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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Lag Lan
sten Angelegenheiten halten. Je mehr Erfahrung
und Kenntnis der Welt und der Menschen der Dich-
ter hat, je geschikter ist er dazu; denn das bloße
Genie, ohne genugsame Kenntnis der Welt, ist da-
zu nicht hinreichend.

Hat er eine merkwürdige Lage gefunden, so muß
er sich Mühe geben, uns dieselbe recht lebhaft vor-
zustellen: er muß wissen, unsre Aufmerksamkeit
eine Zeitlang auf derselben zu erhalten. Er soll
deswegen mit der Handlung nicht forteilen, bis er
gewiß vermuthen kann, daß wir die Lage der Sa-
chen völlig gefaßt haben. Er muß eine Zeitlang
nichts geschehen lassen; sondern entweder durch
die Personen, die bey der Handlung intreßirt sind,
oder, im epischen Gedicht, durch seine Anmerkungen
und Beschreibungen, uns die wahre Lage der Sa-
chen so schildern, daß wir sie ganz übersehen. Die
Regel des Horaz

Semper ad eventum sestinat et in medias res,
Non secus ac notas, auditorem rapit.
--

hat nicht überall statt. Bey merkwürdigen Lagen
muß man nichts zur Entwiklung der Sachen ge-
schehen lassen, bis wir den gegenwärtigen Zustand
der Dinge völlig gefaßt haben.

Landschaft.
(Zeichnende Künste.)

Unter den zeichnenden Künsten behauptet der Zweyg,
der uns so mancherley angenehme Aussichten auf
die leblose Natur vorstellt, einen ansehnlichen Rang.
Das fast allen Menschen beywohnende Wolgefallen
an schönen Aussichten, scheinet schon anzuzeigen,
daß die Schönheiten der Natur eine ganz nahe Be-
ziehung auf unser Gemüth haben. Von den allge-
meinen Einfluß derselben auf die Bildung des sittli-
chen Menschen, ist bereits anderswo gesprochen
worden (*), hier ist der Ort zum Behuf dieses be-
sondern Zweyges der Kunst, diese Sache näher zu
betrachten. Die Mahler mischen zwar insgemein
Vorstellungen aus der sittlichen Natur in ihre Land-
schaften; aber vorerst wollen wir davon blos, als
von Vorstellungen aus der leblosen Natur sprechen.
Denn schon als solche sind sie aller Arten der ästhe-
tischen Kraft fähig.

Der Geschmak am Schönen findet nirgend so
viel Befriedigung, als in der leblosen Natur. Die
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Lan
unendliche Mannigfaltigkeit der Farben, in die lieb-
lichste Harmonie vereiniget, und in jeden gefälligen
Ton gestimmt, reizet das Aug fast überall, wo es
sich hinwendet; was nur irgend an Form und Ge-
stalt, gefällig, reizend, oder Groß und Wunderbar
seyn kann, wird da angetroffen; und doch machen
in jeder Landschaft tausend verschiedene, unendlich
durch einander gemischte Formen, ein Ganzes aus,
darin sich alles so vereiniget, daß von der unbe-
schreiblichen Mannigfaltigkeit der Vorstellungen keine
der andern wiederspricht, obgleich jede ihren eigenen
Geist hat. Dabey lernet der Mensch zuerst fühlen,
daß eine nicht blos thierische Empfindsamkeit für
die erschütternden Eindrüke der gröbern Sinnen; son-
dern ein edleres Gesühl, das innere seines Wesens
durchdringet, und eine Würksamkeit in ihm rege
macht, die mit der Materie nichts gemein hat. Er
lernt andre Bedürfnisse kennen, als Hunger und
Durst, und die blos auf die Erhaltung der groben
Materie abziehlen. Er lernt ein unsichtbares in ihm
liegendes Wesen kennen, dem Ordnung, Ueberein-
stimmung, Mannigfaltigkeit gefallen. Die Schön-
heiten der leblosen Natur unterrichten den im Den-
ken noch ungeübten Menschen, daß er kein blos irr-
disches, aus bloßer Materie gebildetes Wesen sey.

