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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kun

Aber sie ist der Gefahr auszuarten, und den Kün-
sten zu schaden, ausgesezt; so bald sie zu einem ge-
wissen Grad des Flors und äusserlichen Ansehens
gestiegen ist. Die ersten Kunstrichter widmeten ihr
Nachdenken der Theorie der Künste, weil die Natur
ihnen das besondere Genie zu Untersuchungen dieser
Art gegeben hatte: was sie bemerkten und entdek-
ten, hatte das Gepräg der Gründlichkeit, ob es gleich
noch nicht allgemein und vollständig genug war.
Nachdem einmal die Critik durch dergleichen Be-
merkungen mit Säzen so weit bereichert worden,
daß es der Mühe werth war, sie in ein System zu
sammeln; so wurd sie zu einer Wissenschaft, die nun
auch mittelmäßigen und seichten Köpfen in die Au-
gen leuchtete. Nicht nur Männer von Genie, son-
dern anch bloße Liebhaber ohne Talente wiedmeten
ihr ihre Zeit. Diese bildeten sich ein, man könne
sie lernen, weil die Kunstsprache, und die einmal
in die Wissenschaft aufgenommenen Säze sich leicht
ins Gedächtnis fassen lassen. Was also im Anfang
die Frucht des wahren Genies war, wurd nun zur
Modewissenschaft, auf welche sich Leute ohne Genie
und Talente legten. Jeder seichte Kopf, der sie ohne
Verstand blos durch das Gedächtnis gefaßt hatte,
versuchte sie mit seinen eigenen Säzen, mit neuen
Wörtern, an denen das Genie keinen Antheil hatte,
zu bereichern; und so wurd die Critik zulezt zu ei-
nem Gewäsche, in welchem man nur mit großer
Mühe, die von den wahren Kunstrichtern gemach-
ten Entdekungen noch wahrnehmen konnte. Wenn
nun zugleich auch Menschen ohne natürlichen Beruf
sich auf die Künste legen; so glauben sie dieselben
aus den Theorien erlernen zu können: und so werden
Künste und Critik zugleich verdorben. Dieses Schiksal
haben unter den Griechen die Rhetorik und zugleich
die Beredsamkeit gehabt. Aristoteles, der als ein
Mann von Genie über diese Kunst geschrieben hatte,
bekam tausend Nachfolger ohne Genie, welche nach
und nach die Theorie der Kunst in einen beynahe
leeren Wortkram verwandelten: so daß man zulezt
in einem einzigen Worte aus der Jlias acht ver-
schiedene rhetorische Figuren entdekte, deren jede
ihren besondern Namen hatte. Und nun gab es
auch schwache Köpfe, die aus den Rhetoriken die
Beredsamkeit erlernen wollten. Auf diese Weise
mußte die Kunst durch die Critik zu Grunde gehen.
Dieses Schiksal haben die schönen Künste mit den
Wissenschaften gemein: so ist es der Logik, der
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Kun
Metaphysik, der Sittenlehre, und überhaupt der
ganzen Philosophie gegangen. Die schäzbaresten
Erfindungen des menschlichen Genies werden all-
mählig verdorben, nachdem sie so weit gekommen
sind, daß sie durch ihren äusserlichen Glanz die eitele
Ehrsucht schwacher Köpfe reizen. Diese wollen denn
das ihrige auch dazu beytragen; da es ihnen aber
an Genie fehlt, so besteht ihr Beytrag in einem lee-
ren Wortgepräng und einer Menge willkührlicher
und sophistischer Säze, die sie für Wahrheiten aus-
geben; und so fällt die ganze Erfindung in eine fin-
stere Barbarey. Der, welcher zuerst auf die Ge-
danken gekommen ist, einen wilden Baume durch
Verpflanzung in bessern Boden, durch Wartung
und durch Beschneiden zu verbessern, war ein Mann
von Genie, der Erfinder der Pflanzkunst; der aber,
der endlich, um auch etwas Neues in dieser Kunst
zu erfinden, den kindischen Einfall gehabt, dem
Baume durch Beschneiden die Form einer Säule,
oder eines Thieres zu geben, hat den Ruhm, der
Kunst den lezten tödlichen Streich versezet zu haben.

Man muß es deswegen nicht der Critik selbst,
nicht den Kunstrichtern von Genie, sondern den So-
phisten, die aus dieser Wissenschaft ein Handwerk
gemacht haben, zuschreiben, wenn die schönen
Künste durch Theorien verdorben werden. Den
ächten Kunstrichter wollen wir als den Lehrer des
Künstlers ansehen, und diesem rathen auf seine
Stimme zu horchen. Zwar scheinet es, daß der
Künstler auch der beste Richter über die Kunst seyn
sollte. Wenn man aber bedenkt, wie viel Zeit,
Nachdenken und Fleiß die Ausübung erfodert; so
läßt sich begreifen, daß ein zur Kunst gebohrnes
Genie, (und ein solches muß der Kunstrichter seyn)
das sich selbst mit der Ausübung nicht beschäftiget,
in gar vielen zur Kunst gehörigen Dingen, noch
weiter sehen muß, als der Künstler selbst.

