöthig haben; so verdunkeln sie das übrige
und erhalten dadurch eine Erhöhung, die unmittel-
har nicht zu erhalten war.

Als ein Beyspiel eines Kunstgriffs der andern
Gattung, kann die Art angeführt werden, wie Eu-
ripides in der Phädra die heimliche Leidenschaft die-
ser Königin an den Tag bringt, ohne ihrem Charak-
ter zu nahe zu treten, und ohne die Wahrscheinlich-
keit zu beleidigen. Er setzt voraus, daß sie sich
vorgenommen habe, ihr Geheimnis mit sich ins
Grab zu nehmen. Man hätte aber vorher aus
ihren Reden schließen müssen, daß sie einen grosien
Haß gegen ihren Stiefsohn Hippolitus habe. Daher
sagt die Hofmeisterin ganz natürlich, du wirst durch
deinen Tod machen, daß der Amazonin Sohn über
deine Kinder herrschen wird; sie thut noch einige
verächtliche Worte über den Hippolitus hinzu, und
dadurch verräth die Königin ganz natürlicher Weise,
was sie für ihn fühlt. Hiebey hat Euripides den
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Kün
den Kunstgriff gebraucht, wodurch Eresistratus den
Grund der Krankheit des Antiochus des Seleuci
Sohn entdekt hat. (*)

Der dramatische Dichter hat vornehmlich solche
Kunstgriffe nöthig, um die Auflösung des Knotens
natürlich zu machen. Und es würde für die drama-
tische Kunst sehr vortheilhaft seyn, wenn sich je-
mand die Mühe gäbe, aus den besten Werken die
Kunstgriffe zu sammlen und deutlich an den Tag zu
legen. Jn der Musik sind die enharmonischen Rükun-
gen eigentliche Kunstgriffe, um schnell aus einem
Ton in einen ganz entlegenen herüber zu gehen. (*)
Die Mahlerey hat mancherley Kunstgriffe die Hal-
tung und Harmonie hervorzubringen.

Die wahren Kunstgrisse sind allemal ein Werk
des Genies, und nicht der eigentlichen Kunst; die
ihre Erfindung nur erleichtert, indem sie die An-
wendung und den Gebrauch dessen, was das Genie
entwirst, möglich macht.

Künstler.

Die Schilderung eines vollkommenen Künstlers ist
ein so schweeres Werk, daß dieser Artikel einen
bloßen Versuch enthält, die Umrisse zu diesem Ge-
mählde zu entwerfen, dessen völlige Ausführung
nur von einer Meisterhand zu erwarten ist.

Das Wichtigste, was zu Bildung eines vollkom-
menen Künstlers gehört, muß die Natur geben,
sein eigener Fleiß aber muß die Gaben der Natur
entwikeln, und dann müssen noch von außen zu-
fällige Veranlassungen dazu kommen, um ihn vol-
lends auszubilden.

Da die schönen Künste für das Gefühl arbeiten,
und eine lebhafte Rührung der Gemüther durch
Sinnlichkeit der Gegenstände zu ihrem Augenmerk
haben; so scheinet eine vorzüglich starke Empfindsam-
keit der Seele, die erste Anlage zu dem Genie des
Künstlers zu seyn. Wer nicht selbst lebhaft fühlet,
wird schweerlich in andern ein vorzügliches Gefühl
erweken können. Ein Werk der schönen Kunst ist
im Grunde nichts anders, als die äussere Darstel-
lung eines Gegenstandes, der den Künstler sehr leb-
haft gerühret hat. Nur das, was wir selbst mit
voller Kraft in uns fühlen, sind wir im Stande
durch die Rede, oder durch andre Wege auszudrü-
ken, und andern fühlbar zu machen. Die Maxime,
die Horaz dem Dichter empfiehlt, daß er selbst erst
weinen soll, wenn er unsre Thränen will fleißen

sehen,
(*) Aen.
III.
321.
(*) S.
Plin. Hist.
Nat. L.
XXXV.
c.
10.
(*) S.
Plut. im
Leben des
Deme-
trius.
(*) S.
Enharmo-
nisch.

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Kun
die Kunſtgriffe da noͤthig, wo der gewoͤhnliche
Gang der Kunſt entweder nicht weiter reichen, oder
wo er natuͤrlicher Weiſe in einen Fehler fuͤhren
wuͤrde. Daher es zwey Hauptarten der Kunſtgriffe
giebt, ſolche, die durch ungewoͤhnliche Wege forthel-
fen, und ſolche wodurch man den Fehlern aus dem
Wege geht.

