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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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[Spaltenumbruch]

Vor
daß man den lezten Ton, der eigentlich den Schluß
machen und alles in Ruhe sezen soll, kaum mehr
vernihmt.

Vortrag.
(Redende Künste.)

Jst der Ausdruk der Rede durch Stimm und Ge-
behrde, oder das Vernehmliche der Rede, das nicht
in dem Sinn der Worte, sondern in dem Ton, in
den Gebehrden und in dem Gesichte des Redners
liegt. Dieses ist die Erklärung, die Cicero von dem
Wort Actio giebt (+). Jedermann weiß aus der
täglichen Erfahrung, daß dieselben Gedanken, der-
selbe Sinn der Worte durch die Verschiedenheit des
Vortrages, ganz verschiedenen Eindruk machen:
daß folglich der Vortrag ein wichtiger Theil der Be-
redsamkeit sey. Es verdienet aber hier besonders
angemerkt zu werden, daß die zwey größten Redner
des Alterthums, Demosthenes und Cicero, ihn für
den allerwichtigsten gehalten. "Der Vortrag, sagt
Cicero, ist das, was in der Rede die größte Kraft
hat. Ohne ihn kann der größte Redner nichts aus-
richten; aber ein mittelmäßiger, der ihn in seiner
Gewalt hat, kann dadurch öfters die größten über-
treffen. Man sagt, daß Demosthenes, als er ge-
fragt wurd, was das Wichtigste in der Kunst zu
reden sey, dem Vortrag die erste, und auch die
zweyte und dritte Stelle eingeräumt habe." (++)

Darum verdienet die Betrachtung des guten Vor-
trages in der Theorie der redenden Künste, eine be-
sonders genaue Ausführung. Aber die Sach ist
fast unüberwindlichen Schwierigkeiten unterworfen.
Man müßte beynahe die ganze Theorie der Musik
und der Pantomime deutlich vor Augen haben, um
alles, was zum Vortrag der Rede gehört, anzeigen
und bestimmen zu können. Man müßte zeigen kön-
nen, wie eine Folge von Tönen, auch ohne den
Sinn der Worte, das Gehör angenehm zu unter-
halten und das Herz kräftig zu rühren vermögend
sey; und wie es zugehe, daß ein Mensch, ohne
zu sprechen, durch Stellung, Gebehrde und Mine,
verständlich und herzrührend sprechen könne. Daß
beydes täglich geschehe, wissen wir aus der Erfah-
[Spaltenumbruch]

Vor
rung; aber deutlich zu zeigen, wie es geschehe, und
jede Kraft, die in dem Hörbaren der Rede und in
dem Sichtbaren des Redners liegt, genau zu bestim-
men und psychologisch zu erklären, wär ein Unter-
nehmen, dem zur Zeit kein Philosoph gewachsen ist.
Denn wenn er auch alles, was er durch den Vor-
trag fühlet, genau unterscheiden, und den Grund
jeder besondern Würkung einsehen könnte; so fehlten
ihm die Worte, das, was er erkannt und fühlt,
auszudrüken. Wer wird z. B. um von hunderten
nur einen besondern Fall anzuführen, mit Worten
beschreiben können, in welchem Tone man das Wort
Gott aussprechen müsse, wenn es ein Ausrufungs-
wort, des Schrekens, oder der anbetenden Be-
wundrung, oder der geduldigen Unterwerfung, seyn,
und die Kraft haben soll, eine dieser Empfindungen
fühlen zu lassen?

Wenn also der Vortrag der wichtigste Punkt in
der Beredsamkeit ist, so ist er gewiß auch der schweer-
ste in der Theorie der Kunst abgehandelt zu werden.

Es scheinet, daß die Griechen eine besondere Kunst
daraus gemacht haben, die Werke der Dichter (viel-
leicht auch der Redner) geschikt vorzutragen; so
wie man gegenwärtig in der Musik Künstler hat, die
selbst keine Tonstüke sezen, sondern blos fremde Werke
vortragen. Dieser Kunst gedenken einige Alten un-
ter dem Namen Rhapsodia; und wie gegenwärtig
die Jnstrumentisten sich in Gesellschaften hören lassen,
so ließen sich in Athen die Rhapsodisten hören. Es
gab solche, die sich blos auf den Vortrag eines ein-
zigen Dichters einschränkten; weil sie glaubten, daß
die Kunst zu schweer sey, als daß ein Mensch sie in
allen ihren Zweygen besizen könnte. Jch besinne
mich in einem der Werke des Aristoteles gelesen zu
haben, daß ein Rhapsodist besonderes über den Vor-
trag der Werke von kläglichem Jnhalt, geschrieben
habe. Plato hält dafür, daß der Einfluß des Him-
mels, oder die Begeisterung dem Rhapsodisten eben
so nöthig sey, als dem Dichter (*), und es läßt
sich aus einer Stelle des Euripides schließen, daß
zu seiner Zeit die Kunst des Vortrages zu einem ho-
hen Grad der Vollkommenheit gestiegen sey: we-
nigstens vermuthe ich, daß folgende Worte, die

