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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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V.


[Spaltenumbruch]
Venedische Schule.

Jst von den Schulen der Mahlerey diejenige, die
sich durch einen großen Geschmak im Colorit hervor-
gethan hat. Die Lebhaftigkeit sowol, als die Wahr-
heit der Farben, die vollkommene Austheilung des
Lichts und Schattens, die Kühnheit des Pensels,
der wahre Ton der Natur, sind vorzügliche Eigen-
schaften dieser Schule, die aber weniger Größe und
weniger Richtigkeit der Zeichnung hat, als die rö-
mische oder die lombardische Schulen. Eine kurze
Geschichte der Mahlerkunst in Venedig findet man
in dem Werk, welches alle in und um Venedig be-
sindliche vorzügliche Gemählde beschreibt. (+) Es
dienet auch denen, die alle in öffentlichen Gebäuden
befindliche Gemählde sehen wollen, zum Wegweiser.

Titian ist ohne Wiederrede der erste Meister dieser
Schule, und der größte Colorist, der vielleicht je-
mals gewesen. Ob man ihm gleich in verschiede-
nen Stüken den Rubens, und den Van Dyk an die
Seite sezet, so muß man doch gestehen, daß das Be-
zaubernde in seinen Farben mehr Wahrheit hat, als
das Colorit des Rubens, und mehr Bewundrung
erwekt, als das von Van Dyk. Man findet in al-
len großen Gallerien etwas von ihm, aber um ihn
recht zu kennen, muß man die Gemählde sehen, die
in Venedig von ihm sind. Tintoret ein andrer
großer Mahler dieser Schule, kann nur in Venedig
gekannt werden. Sein großes Talent war im Gros-
sen mit vollkommener Kühnheit zu mahlen.

Paul von Verona eines der größten Genien, we-
gen vollkommen verständiger Anordnung der Ge-
mählde, sowol in Absicht auf die geschikte Verbin-
dung aller Theile, als auf die Austheilung des
Lichts. Wahrheit und Stärke sind überall in sei-
nem Colorit. Man wirft ihm vor, daß alle seine
starke Schatten etwas Violettes haben, aber seine
Halbschatten sind desto fürtreflicher. Die Leichtig-
keit seines Pensels geht über alles, und die Pracht
in Kleidung seiner Personen giebt seinen Gemählden
einen Reichthum, der ihnen eigen ist. Aber das
Große in den Charaktern findet man nicht bey
ihm; er hat allezeit sich genau an die Natur gebun-
[Spaltenumbruch] den, und kein Mahler hat das Uebliche so sehr aus
den Augen gesezt, als er.

Von den neuern venedischen Mahlern sind vorzüg-
lich zu merken. Tiepolo, ein Mann von schönem
Genie, der ein sehr angenehmes Colorit mit einer
großen Leichtigkeit in seiner Arbeit verbindet; Pelle-
grini, Piazetta, Lazarini, Molinari, Celesti, Bom-
belli, Liberi.

Veränderungen. Variationen.
(Musik.)

Man kann zu einer Folge von Harmonien, oder
Aceorden mehrere Melodien sezen, die alle nach den
Regeln des harmonischen Sazes richtig sind. Wenn
also eine Melodie von Sängern, oder Spiehlern
wiederholt wird, so können sie das zweytemal vie-
les ganz anders, als das erstemal singen oder spieh-
len, ohne die Regeln des Sazes zu verlezen; ge-
übte Tonsezer aber verfertigen bisweilen über einer-
ley Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder
weniger den Charakter der ersten beybehalten: für
beyde Fälle braucht man das Wort Variation, das
wir durch Veränderungen ausdrüken.