Von der erſten Art iſt der Kunſtgriff des Virgils
das Elend der Andromache zu erheben. Er wollte
das Mitleiden fuͤr ſie aufs hoͤchſte treiben, aber ge-
radezu konnte er ſie nicht ungluͤklicher machen, als
ſie nach unſrer Empfindung ſchon war. Daher be-
dient er ſich eines Kunſtgriffs, daß er die Polyxena,
deren Ungluͤk das groͤßte iſt, was man erdenken
kann, gegen ſie als gluͤklich vorſtellt.

O felix una ante alias Priameia virgo
Hostilem ad tumulum Troiæ ſub mœnibus altis
Juſſa mori.
(*)

Auf dieſe Weiſe hat auch Homer den Achilles auſſer-
dem, was er geradezu großes von ſeinem Heldenmuth
ſagt, erhoben, da er ihn immer weit uͤber die Groͤß-
ten hervorragen laͤßt. Dahin gehoͤrt der von
den Alten ſo gelobte Kunſtgriff des Timanthes, der
in dem Gemaͤhlde der Aufopferung der Jphige-
nia, den Menelaus das Geſicht unter dem Mantel
verbergen laſſen, weil er jede Art der Empfindung
auf den andern Geſichtern ſchon erſchoͤpft hatte. (*)
Auf dieſe Weiſe verfahren die Mahler: wenn ſie das
Licht nicht hoͤher treiben koͤnnen, und doch ein hoͤ-
heres Licht noͤthig haben; ſo verdunkeln ſie das uͤbrige
und erhalten dadurch eine Erhoͤhung, die unmittel-
har nicht zu erhalten war.

Als ein Beyſpiel eines Kunſtgriffs der andern
Gattung, kann die Art angefuͤhrt werden, wie Eu-
ripides in der Phaͤdra die heimliche Leidenſchaft die-
ſer Koͤnigin an den Tag bringt, ohne ihrem Charak-
ter zu nahe zu treten, und ohne die Wahrſcheinlich-
keit zu beleidigen. Er ſetzt voraus, daß ſie ſich
vorgenommen habe, ihr Geheimnis mit ſich ins
Grab zu nehmen. Man haͤtte aber vorher aus
ihren Reden ſchließen muͤſſen, daß ſie einen groſien
Haß gegen ihren Stiefſohn Hippolitus habe. Daher
ſagt die Hofmeiſterin ganz natuͤrlich, du wirſt durch
deinen Tod machen, daß der Amazonin Sohn uͤber
deine Kinder herrſchen wird; ſie thut noch einige
veraͤchtliche Worte uͤber den Hippolitus hinzu, und
dadurch verraͤth die Koͤnigin ganz natuͤrlicher Weiſe,
was ſie fuͤr ihn fuͤhlt. Hiebey hat Euripides den
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Kuͤn
den Kunſtgriff gebraucht, wodurch Ereſistratus den
Grund der Krankheit des Antiochus des Seleuci
Sohn entdekt hat. (*)

Der dramatiſche Dichter hat vornehmlich ſolche
Kunſtgriffe noͤthig, um die Aufloͤſung des Knotens
natuͤrlich zu machen. Und es wuͤrde fuͤr die drama-
tiſche Kunſt ſehr vortheilhaft ſeyn, wenn ſich je-
mand die Muͤhe gaͤbe, aus den beſten Werken die
Kunſtgriffe zu ſammlen und deutlich an den Tag zu
legen. Jn der Muſik ſind die enharmoniſchen Ruͤkun-
gen eigentliche Kunſtgriffe, um ſchnell aus einem
Ton in einen ganz entlegenen heruͤber zu gehen. (*)
Die Mahlerey hat mancherley Kunſtgriffe die Hal-
tung und Harmonie hervorzubringen.

Die wahren Kunſtgriſſe ſind allemal ein Werk
des Genies, und nicht der eigentlichen Kunſt; die
ihre Erfindung nur erleichtert, indem ſie die An-
wendung und den Gebrauch deſſen, was das Genie
entwirſt, moͤglich macht.

Kuͤnſtler.