Kunstwörter.

Die Künstler und Kunstrichter bedienen sich, wenn
sie von Kunstsachen reden, vieler Wörter, die im
gemeinen Leben, oder in Wissenschaften sonst nicht
oder wenigstens nicht in der Bedeutung, die sie
in der Kunstsprache haben, vorkommen, und des-
wegen Kunstwörter genennt werden. Man hat so
wenig Ursache sich über die Kunstwörter zu bekla-
gen, daß man vielmehr ihre Anzahl so lange ver-
mehren sollte, bis jeder in der Theorie und Aus-

übung
Zweyter Theil. L l l l
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Kun

Aber ſie iſt der Gefahr auszuarten, und den Kuͤn-
ſten zu ſchaden, ausgeſezt; ſo bald ſie zu einem ge-
wiſſen Grad des Flors und aͤuſſerlichen Anſehens
geſtiegen iſt. Die erſten Kunſtrichter widmeten ihr
Nachdenken der Theorie der Kuͤnſte, weil die Natur
ihnen das beſondere Genie zu Unterſuchungen dieſer
Art gegeben hatte: was ſie bemerkten und entdek-
ten, hatte das Gepraͤg der Gruͤndlichkeit, ob es gleich
noch nicht allgemein und vollſtaͤndig genug war.
Nachdem einmal die Critik durch dergleichen Be-
merkungen mit Saͤzen ſo weit bereichert worden,
daß es der Muͤhe werth war, ſie in ein Syſtem zu
ſammeln; ſo wurd ſie zu einer Wiſſenſchaft, die nun
auch mittelmaͤßigen und ſeichten Koͤpfen in die Au-
gen leuchtete. Nicht nur Maͤnner von Genie, ſon-
dern anch bloße Liebhaber ohne Talente wiedmeten
ihr ihre Zeit. Dieſe bildeten ſich ein, man koͤnne
ſie lernen, weil die Kunſtſprache, und die einmal
in die Wiſſenſchaft aufgenommenen Saͤze ſich leicht
ins Gedaͤchtnis faſſen laſſen. Was alſo im Anfang
die Frucht des wahren Genies war, wurd nun zur
Modewiſſenſchaft, auf welche ſich Leute ohne Genie
und Talente legten. Jeder ſeichte Kopf, der ſie ohne
Verſtand blos durch das Gedaͤchtnis gefaßt hatte,
verſuchte ſie mit ſeinen eigenen Saͤzen, mit neuen
Woͤrtern, an denen das Genie keinen Antheil hatte,
zu bereichern; und ſo wurd die Critik zulezt zu ei-
nem Gewaͤſche, in welchem man nur mit großer
Muͤhe, die von den wahren Kunſtrichtern gemach-
ten Entdekungen noch wahrnehmen konnte. Wenn
nun zugleich auch Menſchen ohne natuͤrlichen Beruf
ſich auf die Kuͤnſte legen; ſo glauben ſie dieſelben
aus den Theorien erlernen zu koͤnnen: und ſo werden
Kuͤnſte und Critik zugleich verdorben. Dieſes Schikſal
haben unter den Griechen die Rhetorik und zugleich
die Beredſamkeit gehabt. Ariſtoteles, der als ein
Mann von Genie uͤber dieſe Kunſt geſchrieben hatte,
bekam tauſend Nachfolger ohne Genie, welche nach
und nach die Theorie der Kunſt in einen beynahe
leeren Wortkram verwandelten: ſo daß man zulezt
in einem einzigen Worte aus der Jlias acht ver-
ſchiedene rhetoriſche Figuren entdekte, deren jede
ihren beſondern Namen hatte. Und nun gab es
auch ſchwache Koͤpfe, die aus den Rhetoriken die
Beredſamkeit erlernen wollten. Auf dieſe Weiſe
mußte die Kunſt durch die Critik zu Grunde gehen.
Dieſes Schikſal haben die ſchoͤnen Kuͤnſte mit den
Wiſſenſchaften gemein: ſo iſt es der Logik, der
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Kun
Metaphyſik, der Sittenlehre, und uͤberhaupt der
ganzen Philoſophie gegangen. Die ſchaͤzbareſten
Erfindungen des menſchlichen Genies werden all-
maͤhlig verdorben, nachdem ſie ſo weit gekommen
ſind, daß ſie durch ihren aͤuſſerlichen Glanz die eitele
Ehrſucht ſchwacher Koͤpfe reizen. Dieſe wollen denn
das ihrige auch dazu beytragen; da es ihnen aber
an Genie fehlt, ſo beſteht ihr Beytrag in einem lee-
ren Wortgepraͤng und einer Menge willkuͤhrlicher
und ſophiſtiſcher Saͤze, die ſie fuͤr Wahrheiten aus-
geben; und ſo faͤllt die ganze Erfindung in eine fin-
ſtere Barbarey. Der, welcher zuerſt auf die Ge-
danken gekommen iſt, einen wilden Baume durch
Verpflanzung in beſſern Boden, durch Wartung
und durch Beſchneiden zu verbeſſern, war ein Mann
von Genie, der Erfinder der Pflanzkunſt; der aber,
der endlich, um auch etwas Neues in dieſer Kunſt
zu erfinden, den kindiſchen Einfall gehabt, dem
Baume durch Beſchneiden die Form einer Saͤule,
oder eines Thieres zu geben, hat den Ruhm, der
Kunſt den lezten toͤdlichen Streich verſezet zu haben.

