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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Pla
tern Theorie, Plan, Kunstregel, Kunstrichter eine
schimpfliche Bedeutung zu geben. Wir müssen dieses
unter die übrigen Sünden unsrer Zeit rechnen, die
allemal von Leuten begangen werden, die zwar zu
viel Gefühl und Nachdenken haben, um, wie der ge-
meine Haufe, sich an gewöhnliche Formulare zu bin-
den; aber sich zu wenig Mühe geben, bis auf den
wahren Grund der Dinge einzudringen, um von
dort aus, als aus dem einzigen zuverläßigen Au-
genpunkt, die Sachen zu übersehen.

Wer sagt, daß ein Künstler, der im Stand ist,
wie etwa Shakespear, durch die große Wichtigkeit
der Materie zu intereßiren, alle Kunstregeln verach-
ten müsse, spricht ohne die Sachen genugsam über-
legt zu haben. Nach seiner Maxime müßte er noth-
wendig die neueren Mahler vermahnen, etwas so
steifes und kunstmäßiges, als die Perspektiv ist, zu
verachten und wegzuwerfen, weil die Alten, die sie
nicht beobachtet haben, einzele Figuren weit schöner
und nachdrüklicher gezeichnet haben, als die Neueren.
Er müßte behaupten, daß es in vielen Antiken,
wo alle zum Jnhalt des Gemähldes gehörige Figu-
ren, ohne andere Verbindung und Gruppirung auf
einer geraden Linie neben einander gestellt sind, eine
Schönheit mehr ist, daß alle blos auf die Kunst ge-
hende Regeln in solchen Stüken übertreten sind.
Er müßte sagen, daß in der Musik eine Phantasie,
von einem Bach, oder Händel, mehr werth sey,
als jedes andre Werk derselben Virtuosen, wo die
Regeln des Takts und des Rhythmus, auf das sorg-
fältigste beobachtet sind. Er müßte endlich auch be-
haupten, daß ein gothisches Gebäude, das durch
Kühnheit und Größe in Verwundrung sezet, mehr
werth sey, als die Rotonda, oder der Tempel des
Theseus in Athen. Diese Folgen sind unvermeid-
lich, so bald man Werke von großer materieller
Kraft, von allen Banden der schönen Kunst frey-
sprechen will.

Aber es ist Zeit, daß wir auf die nähere Betrach-
tung des Plans solcher Werke kommen. Laßt uns
sezen, ein Künstler habe in der Geschicht eine Bege-
benheit, oder eine Handlung sehr merkwürdiger Art
angetroffen, wobey Personen von großer Sinnesart,
Anschläge, Thaten und Unternehmungen von großer
Kühnheit, und andre sehr wichtige Dinge von sittli-
cher und leidenschaftlicher Art, vorkommen, und
diesen wichtigen Stoff habe er gewählt, um ein
Trauerspiehl, eine Epopöe, oder ein großes histori-
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Pla
sches Gemählde daraus zu machen. Hier entstehet
also die Frage, was er in Absicht auf den Plan
dabey zu überlegen habe.

Das erste wird wol seyn, daß er suchen wird, sich
selbst über alles was er bey der Sache fühlt, so viel
als möglich ist, Rechenschaft zu geben, alles darin
so klar, als möglich, zu bestimmen; die nächsten Ursa-
chen der Würkung der Dinge auf sich zu erforschen,
und denn auf den Charakter des Gegenstandes über-
haupt Achtung zu geben; ob er schlechthin groß sey,
und nichts, als Bewundrung erweke, oder ob er
bey der Größe eine Hauptvorstellung des Guten,
oder des Bösen mit sich führe; ob er vorzüglich den
Verstand, oder das Herz angreife, oder nur die
Phantasie reize.