Auch bestimmtere Empfindungen von sittlicher
und leidenschaftlicher Art, entwikeln sich durch Be-
trachtung der leblosen Natur. Sie zeiget uns Sce-
nen, wo wir das Große, das Neue, das Ausseror-
dentliche bewundern lernen. Sie hat Gegenden,
die Furcht und Schauder erweken; andre, die zur
Andacht und einer feyerlichen Erhöhung des Ge-
müthes einladen; Scenen einer sanften Traurigkeit,
oder einer erquikenden Wollust. Dichter und an-
dächtige Eremiten, Enthusiasten von jeder Art, em-
pfinden es und haben sich zu allen Zeiten dieselben
zu Nuze gemacht. Wer fühlet nicht die fröhlichsten
Regungen der Daukbarkeit, wenn er den Reichthum
der Natur in fruchtbaren Gegenden vor sich verbreitet
findet? Wer nicht seine Schwäche und Abhänglichkeit
von höhern Kräften, wenn er die gewaltigen Mas-
sen überhangender Felsen siehet; oder das Rauschen
eines mächtigen Wasserfalles, das fürchterliche Stür-
men des Windes, oder der Wellen des Meeres hö-
ret; wen schrekt nicht das Heranrauschen großer
Ungewitter? Oder wer fühlt nicht in allen diesen
Scenen die allmächtige Kraft, die die ganze Natur
regieret? Ohne Zweifel hat der ununterrichtete

Mensch
(*) Jn den
Art. Bau-
kunst; Kün-
ße.
N n n n 3

[Spaltenumbruch]

Lag Lan
ſten Angelegenheiten halten. Je mehr Erfahrung
und Kenntnis der Welt und der Menſchen der Dich-
ter hat, je geſchikter iſt er dazu; denn das bloße
Genie, ohne genugſame Kenntnis der Welt, iſt da-
zu nicht hinreichend.

Hat er eine merkwuͤrdige Lage gefunden, ſo muß
er ſich Muͤhe geben, uns dieſelbe recht lebhaft vor-
zuſtellen: er muß wiſſen, unſre Aufmerkſamkeit
eine Zeitlang auf derſelben zu erhalten. Er ſoll
deswegen mit der Handlung nicht forteilen, bis er
gewiß vermuthen kann, daß wir die Lage der Sa-
chen voͤllig gefaßt haben. Er muß eine Zeitlang
nichts geſchehen laſſen; ſondern entweder durch
die Perſonen, die bey der Handlung intreßirt ſind,
oder, im epiſchen Gedicht, durch ſeine Anmerkungen
und Beſchreibungen, uns die wahre Lage der Sa-
chen ſo ſchildern, daß wir ſie ganz uͤberſehen. Die
Regel des Horaz

Semper ad eventum ſeſtinat et in medias res,
Non ſecus ac notas, auditorem rapit.

hat nicht uͤberall ſtatt. Bey merkwuͤrdigen Lagen
muß man nichts zur Entwiklung der Sachen ge-
ſchehen laſſen, bis wir den gegenwaͤrtigen Zuſtand
der Dinge voͤllig gefaßt haben.

Landſchaft.
(Zeichnende Kuͤnſte.)

Unter den zeichnenden Kuͤnſten behauptet der Zweyg,
der uns ſo mancherley angenehme Ausſichten auf
die lebloſe Natur vorſtellt, einen anſehnlichen Rang.
Das faſt allen Menſchen beywohnende Wolgefallen
an ſchoͤnen Ausſichten, ſcheinet ſchon anzuzeigen,
daß die Schoͤnheiten der Natur eine ganz nahe Be-
ziehung auf unſer Gemuͤth haben. Von den allge-
meinen Einfluß derſelben auf die Bildung des ſittli-
chen Menſchen, iſt bereits anderswo geſprochen
worden (*), hier iſt der Ort zum Behuf dieſes be-
ſondern Zweyges der Kunſt, dieſe Sache naͤher zu
betrachten. Die Mahler miſchen zwar insgemein
Vorſtellungen aus der ſittlichen Natur in ihre Land-
ſchaften; aber vorerſt wollen wir davon blos, als
von Vorſtellungen aus der lebloſen Natur ſprechen.
Denn ſchon als ſolche ſind ſie aller Arten der aͤſthe-
tiſchen Kraft faͤhig.