Die ältern Tonsezer pflegten insgemein ihre Me-
lodien in einfachen, oder etwas langen Noten zu
sezen, und also nur das Wesentliche auszudrüken.
Dieses gab denn besonders in Stüken von langsa-
mer Bewegung, geschikten Spiehlern und Sängern
Gelegenheit, diese einfachen Töne mit Geschmak und
Empfindung etwas zu verziehren. Weil aber viel
Sänger und Spiehler dieses nicht ohne Verlezung
der Harmonie, oder des Ausdruks zu thun ver-
mochten; so gewöhnten sich die Sezer nach und nach
an, die schiklichsten Verziehrungen, schon als wesent-
lich zur Melodie gehörige Verschönerungen, selbst zu
sezen. Nun werden diese Verziehrungen von üppi-
gen Sängern wieder mit neuen Verziehrungen, die
bey der Wiederholung noch vielfältig verändert wer-
den, verbrämt. Dadurch entsteht denn der, zwar
eine sehr fertige und bis zur Verwundrung künstli-
che Kehle anzeigende, aber aller wahren Kraft und
alles Nachdruks gänzlich beraubte Gesang, der izt
beynahe überall gesucht wird.

So
(+) [Spaltenumbruch]
Descrizione di tutte le publiche pitture della citta di
[Spaltenumbruch] Venetia ed Isole circonvicine Venet. 1733. 8vo.
V.


[Spaltenumbruch]
Venediſche Schule.

Jſt von den Schulen der Mahlerey diejenige, die
ſich durch einen großen Geſchmak im Colorit hervor-
gethan hat. Die Lebhaftigkeit ſowol, als die Wahr-
heit der Farben, die vollkommene Austheilung des
Lichts und Schattens, die Kuͤhnheit des Penſels,
der wahre Ton der Natur, ſind vorzuͤgliche Eigen-
ſchaften dieſer Schule, die aber weniger Groͤße und
weniger Richtigkeit der Zeichnung hat, als die roͤ-
miſche oder die lombardiſche Schulen. Eine kurze
Geſchichte der Mahlerkunſt in Venedig findet man
in dem Werk, welches alle in und um Venedig be-
ſindliche vorzuͤgliche Gemaͤhlde beſchreibt. (†) Es
dienet auch denen, die alle in oͤffentlichen Gebaͤuden
befindliche Gemaͤhlde ſehen wollen, zum Wegweiſer.

Titian iſt ohne Wiederrede der erſte Meiſter dieſer
Schule, und der groͤßte Coloriſt, der vielleicht je-
mals geweſen. Ob man ihm gleich in verſchiede-
nen Stuͤken den Rubens, und den Van Dyk an die
Seite ſezet, ſo muß man doch geſtehen, daß das Be-
zaubernde in ſeinen Farben mehr Wahrheit hat, als
das Colorit des Rubens, und mehr Bewundrung
erwekt, als das von Van Dyk. Man findet in al-
len großen Gallerien etwas von ihm, aber um ihn
recht zu kennen, muß man die Gemaͤhlde ſehen, die
in Venedig von ihm ſind. Tintoret ein andrer
großer Mahler dieſer Schule, kann nur in Venedig
gekannt werden. Sein großes Talent war im Groſ-
ſen mit vollkommener Kuͤhnheit zu mahlen.

Paul von Verona eines der groͤßten Genien, we-
gen vollkommen verſtaͤndiger Anordnung der Ge-
maͤhlde, ſowol in Abſicht auf die geſchikte Verbin-
dung aller Theile, als auf die Austheilung des
Lichts. Wahrheit und Staͤrke ſind uͤberall in ſei-
nem Colorit. Man wirft ihm vor, daß alle ſeine
ſtarke Schatten etwas Violettes haben, aber ſeine
Halbſchatten ſind deſto fuͤrtreflicher. Die Leichtig-
keit ſeines Penſels geht uͤber alles, und die Pracht
in Kleidung ſeiner Perſonen giebt ſeinen Gemaͤhlden
einen Reichthum, der ihnen eigen iſt. Aber das
Große in den Charaktern findet man nicht bey
ihm; er hat allezeit ſich genau an die Natur gebun-
[Spaltenumbruch] den, und kein Mahler hat das Uebliche ſo ſehr aus
den Augen geſezt, als er.