Dergleichen Ueberlegungen helfen den Hauptbe-
griff und die Hauptabsicht des Werks etwas näher
zu bestimmen; denn es wird sich dabey bald zeigen,
ob aus diesem Stoff ein Werk zu machen sey, darin
das Pathetische, das Zärtliche, das Wunderbare
das den Verstand, oder die Phantasie, oder die Em-
pfindung ergreift, oder irgend ein andrer Hauptcha-
rakter herrschen werde. Nachdem nun ein Haupt-
charakter bestimmt worden, wird sich auch die Ab-
sicht des ganzen Werks daher bestimmen lassen. Der
Künstler wird finden, daß eine Art des Eindruks
darin herrschend seyn soll; daher wird er sehen,
wenn sein Stoff eine Handlung ist, daß am Ende
derselben der Eindruk befestiget und dauerhaft bleiben
müsse. Und so wird ein wahrhaftig verständiger
Künstler, nicht eben, wie einige vom Heldendichter
gefodert haben, eine Lehre, die durch die Handlung,
wie durch eine Allegorie erkennt wird, aber doch
eine andere, nach Beschaffenheit des Stoffs mehr
oder weniger bestimmte Hauptwürkung zur Absicht
machen. Außer dieser aber muß er nothwendig die
allen Werken der Kunst gemeine Absicht haben, daß
das was er vorstellt so klar, als möglich, gefaßt
werde, daß nirgend etwas den allgemeinen Geschmak
beleidigendes darin vorkomme, wodurch die Auf-
merksamkeit gehemmt werden könnte.

Hieraus nun, läßt sich auch abnehmen, was bey
einem solchen Werk in Ansehung des Planes zu thun
sey. Weil hier das Materielle des Stoffs die Haupt-
sach ist, so wird zuerst an den Plan zu denken seyn,
wodurch die Erzählung, oder Vorstellung Wahrheit
und natürlichen Zusammenhang bekommt. Der
Künstler muß nachdenken, wie alles einzurichten sey,

daß

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Pla
tern Theorie, Plan, Kunſtregel, Kunſtrichter eine
ſchimpfliche Bedeutung zu geben. Wir muͤſſen dieſes
unter die uͤbrigen Suͤnden unſrer Zeit rechnen, die
allemal von Leuten begangen werden, die zwar zu
viel Gefuͤhl und Nachdenken haben, um, wie der ge-
meine Haufe, ſich an gewoͤhnliche Formulare zu bin-
den; aber ſich zu wenig Muͤhe geben, bis auf den
wahren Grund der Dinge einzudringen, um von
dort aus, als aus dem einzigen zuverlaͤßigen Au-
genpunkt, die Sachen zu uͤberſehen.

Wer ſagt, daß ein Kuͤnſtler, der im Stand iſt,
wie etwa Shakeſpear, durch die große Wichtigkeit
der Materie zu intereßiren, alle Kunſtregeln verach-
ten muͤſſe, ſpricht ohne die Sachen genugſam uͤber-
legt zu haben. Nach ſeiner Maxime muͤßte er noth-
wendig die neueren Mahler vermahnen, etwas ſo
ſteifes und kunſtmaͤßiges, als die Perſpektiv iſt, zu
verachten und wegzuwerfen, weil die Alten, die ſie
nicht beobachtet haben, einzele Figuren weit ſchoͤner
und nachdruͤklicher gezeichnet haben, als die Neueren.
Er muͤßte behaupten, daß es in vielen Antiken,
wo alle zum Jnhalt des Gemaͤhldes gehoͤrige Figu-
ren, ohne andere Verbindung und Gruppirung auf
einer geraden Linie neben einander geſtellt ſind, eine
Schoͤnheit mehr iſt, daß alle blos auf die Kunſt ge-
hende Regeln in ſolchen Stuͤken uͤbertreten ſind.
Er muͤßte ſagen, daß in der Muſik eine Phantaſie,
von einem Bach, oder Haͤndel, mehr werth ſey,
als jedes andre Werk derſelben Virtuoſen, wo die
Regeln des Takts und des Rhythmus, auf das ſorg-
faͤltigſte beobachtet ſind. Er muͤßte endlich auch be-
haupten, daß ein gothiſches Gebaͤude, das durch
Kuͤhnheit und Groͤße in Verwundrung ſezet, mehr
werth ſey, als die Rotonda, oder der Tempel des
Theſeus in Athen. Dieſe Folgen ſind unvermeid-
lich, ſo bald man Werke von großer materieller
Kraft, von allen Banden der ſchoͤnen Kunſt frey-
ſprechen will.