Der Geſchmak am Schoͤnen findet nirgend ſo
viel Befriedigung, als in der lebloſen Natur. Die
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Lan
unendliche Mannigfaltigkeit der Farben, in die lieb-
lichſte Harmonie vereiniget, und in jeden gefaͤlligen
Ton geſtimmt, reizet das Aug faſt uͤberall, wo es
ſich hinwendet; was nur irgend an Form und Ge-
ſtalt, gefaͤllig, reizend, oder Groß und Wunderbar
ſeyn kann, wird da angetroffen; und doch machen
in jeder Landſchaft tauſend verſchiedene, unendlich
durch einander gemiſchte Formen, ein Ganzes aus,
darin ſich alles ſo vereiniget, daß von der unbe-
ſchreiblichen Mannigfaltigkeit der Vorſtellungen keine
der andern wiederſpricht, obgleich jede ihren eigenen
Geiſt hat. Dabey lernet der Menſch zuerſt fuͤhlen,
daß eine nicht blos thieriſche Empfindſamkeit fuͤr
die erſchuͤtternden Eindruͤke der groͤbern Sinnen; ſon-
dern ein edleres Geſuͤhl, das innere ſeines Weſens
durchdringet, und eine Wuͤrkſamkeit in ihm rege
macht, die mit der Materie nichts gemein hat. Er
lernt andre Beduͤrfniſſe kennen, als Hunger und
Durſt, und die blos auf die Erhaltung der groben
Materie abziehlen. Er lernt ein unſichtbares in ihm
liegendes Weſen kennen, dem Ordnung, Ueberein-
ſtimmung, Mannigfaltigkeit gefallen. Die Schoͤn-
heiten der lebloſen Natur unterrichten den im Den-
ken noch ungeuͤbten Menſchen, daß er kein blos irr-
diſches, aus bloßer Materie gebildetes Weſen ſey.

Auch beſtimmtere Empfindungen von ſittlicher
und leidenſchaftlicher Art, entwikeln ſich durch Be-
trachtung der lebloſen Natur. Sie zeiget uns Sce-
nen, wo wir das Große, das Neue, das Auſſeror-
dentliche bewundern lernen. Sie hat Gegenden,
die Furcht und Schauder erweken; andre, die zur
Andacht und einer feyerlichen Erhoͤhung des Ge-
muͤthes einladen; Scenen einer ſanften Traurigkeit,
oder einer erquikenden Wolluſt. Dichter und an-
daͤchtige Eremiten, Enthuſiaſten von jeder Art, em-
pfinden es und haben ſich zu allen Zeiten dieſelben
zu Nuze gemacht. Wer fuͤhlet nicht die froͤhlichſten
Regungen der Daukbarkeit, wenn er den Reichthum
der Natur in fruchtbaren Gegenden vor ſich verbreitet
findet? Wer nicht ſeine Schwaͤche und Abhaͤnglichkeit
von hoͤhern Kraͤften, wenn er die gewaltigen Maſ-
ſen uͤberhangender Felſen ſiehet; oder das Rauſchen
eines maͤchtigen Waſſerfalles, das fuͤrchterliche Stuͤr-
men des Windes, oder der Wellen des Meeres hoͤ-
ret; wen ſchrekt nicht das Heranrauſchen großer
Ungewitter? Oder wer fuͤhlt nicht in allen dieſen
Scenen die allmaͤchtige Kraft, die die ganze Natur
regieret? Ohne Zweifel hat der ununterrichtete