der
(+) Facit (actio) dilucidam orationem et illustrem et
probabilem et suavem, non verbis; sed varietate vocum,
motu corporis, vultu.
Cic. in Topic.
(++) [Spaltenumbruch]
Actio in dicendo una dominatur. Sine hac summus
[Spaltenumbruch] orator esse in numero nullo potest: mediocris hac instructus,
summos saepe superare. Huic primas dedisse Demosthenes
dicitur, cum rogaretur, quid. in dicendo esset primum;
huic secundas, huic tertias.
(*) Jm Ge-
spr. Jon.

[Spaltenumbruch]

Vor
daß man den lezten Ton, der eigentlich den Schluß
machen und alles in Ruhe ſezen ſoll, kaum mehr
vernihmt.

Vortrag.
(Redende Kuͤnſte.)

Jſt der Ausdruk der Rede durch Stimm und Ge-
behrde, oder das Vernehmliche der Rede, das nicht
in dem Sinn der Worte, ſondern in dem Ton, in
den Gebehrden und in dem Geſichte des Redners
liegt. Dieſes iſt die Erklaͤrung, die Cicero von dem
Wort Actio giebt (†). Jedermann weiß aus der
taͤglichen Erfahrung, daß dieſelben Gedanken, der-
ſelbe Sinn der Worte durch die Verſchiedenheit des
Vortrages, ganz verſchiedenen Eindruk machen:
daß folglich der Vortrag ein wichtiger Theil der Be-
redſamkeit ſey. Es verdienet aber hier beſonders
angemerkt zu werden, daß die zwey groͤßten Redner
des Alterthums, Demoſthenes und Cicero, ihn fuͤr
den allerwichtigſten gehalten. „Der Vortrag, ſagt
Cicero, iſt das, was in der Rede die groͤßte Kraft
hat. Ohne ihn kann der groͤßte Redner nichts aus-
richten; aber ein mittelmaͤßiger, der ihn in ſeiner
Gewalt hat, kann dadurch oͤfters die groͤßten uͤber-
treffen. Man ſagt, daß Demoſthenes, als er ge-
fragt wurd, was das Wichtigſte in der Kunſt zu
reden ſey, dem Vortrag die erſte, und auch die
zweyte und dritte Stelle eingeraͤumt habe.“ (††)

Darum verdienet die Betrachtung des guten Vor-
trages in der Theorie der redenden Kuͤnſte, eine be-
ſonders genaue Ausfuͤhrung. Aber die Sach iſt
faſt unuͤberwindlichen Schwierigkeiten unterworfen.
Man muͤßte beynahe die ganze Theorie der Muſik
und der Pantomime deutlich vor Augen haben, um
alles, was zum Vortrag der Rede gehoͤrt, anzeigen
und beſtimmen zu koͤnnen. Man muͤßte zeigen koͤn-
nen, wie eine Folge von Toͤnen, auch ohne den
Sinn der Worte, das Gehoͤr angenehm zu unter-
halten und das Herz kraͤftig zu ruͤhren vermoͤgend
ſey; und wie es zugehe, daß ein Menſch, ohne
zu ſprechen, durch Stellung, Gebehrde und Mine,
verſtaͤndlich und herzruͤhrend ſprechen koͤnne. Daß
beydes taͤglich geſchehe, wiſſen wir aus der Erfah-
[Spaltenumbruch]

Vor
rung; aber deutlich zu zeigen, wie es geſchehe, und
jede Kraft, die in dem Hoͤrbaren der Rede und in
dem Sichtbaren des Redners liegt, genau zu beſtim-
men und pſychologiſch zu erklaͤren, waͤr ein Unter-
nehmen, dem zur Zeit kein Philoſoph gewachſen iſt.
Denn wenn er auch alles, was er durch den Vor-
trag fuͤhlet, genau unterſcheiden, und den Grund
jeder beſondern Wuͤrkung einſehen koͤnnte; ſo fehlten
ihm die Worte, das, was er erkannt und fuͤhlt,
auszudruͤken. Wer wird z. B. um von hunderten
nur einen beſondern Fall anzufuͤhren, mit Worten
beſchreiben koͤnnen, in welchem Tone man das Wort
Gott ausſprechen muͤſſe, wenn es ein Ausrufungs-
wort, des Schrekens, oder der anbetenden Be-
wundrung, oder der geduldigen Unterwerfung, ſeyn,
und die Kraft haben ſoll, eine dieſer Empfindungen
fuͤhlen zu laſſen?