Die Schilderung eines vollkommenen Kuͤnſtlers iſt
ein ſo ſchweeres Werk, daß dieſer Artikel einen
bloßen Verſuch enthaͤlt, die Umriſſe zu dieſem Ge-
maͤhlde zu entwerfen, deſſen voͤllige Ausfuͤhrung
nur von einer Meiſterhand zu erwarten iſt.

Das Wichtigſte, was zu Bildung eines vollkom-
menen Kuͤnſtlers gehoͤrt, muß die Natur geben,
ſein eigener Fleiß aber muß die Gaben der Natur
entwikeln, und dann muͤſſen noch von außen zu-
faͤllige Veranlaſſungen dazu kommen, um ihn vol-
lends auszubilden.

Da die ſchoͤnen Kuͤnſte fuͤr das Gefuͤhl arbeiten,
und eine lebhafte Ruͤhrung der Gemuͤther durch
Sinnlichkeit der Gegenſtaͤnde zu ihrem Augenmerk
haben; ſo ſcheinet eine vorzuͤglich ſtarke Empfindſam-
keit der Seele, die erſte Anlage zu dem Genie des
Kuͤnſtlers zu ſeyn. Wer nicht ſelbſt lebhaft fuͤhlet,
wird ſchweerlich in andern ein vorzuͤgliches Gefuͤhl
erweken koͤnnen. Ein Werk der ſchoͤnen Kunſt iſt
im Grunde nichts anders, als die aͤuſſere Darſtel-
lung eines Gegenſtandes, der den Kuͤnſtler ſehr leb-
haft geruͤhret hat. Nur das, was wir ſelbſt mit
voller Kraft in uns fuͤhlen, ſind wir im Stande
durch die Rede, oder durch andre Wege auszudruͤ-
ken, und andern fuͤhlbar zu machen. Die Maxime,
die Horaz dem Dichter empfiehlt, daß er ſelbſt erſt
weinen ſoll, wenn er unſre Thraͤnen will fleißen