Man muß es deswegen nicht der Critik ſelbſt,
nicht den Kunſtrichtern von Genie, ſondern den So-
phiſten, die aus dieſer Wiſſenſchaft ein Handwerk
gemacht haben, zuſchreiben, wenn die ſchoͤnen
Kuͤnſte durch Theorien verdorben werden. Den
aͤchten Kunſtrichter wollen wir als den Lehrer des
Kuͤnſtlers anſehen, und dieſem rathen auf ſeine
Stimme zu horchen. Zwar ſcheinet es, daß der
Kuͤnſtler auch der beſte Richter uͤber die Kunſt ſeyn
ſollte. Wenn man aber bedenkt, wie viel Zeit,
Nachdenken und Fleiß die Ausuͤbung erfodert; ſo
laͤßt ſich begreifen, daß ein zur Kunſt gebohrnes
Genie, (und ein ſolches muß der Kunſtrichter ſeyn)
das ſich ſelbſt mit der Ausuͤbung nicht beſchaͤftiget,
in gar vielen zur Kunſt gehoͤrigen Dingen, noch
weiter ſehen muß, als der Kuͤnſtler ſelbſt.

Kunſtwoͤrter.

Die Kuͤnſtler und Kunſtrichter bedienen ſich, wenn
ſie von Kunſtſachen reden, vieler Woͤrter, die im
gemeinen Leben, oder in Wiſſenſchaften ſonſt nicht
oder wenigſtens nicht in der Bedeutung, die ſie
in der Kunſtſprache haben, vorkommen, und des-
wegen Kunſtwoͤrter genennt werden. Man hat ſo
wenig Urſache ſich uͤber die Kunſtwoͤrter zu bekla-
gen, daß man vielmehr ihre Anzahl ſo lange ver-
mehren ſollte, bis jeder in der Theorie und Aus-