Wenn alſo der Vortrag der wichtigſte Punkt in
der Beredſamkeit iſt, ſo iſt er gewiß auch der ſchweer-
ſte in der Theorie der Kunſt abgehandelt zu werden.

Es ſcheinet, daß die Griechen eine beſondere Kunſt
daraus gemacht haben, die Werke der Dichter (viel-
leicht auch der Redner) geſchikt vorzutragen; ſo
wie man gegenwaͤrtig in der Muſik Kuͤnſtler hat, die
ſelbſt keine Tonſtuͤke ſezen, ſondern blos fremde Werke
vortragen. Dieſer Kunſt gedenken einige Alten un-
ter dem Namen Rhapſodia; und wie gegenwaͤrtig
die Jnſtrumentiſten ſich in Geſellſchaften hoͤren laſſen,
ſo ließen ſich in Athen die Rhapſodiſten hoͤren. Es
gab ſolche, die ſich blos auf den Vortrag eines ein-
zigen Dichters einſchraͤnkten; weil ſie glaubten, daß
die Kunſt zu ſchweer ſey, als daß ein Menſch ſie in
allen ihren Zweygen beſizen koͤnnte. Jch beſinne
mich in einem der Werke des Ariſtoteles geleſen zu
haben, daß ein Rhapſodiſt beſonderes uͤber den Vor-
trag der Werke von klaͤglichem Jnhalt, geſchrieben
habe. Plato haͤlt dafuͤr, daß der Einfluß des Him-
mels, oder die Begeiſterung dem Rhapſodiſten eben
ſo noͤthig ſey, als dem Dichter (*), und es laͤßt
ſich aus einer Stelle des Euripides ſchließen, daß
zu ſeiner Zeit die Kunſt des Vortrages zu einem ho-
hen Grad der Vollkommenheit geſtiegen ſey: we-
nigſtens vermuthe ich, daß folgende Worte, die