Menſch
(*) Jn den
Art. Bau-
kunſt; Kuͤn-
ße.
N n n n 3
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[653/0088] Lag Lan Lan ſten Angelegenheiten halten. Je mehr Erfahrung und Kenntnis der Welt und der Menſchen der Dich- ter hat, je geſchikter iſt er dazu; denn das bloße Genie, ohne genugſame Kenntnis der Welt, iſt da- zu nicht hinreichend. Hat er eine merkwuͤrdige Lage gefunden, ſo muß er ſich Muͤhe geben, uns dieſelbe recht lebhaft vor- zuſtellen: er muß wiſſen, unſre Aufmerkſamkeit eine Zeitlang auf derſelben zu erhalten. Er ſoll deswegen mit der Handlung nicht forteilen, bis er gewiß vermuthen kann, daß wir die Lage der Sa- chen voͤllig gefaßt haben. Er muß eine Zeitlang nichts geſchehen laſſen; ſondern entweder durch die Perſonen, die bey der Handlung intreßirt ſind, oder, im epiſchen Gedicht, durch ſeine Anmerkungen und Beſchreibungen, uns die wahre Lage der Sa- chen ſo ſchildern, daß wir ſie ganz uͤberſehen. Die Regel des Horaz Semper ad eventum ſeſtinat et in medias res, Non ſecus ac notas, auditorem rapit. — hat nicht uͤberall ſtatt. Bey merkwuͤrdigen Lagen muß man nichts zur Entwiklung der Sachen ge- ſchehen laſſen, bis wir den gegenwaͤrtigen Zuſtand der Dinge voͤllig gefaßt haben. Landſchaft. (Zeichnende Kuͤnſte.) Unter den zeichnenden Kuͤnſten behauptet der Zweyg, der uns ſo mancherley angenehme Ausſichten auf die lebloſe Natur vorſtellt, einen anſehnlichen Rang. Das faſt allen Menſchen beywohnende Wolgefallen an ſchoͤnen Ausſichten, ſcheinet ſchon anzuzeigen, daß die Schoͤnheiten der Natur eine ganz nahe Be- ziehung auf unſer Gemuͤth haben. Von den allge- meinen Einfluß derſelben auf die Bildung des ſittli- chen Menſchen, iſt bereits anderswo geſprochen worden (*), hier iſt der Ort zum Behuf dieſes be- ſondern Zweyges der Kunſt, dieſe Sache naͤher zu betrachten. Die Mahler miſchen zwar insgemein Vorſtellungen aus der ſittlichen Natur in ihre Land- ſchaften; aber vorerſt wollen wir davon blos, als von Vorſtellungen aus der lebloſen Natur ſprechen. Denn ſchon als ſolche ſind ſie aller Arten der aͤſthe- tiſchen Kraft faͤhig. Der Geſchmak am Schoͤnen findet nirgend ſo viel Befriedigung, als in der lebloſen Natur. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Farben, in die lieb- lichſte Harmonie vereiniget, und in jeden gefaͤlligen Ton geſtimmt, reizet das Aug faſt uͤberall, wo es ſich hinwendet; was nur irgend an Form und Ge- ſtalt, gefaͤllig, reizend, oder Groß und Wunderbar ſeyn kann, wird da angetroffen; und doch machen in jeder Landſchaft tauſend verſchiedene, unendlich durch einander gemiſchte Formen, ein Ganzes aus, darin ſich alles ſo vereiniget, daß von der unbe- ſchreiblichen Mannigfaltigkeit der Vorſtellungen keine der andern wiederſpricht, obgleich jede ihren eigenen Geiſt hat. Dabey lernet der Menſch zuerſt fuͤhlen, daß eine nicht blos thieriſche Empfindſamkeit fuͤr die erſchuͤtternden Eindruͤke der groͤbern Sinnen; ſon- dern ein edleres Geſuͤhl, das innere ſeines Weſens durchdringet, und eine Wuͤrkſamkeit in ihm rege macht, die mit der Materie nichts gemein hat. Er lernt andre Beduͤrfniſſe kennen, als Hunger und Durſt, und die blos auf die Erhaltung der groben Materie abziehlen. Er lernt ein unſichtbares in ihm liegendes Weſen kennen, dem Ordnung, Ueberein- ſtimmung, Mannigfaltigkeit gefallen. Die Schoͤn- heiten der lebloſen Natur unterrichten den im Den- ken noch ungeuͤbten Menſchen, daß er kein blos irr- diſches, aus bloßer Materie gebildetes Weſen ſey. Auch beſtimmtere Empfindungen von ſittlicher und leidenſchaftlicher Art, entwikeln ſich durch Be- trachtung der lebloſen Natur. Sie zeiget uns Sce- nen, wo wir das Große, das Neue, das Auſſeror- dentliche bewundern lernen. Sie hat Gegenden, die Furcht und Schauder erweken; andre, die zur Andacht und einer feyerlichen Erhoͤhung des Ge- muͤthes einladen; Scenen einer ſanften Traurigkeit, oder einer erquikenden Wolluſt. Dichter und an- daͤchtige Eremiten, Enthuſiaſten von jeder Art, em- pfinden es und haben ſich zu allen Zeiten dieſelben zu Nuze gemacht. Wer fuͤhlet nicht die froͤhlichſten Regungen der Daukbarkeit, wenn er den Reichthum der Natur in fruchtbaren Gegenden vor ſich verbreitet findet? Wer nicht ſeine Schwaͤche und Abhaͤnglichkeit von hoͤhern Kraͤften, wenn er die gewaltigen Maſ- ſen uͤberhangender Felſen ſiehet; oder das Rauſchen eines maͤchtigen Waſſerfalles, das fuͤrchterliche Stuͤr- men des Windes, oder der Wellen des Meeres hoͤ- ret; wen ſchrekt nicht das Heranrauſchen großer Ungewitter? Oder wer fuͤhlt nicht in allen dieſen Scenen die allmaͤchtige Kraft, die die ganze Natur regieret? Ohne Zweifel hat der ununterrichtete Menſch (*) Jn den Art. Bau- kunſt; Kuͤn- ße. N n n n 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/88>, abgerufen am 29.04.2024.