uͤbung
Zweyter Theil. L l l l
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[633/0068] Kun Kun Aber ſie iſt der Gefahr auszuarten, und den Kuͤn- ſten zu ſchaden, ausgeſezt; ſo bald ſie zu einem ge- wiſſen Grad des Flors und aͤuſſerlichen Anſehens geſtiegen iſt. Die erſten Kunſtrichter widmeten ihr Nachdenken der Theorie der Kuͤnſte, weil die Natur ihnen das beſondere Genie zu Unterſuchungen dieſer Art gegeben hatte: was ſie bemerkten und entdek- ten, hatte das Gepraͤg der Gruͤndlichkeit, ob es gleich noch nicht allgemein und vollſtaͤndig genug war. Nachdem einmal die Critik durch dergleichen Be- merkungen mit Saͤzen ſo weit bereichert worden, daß es der Muͤhe werth war, ſie in ein Syſtem zu ſammeln; ſo wurd ſie zu einer Wiſſenſchaft, die nun auch mittelmaͤßigen und ſeichten Koͤpfen in die Au- gen leuchtete. Nicht nur Maͤnner von Genie, ſon- dern anch bloße Liebhaber ohne Talente wiedmeten ihr ihre Zeit. Dieſe bildeten ſich ein, man koͤnne ſie lernen, weil die Kunſtſprache, und die einmal in die Wiſſenſchaft aufgenommenen Saͤze ſich leicht ins Gedaͤchtnis faſſen laſſen. Was alſo im Anfang die Frucht des wahren Genies war, wurd nun zur Modewiſſenſchaft, auf welche ſich Leute ohne Genie und Talente legten. Jeder ſeichte Kopf, der ſie ohne Verſtand blos durch das Gedaͤchtnis gefaßt hatte, verſuchte ſie mit ſeinen eigenen Saͤzen, mit neuen Woͤrtern, an denen das Genie keinen Antheil hatte, zu bereichern; und ſo wurd die Critik zulezt zu ei- nem Gewaͤſche, in welchem man nur mit großer Muͤhe, die von den wahren Kunſtrichtern gemach- ten Entdekungen noch wahrnehmen konnte. Wenn nun zugleich auch Menſchen ohne natuͤrlichen Beruf ſich auf die Kuͤnſte legen; ſo glauben ſie dieſelben aus den Theorien erlernen zu koͤnnen: und ſo werden Kuͤnſte und Critik zugleich verdorben. Dieſes Schikſal haben unter den Griechen die Rhetorik und zugleich die Beredſamkeit gehabt. Ariſtoteles, der als ein Mann von Genie uͤber dieſe Kunſt geſchrieben hatte, bekam tauſend Nachfolger ohne Genie, welche nach und nach die Theorie der Kunſt in einen beynahe leeren Wortkram verwandelten: ſo daß man zulezt in einem einzigen Worte aus der Jlias acht ver- ſchiedene rhetoriſche Figuren entdekte, deren jede ihren beſondern Namen hatte. Und nun gab es auch ſchwache Koͤpfe, die aus den Rhetoriken die Beredſamkeit erlernen wollten. Auf dieſe Weiſe mußte die Kunſt durch die Critik zu Grunde gehen. Dieſes Schikſal haben die ſchoͤnen Kuͤnſte mit den Wiſſenſchaften gemein: ſo iſt es der Logik, der Metaphyſik, der Sittenlehre, und uͤberhaupt der ganzen Philoſophie gegangen. Die ſchaͤzbareſten Erfindungen des menſchlichen Genies werden all- maͤhlig verdorben, nachdem ſie ſo weit gekommen ſind, daß ſie durch ihren aͤuſſerlichen Glanz die eitele Ehrſucht ſchwacher Koͤpfe reizen. Dieſe wollen denn das ihrige auch dazu beytragen; da es ihnen aber an Genie fehlt, ſo beſteht ihr Beytrag in einem lee- ren Wortgepraͤng und einer Menge willkuͤhrlicher und ſophiſtiſcher Saͤze, die ſie fuͤr Wahrheiten aus- geben; und ſo faͤllt die ganze Erfindung in eine fin- ſtere Barbarey. Der, welcher zuerſt auf die Ge- danken gekommen iſt, einen wilden Baume durch Verpflanzung in beſſern Boden, durch Wartung und durch Beſchneiden zu verbeſſern, war ein Mann von Genie, der Erfinder der Pflanzkunſt; der aber, der endlich, um auch etwas Neues in dieſer Kunſt zu erfinden, den kindiſchen Einfall gehabt, dem Baume durch Beſchneiden die Form einer Saͤule, oder eines Thieres zu geben, hat den Ruhm, der Kunſt den lezten toͤdlichen Streich verſezet zu haben. Man muß es deswegen nicht der Critik ſelbſt, nicht den Kunſtrichtern von Genie, ſondern den So- phiſten, die aus dieſer Wiſſenſchaft ein Handwerk gemacht haben, zuſchreiben, wenn die ſchoͤnen Kuͤnſte durch Theorien verdorben werden. Den aͤchten Kunſtrichter wollen wir als den Lehrer des Kuͤnſtlers anſehen, und dieſem rathen auf ſeine Stimme zu horchen. Zwar ſcheinet es, daß der Kuͤnſtler auch der beſte Richter uͤber die Kunſt ſeyn ſollte. Wenn man aber bedenkt, wie viel Zeit, Nachdenken und Fleiß die Ausuͤbung erfodert; ſo laͤßt ſich begreifen, daß ein zur Kunſt gebohrnes Genie, (und ein ſolches muß der Kunſtrichter ſeyn) das ſich ſelbſt mit der Ausuͤbung nicht beſchaͤftiget, in gar vielen zur Kunſt gehoͤrigen Dingen, noch weiter ſehen muß, als der Kuͤnſtler ſelbſt. Kunſtwoͤrter. Die Kuͤnſtler und Kunſtrichter bedienen ſich, wenn ſie von Kunſtſachen reden, vieler Woͤrter, die im gemeinen Leben, oder in Wiſſenſchaften ſonſt nicht oder wenigſtens nicht in der Bedeutung, die ſie in der Kunſtſprache haben, vorkommen, und des- wegen Kunſtwoͤrter genennt werden. Man hat ſo wenig Urſache ſich uͤber die Kunſtwoͤrter zu bekla- gen, daß man vielmehr ihre Anzahl ſo lange ver- mehren ſollte, bis jeder in der Theorie und Aus- uͤbung Zweyter Theil. L l l l

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/68>, abgerufen am 29.04.2024.