der
(†) Facit (actio) dilucidam orationem et illuſtrem et
probabilem et ſuavem, non verbis; ſed varietate vocum,
motu corporis, vultu.
Cic. in Topic.
(††) [Spaltenumbruch]
Actio in dicendo una dominatur. Sine hac ſummus
[Spaltenumbruch] orator eſſe in numero nullo poteſt: mediocris hac inſtructus,
ſummos ſæpe ſuperare. Huic primas dediſſe Demoſthenes
dicitur, cum rogaretur, quid. in dicendo eſſet primum;
huic ſecundas, huic tertias.
(*) Jm Ge-
ſpr. Jon.
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[1242[1224]/0671] Vor Vor daß man den lezten Ton, der eigentlich den Schluß machen und alles in Ruhe ſezen ſoll, kaum mehr vernihmt. Vortrag. (Redende Kuͤnſte.) Jſt der Ausdruk der Rede durch Stimm und Ge- behrde, oder das Vernehmliche der Rede, das nicht in dem Sinn der Worte, ſondern in dem Ton, in den Gebehrden und in dem Geſichte des Redners liegt. Dieſes iſt die Erklaͤrung, die Cicero von dem Wort Actio giebt (†). Jedermann weiß aus der taͤglichen Erfahrung, daß dieſelben Gedanken, der- ſelbe Sinn der Worte durch die Verſchiedenheit des Vortrages, ganz verſchiedenen Eindruk machen: daß folglich der Vortrag ein wichtiger Theil der Be- redſamkeit ſey. Es verdienet aber hier beſonders angemerkt zu werden, daß die zwey groͤßten Redner des Alterthums, Demoſthenes und Cicero, ihn fuͤr den allerwichtigſten gehalten. „Der Vortrag, ſagt Cicero, iſt das, was in der Rede die groͤßte Kraft hat. Ohne ihn kann der groͤßte Redner nichts aus- richten; aber ein mittelmaͤßiger, der ihn in ſeiner Gewalt hat, kann dadurch oͤfters die groͤßten uͤber- treffen. Man ſagt, daß Demoſthenes, als er ge- fragt wurd, was das Wichtigſte in der Kunſt zu reden ſey, dem Vortrag die erſte, und auch die zweyte und dritte Stelle eingeraͤumt habe.“ (††) Darum verdienet die Betrachtung des guten Vor- trages in der Theorie der redenden Kuͤnſte, eine be- ſonders genaue Ausfuͤhrung. Aber die Sach iſt faſt unuͤberwindlichen Schwierigkeiten unterworfen. Man muͤßte beynahe die ganze Theorie der Muſik und der Pantomime deutlich vor Augen haben, um alles, was zum Vortrag der Rede gehoͤrt, anzeigen und beſtimmen zu koͤnnen. Man muͤßte zeigen koͤn- nen, wie eine Folge von Toͤnen, auch ohne den Sinn der Worte, das Gehoͤr angenehm zu unter- halten und das Herz kraͤftig zu ruͤhren vermoͤgend ſey; und wie es zugehe, daß ein Menſch, ohne zu ſprechen, durch Stellung, Gebehrde und Mine, verſtaͤndlich und herzruͤhrend ſprechen koͤnne. Daß beydes taͤglich geſchehe, wiſſen wir aus der Erfah- rung; aber deutlich zu zeigen, wie es geſchehe, und jede Kraft, die in dem Hoͤrbaren der Rede und in dem Sichtbaren des Redners liegt, genau zu beſtim- men und pſychologiſch zu erklaͤren, waͤr ein Unter- nehmen, dem zur Zeit kein Philoſoph gewachſen iſt. Denn wenn er auch alles, was er durch den Vor- trag fuͤhlet, genau unterſcheiden, und den Grund jeder beſondern Wuͤrkung einſehen koͤnnte; ſo fehlten ihm die Worte, das, was er erkannt und fuͤhlt, auszudruͤken. Wer wird z. B. um von hunderten nur einen beſondern Fall anzufuͤhren, mit Worten beſchreiben koͤnnen, in welchem Tone man das Wort Gott ausſprechen muͤſſe, wenn es ein Ausrufungs- wort, des Schrekens, oder der anbetenden Be- wundrung, oder der geduldigen Unterwerfung, ſeyn, und die Kraft haben ſoll, eine dieſer Empfindungen fuͤhlen zu laſſen? Wenn alſo der Vortrag der wichtigſte Punkt in der Beredſamkeit iſt, ſo iſt er gewiß auch der ſchweer- ſte in der Theorie der Kunſt abgehandelt zu werden. Es ſcheinet, daß die Griechen eine beſondere Kunſt daraus gemacht haben, die Werke der Dichter (viel- leicht auch der Redner) geſchikt vorzutragen; ſo wie man gegenwaͤrtig in der Muſik Kuͤnſtler hat, die ſelbſt keine Tonſtuͤke ſezen, ſondern blos fremde Werke vortragen. Dieſer Kunſt gedenken einige Alten un- ter dem Namen Rhapſodia; und wie gegenwaͤrtig die Jnſtrumentiſten ſich in Geſellſchaften hoͤren laſſen, ſo ließen ſich in Athen die Rhapſodiſten hoͤren. Es gab ſolche, die ſich blos auf den Vortrag eines ein- zigen Dichters einſchraͤnkten; weil ſie glaubten, daß die Kunſt zu ſchweer ſey, als daß ein Menſch ſie in allen ihren Zweygen beſizen koͤnnte. Jch beſinne mich in einem der Werke des Ariſtoteles geleſen zu haben, daß ein Rhapſodiſt beſonderes uͤber den Vor- trag der Werke von klaͤglichem Jnhalt, geſchrieben habe. Plato haͤlt dafuͤr, daß der Einfluß des Him- mels, oder die Begeiſterung dem Rhapſodiſten eben ſo noͤthig ſey, als dem Dichter (*), und es laͤßt ſich aus einer Stelle des Euripides ſchließen, daß zu ſeiner Zeit die Kunſt des Vortrages zu einem ho- hen Grad der Vollkommenheit geſtiegen ſey: we- nigſtens vermuthe ich, daß folgende Worte, die der (†) Facit (actio) dilucidam orationem et illuſtrem et probabilem et ſuavem, non verbis; ſed varietate vocum, motu corporis, vultu. Cic. in Topic. (††) Actio in dicendo una dominatur. Sine hac ſummus orator eſſe in numero nullo poteſt: mediocris hac inſtructus, ſummos ſæpe ſuperare. Huic primas dediſſe Demoſthenes dicitur, cum rogaretur, quid. in dicendo eſſet primum; huic ſecundas, huic tertias. (*) Jm Ge- ſpr. Jon.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1242[1224]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/671>, abgerufen am 29.04.2024.