Von den neuern venediſchen Mahlern ſind vorzuͤg-
lich zu merken. Tiepolo, ein Mann von ſchoͤnem
Genie, der ein ſehr angenehmes Colorit mit einer
großen Leichtigkeit in ſeiner Arbeit verbindet; Pelle-
grini, Piazetta, Lazarini, Molinari, Celeſti, Bom-
belli, Liberi.

Veraͤnderungen. Variationen.
(Muſik.)

Man kann zu einer Folge von Harmonien, oder
Aceorden mehrere Melodien ſezen, die alle nach den
Regeln des harmoniſchen Sazes richtig ſind. Wenn
alſo eine Melodie von Saͤngern, oder Spiehlern
wiederholt wird, ſo koͤnnen ſie das zweytemal vie-
les ganz anders, als das erſtemal ſingen oder ſpieh-
len, ohne die Regeln des Sazes zu verlezen; ge-
uͤbte Tonſezer aber verfertigen bisweilen uͤber einer-
ley Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder
weniger den Charakter der erſten beybehalten: fuͤr
beyde Faͤlle braucht man das Wort Variation, das
wir durch Veraͤnderungen ausdruͤken.

Die aͤltern Tonſezer pflegten insgemein ihre Me-
lodien in einfachen, oder etwas langen Noten zu
ſezen, und alſo nur das Weſentliche auszudruͤken.
Dieſes gab denn beſonders in Stuͤken von langſa-
mer Bewegung, geſchikten Spiehlern und Saͤngern
Gelegenheit, dieſe einfachen Toͤne mit Geſchmak und
Empfindung etwas zu verziehren. Weil aber viel
Saͤnger und Spiehler dieſes nicht ohne Verlezung
der Harmonie, oder des Ausdruks zu thun ver-
mochten; ſo gewoͤhnten ſich die Sezer nach und nach
an, die ſchiklichſten Verziehrungen, ſchon als weſent-
lich zur Melodie gehoͤrige Verſchoͤnerungen, ſelbſt zu
ſezen. Nun werden dieſe Verziehrungen von uͤppi-
gen Saͤngern wieder mit neuen Verziehrungen, die
bey der Wiederholung noch vielfaͤltig veraͤndert wer-
den, verbraͤmt. Dadurch entſteht denn der, zwar
eine ſehr fertige und bis zur Verwundrung kuͤnſtli-
che Kehle anzeigende, aber aller wahren Kraft und
alles Nachdruks gaͤnzlich beraubte Geſang, der izt
beynahe uͤberall geſucht wird.