ſehen,
(*) Aen.
III.
321.
(*) S.
Plin. Hiſt.
Nat. L.
XXXV.
c.
10.
(*) S.
Plut. im
Leben des
Deme-
trius.
(*) S.
Enharmo-
niſch.
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[628/0063] Kun Kuͤn die Kunſtgriffe da noͤthig, wo der gewoͤhnliche Gang der Kunſt entweder nicht weiter reichen, oder wo er natuͤrlicher Weiſe in einen Fehler fuͤhren wuͤrde. Daher es zwey Hauptarten der Kunſtgriffe giebt, ſolche, die durch ungewoͤhnliche Wege forthel- fen, und ſolche wodurch man den Fehlern aus dem Wege geht. Von der erſten Art iſt der Kunſtgriff des Virgils das Elend der Andromache zu erheben. Er wollte das Mitleiden fuͤr ſie aufs hoͤchſte treiben, aber ge- radezu konnte er ſie nicht ungluͤklicher machen, als ſie nach unſrer Empfindung ſchon war. Daher be- dient er ſich eines Kunſtgriffs, daß er die Polyxena, deren Ungluͤk das groͤßte iſt, was man erdenken kann, gegen ſie als gluͤklich vorſtellt. O felix una ante alias Priameia virgo Hostilem ad tumulum Troiæ ſub mœnibus altis Juſſa mori. (*) Auf dieſe Weiſe hat auch Homer den Achilles auſſer- dem, was er geradezu großes von ſeinem Heldenmuth ſagt, erhoben, da er ihn immer weit uͤber die Groͤß- ten hervorragen laͤßt. Dahin gehoͤrt der von den Alten ſo gelobte Kunſtgriff des Timanthes, der in dem Gemaͤhlde der Aufopferung der Jphige- nia, den Menelaus das Geſicht unter dem Mantel verbergen laſſen, weil er jede Art der Empfindung auf den andern Geſichtern ſchon erſchoͤpft hatte. (*) Auf dieſe Weiſe verfahren die Mahler: wenn ſie das Licht nicht hoͤher treiben koͤnnen, und doch ein hoͤ- heres Licht noͤthig haben; ſo verdunkeln ſie das uͤbrige und erhalten dadurch eine Erhoͤhung, die unmittel- har nicht zu erhalten war. Als ein Beyſpiel eines Kunſtgriffs der andern Gattung, kann die Art angefuͤhrt werden, wie Eu- ripides in der Phaͤdra die heimliche Leidenſchaft die- ſer Koͤnigin an den Tag bringt, ohne ihrem Charak- ter zu nahe zu treten, und ohne die Wahrſcheinlich- keit zu beleidigen. Er ſetzt voraus, daß ſie ſich vorgenommen habe, ihr Geheimnis mit ſich ins Grab zu nehmen. Man haͤtte aber vorher aus ihren Reden ſchließen muͤſſen, daß ſie einen groſien Haß gegen ihren Stiefſohn Hippolitus habe. Daher ſagt die Hofmeiſterin ganz natuͤrlich, du wirſt durch deinen Tod machen, daß der Amazonin Sohn uͤber deine Kinder herrſchen wird; ſie thut noch einige veraͤchtliche Worte uͤber den Hippolitus hinzu, und dadurch verraͤth die Koͤnigin ganz natuͤrlicher Weiſe, was ſie fuͤr ihn fuͤhlt. Hiebey hat Euripides den den Kunſtgriff gebraucht, wodurch Ereſistratus den Grund der Krankheit des Antiochus des Seleuci Sohn entdekt hat. (*) Der dramatiſche Dichter hat vornehmlich ſolche Kunſtgriffe noͤthig, um die Aufloͤſung des Knotens natuͤrlich zu machen. Und es wuͤrde fuͤr die drama- tiſche Kunſt ſehr vortheilhaft ſeyn, wenn ſich je- mand die Muͤhe gaͤbe, aus den beſten Werken die Kunſtgriffe zu ſammlen und deutlich an den Tag zu legen. Jn der Muſik ſind die enharmoniſchen Ruͤkun- gen eigentliche Kunſtgriffe, um ſchnell aus einem Ton in einen ganz entlegenen heruͤber zu gehen. (*) Die Mahlerey hat mancherley Kunſtgriffe die Hal- tung und Harmonie hervorzubringen. Die wahren Kunſtgriſſe ſind allemal ein Werk des Genies, und nicht der eigentlichen Kunſt; die ihre Erfindung nur erleichtert, indem ſie die An- wendung und den Gebrauch deſſen, was das Genie entwirſt, moͤglich macht. Kuͤnſtler. Die Schilderung eines vollkommenen Kuͤnſtlers iſt ein ſo ſchweeres Werk, daß dieſer Artikel einen bloßen Verſuch enthaͤlt, die Umriſſe zu dieſem Ge- maͤhlde zu entwerfen, deſſen voͤllige Ausfuͤhrung nur von einer Meiſterhand zu erwarten iſt. Das Wichtigſte, was zu Bildung eines vollkom- menen Kuͤnſtlers gehoͤrt, muß die Natur geben, ſein eigener Fleiß aber muß die Gaben der Natur entwikeln, und dann muͤſſen noch von außen zu- faͤllige Veranlaſſungen dazu kommen, um ihn vol- lends auszubilden. Da die ſchoͤnen Kuͤnſte fuͤr das Gefuͤhl arbeiten, und eine lebhafte Ruͤhrung der Gemuͤther durch Sinnlichkeit der Gegenſtaͤnde zu ihrem Augenmerk haben; ſo ſcheinet eine vorzuͤglich ſtarke Empfindſam- keit der Seele, die erſte Anlage zu dem Genie des Kuͤnſtlers zu ſeyn. Wer nicht ſelbſt lebhaft fuͤhlet, wird ſchweerlich in andern ein vorzuͤgliches Gefuͤhl erweken koͤnnen. Ein Werk der ſchoͤnen Kunſt iſt im Grunde nichts anders, als die aͤuſſere Darſtel- lung eines Gegenſtandes, der den Kuͤnſtler ſehr leb- haft geruͤhret hat. Nur das, was wir ſelbſt mit voller Kraft in uns fuͤhlen, ſind wir im Stande durch die Rede, oder durch andre Wege auszudruͤ- ken, und andern fuͤhlbar zu machen. Die Maxime, die Horaz dem Dichter empfiehlt, daß er ſelbſt erſt weinen ſoll, wenn er unſre Thraͤnen will fleißen ſehen, (*) Aen. III. 321. (*) S. Plin. Hiſt. Nat. L. XXXV. c. 10. (*) S. Plut. im Leben des Deme- trius. (*) S. Enharmo- niſch.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/63>, abgerufen am 29.04.2024.