So
(†) [Spaltenumbruch]
Deſcrizione di tutte le publiche pitture della citta di
[Spaltenumbruch] Venetia ed Iſole circonvicine Venet. 1733. 8vo.
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[1206[1188]/0635] V. Venediſche Schule. Jſt von den Schulen der Mahlerey diejenige, die ſich durch einen großen Geſchmak im Colorit hervor- gethan hat. Die Lebhaftigkeit ſowol, als die Wahr- heit der Farben, die vollkommene Austheilung des Lichts und Schattens, die Kuͤhnheit des Penſels, der wahre Ton der Natur, ſind vorzuͤgliche Eigen- ſchaften dieſer Schule, die aber weniger Groͤße und weniger Richtigkeit der Zeichnung hat, als die roͤ- miſche oder die lombardiſche Schulen. Eine kurze Geſchichte der Mahlerkunſt in Venedig findet man in dem Werk, welches alle in und um Venedig be- ſindliche vorzuͤgliche Gemaͤhlde beſchreibt. (†) Es dienet auch denen, die alle in oͤffentlichen Gebaͤuden befindliche Gemaͤhlde ſehen wollen, zum Wegweiſer. Titian iſt ohne Wiederrede der erſte Meiſter dieſer Schule, und der groͤßte Coloriſt, der vielleicht je- mals geweſen. Ob man ihm gleich in verſchiede- nen Stuͤken den Rubens, und den Van Dyk an die Seite ſezet, ſo muß man doch geſtehen, daß das Be- zaubernde in ſeinen Farben mehr Wahrheit hat, als das Colorit des Rubens, und mehr Bewundrung erwekt, als das von Van Dyk. Man findet in al- len großen Gallerien etwas von ihm, aber um ihn recht zu kennen, muß man die Gemaͤhlde ſehen, die in Venedig von ihm ſind. Tintoret ein andrer großer Mahler dieſer Schule, kann nur in Venedig gekannt werden. Sein großes Talent war im Groſ- ſen mit vollkommener Kuͤhnheit zu mahlen. Paul von Verona eines der groͤßten Genien, we- gen vollkommen verſtaͤndiger Anordnung der Ge- maͤhlde, ſowol in Abſicht auf die geſchikte Verbin- dung aller Theile, als auf die Austheilung des Lichts. Wahrheit und Staͤrke ſind uͤberall in ſei- nem Colorit. Man wirft ihm vor, daß alle ſeine ſtarke Schatten etwas Violettes haben, aber ſeine Halbſchatten ſind deſto fuͤrtreflicher. Die Leichtig- keit ſeines Penſels geht uͤber alles, und die Pracht in Kleidung ſeiner Perſonen giebt ſeinen Gemaͤhlden einen Reichthum, der ihnen eigen iſt. Aber das Große in den Charaktern findet man nicht bey ihm; er hat allezeit ſich genau an die Natur gebun- den, und kein Mahler hat das Uebliche ſo ſehr aus den Augen geſezt, als er. Von den neuern venediſchen Mahlern ſind vorzuͤg- lich zu merken. Tiepolo, ein Mann von ſchoͤnem Genie, der ein ſehr angenehmes Colorit mit einer großen Leichtigkeit in ſeiner Arbeit verbindet; Pelle- grini, Piazetta, Lazarini, Molinari, Celeſti, Bom- belli, Liberi. Veraͤnderungen. Variationen. (Muſik.) Man kann zu einer Folge von Harmonien, oder Aceorden mehrere Melodien ſezen, die alle nach den Regeln des harmoniſchen Sazes richtig ſind. Wenn alſo eine Melodie von Saͤngern, oder Spiehlern wiederholt wird, ſo koͤnnen ſie das zweytemal vie- les ganz anders, als das erſtemal ſingen oder ſpieh- len, ohne die Regeln des Sazes zu verlezen; ge- uͤbte Tonſezer aber verfertigen bisweilen uͤber einer- ley Harmonien, mehrere Melodien, die mehr oder weniger den Charakter der erſten beybehalten: fuͤr beyde Faͤlle braucht man das Wort Variation, das wir durch Veraͤnderungen ausdruͤken. Die aͤltern Tonſezer pflegten insgemein ihre Me- lodien in einfachen, oder etwas langen Noten zu ſezen, und alſo nur das Weſentliche auszudruͤken. Dieſes gab denn beſonders in Stuͤken von langſa- mer Bewegung, geſchikten Spiehlern und Saͤngern Gelegenheit, dieſe einfachen Toͤne mit Geſchmak und Empfindung etwas zu verziehren. Weil aber viel Saͤnger und Spiehler dieſes nicht ohne Verlezung der Harmonie, oder des Ausdruks zu thun ver- mochten; ſo gewoͤhnten ſich die Sezer nach und nach an, die ſchiklichſten Verziehrungen, ſchon als weſent- lich zur Melodie gehoͤrige Verſchoͤnerungen, ſelbſt zu ſezen. Nun werden dieſe Verziehrungen von uͤppi- gen Saͤngern wieder mit neuen Verziehrungen, die bey der Wiederholung noch vielfaͤltig veraͤndert wer- den, verbraͤmt. Dadurch entſteht denn der, zwar eine ſehr fertige und bis zur Verwundrung kuͤnſtli- che Kehle anzeigende, aber aller wahren Kraft und alles Nachdruks gaͤnzlich beraubte Geſang, der izt beynahe uͤberall geſucht wird. So (†) Deſcrizione di tutte le publiche pitture della citta di Venetia ed Iſole circonvicine Venet. 1733. 8vo.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1206[1188]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/635>, abgerufen am 29.04.2024.