Aber es iſt Zeit, daß wir auf die naͤhere Betrach-
tung des Plans ſolcher Werke kommen. Laßt uns
ſezen, ein Kuͤnſtler habe in der Geſchicht eine Bege-
benheit, oder eine Handlung ſehr merkwuͤrdiger Art
angetroffen, wobey Perſonen von großer Sinnesart,
Anſchlaͤge, Thaten und Unternehmungen von großer
Kuͤhnheit, und andre ſehr wichtige Dinge von ſittli-
cher und leidenſchaftlicher Art, vorkommen, und
dieſen wichtigen Stoff habe er gewaͤhlt, um ein
Trauerſpiehl, eine Epopoͤe, oder ein großes hiſtori-
[Spaltenumbruch]

Pla
ſches Gemaͤhlde daraus zu machen. Hier entſtehet
alſo die Frage, was er in Abſicht auf den Plan
dabey zu uͤberlegen habe.

Das erſte wird wol ſeyn, daß er ſuchen wird, ſich
ſelbſt uͤber alles was er bey der Sache fuͤhlt, ſo viel
als moͤglich iſt, Rechenſchaft zu geben, alles darin
ſo klar, als moͤglich, zu beſtimmen; die naͤchſten Urſa-
chen der Wuͤrkung der Dinge auf ſich zu erforſchen,
und denn auf den Charakter des Gegenſtandes uͤber-
haupt Achtung zu geben; ob er ſchlechthin groß ſey,
und nichts, als Bewundrung erweke, oder ob er
bey der Groͤße eine Hauptvorſtellung des Guten,
oder des Boͤſen mit ſich fuͤhre; ob er vorzuͤglich den
Verſtand, oder das Herz angreife, oder nur die
Phantaſie reize.

Dergleichen Ueberlegungen helfen den Hauptbe-
griff und die Hauptabſicht des Werks etwas naͤher
zu beſtimmen; denn es wird ſich dabey bald zeigen,
ob aus dieſem Stoff ein Werk zu machen ſey, darin
das Pathetiſche, das Zaͤrtliche, das Wunderbare
das den Verſtand, oder die Phantaſie, oder die Em-
pfindung ergreift, oder irgend ein andrer Hauptcha-
rakter herrſchen werde. Nachdem nun ein Haupt-
charakter beſtimmt worden, wird ſich auch die Ab-
ſicht des ganzen Werks daher beſtimmen laſſen. Der
Kuͤnſtler wird finden, daß eine Art des Eindruks
darin herrſchend ſeyn ſoll; daher wird er ſehen,
wenn ſein Stoff eine Handlung iſt, daß am Ende
derſelben der Eindruk befeſtiget und dauerhaft bleiben
muͤſſe. Und ſo wird ein wahrhaftig verſtaͤndiger
Kuͤnſtler, nicht eben, wie einige vom Heldendichter
gefodert haben, eine Lehre, die durch die Handlung,
wie durch eine Allegorie erkennt wird, aber doch
eine andere, nach Beſchaffenheit des Stoffs mehr
oder weniger beſtimmte Hauptwuͤrkung zur Abſicht
machen. Außer dieſer aber muß er nothwendig die
allen Werken der Kunſt gemeine Abſicht haben, daß
das was er vorſtellt ſo klar, als moͤglich, gefaßt
werde, daß nirgend etwas den allgemeinen Geſchmak
beleidigendes darin vorkomme, wodurch die Auf-
merkſamkeit gehemmt werden koͤnnte.

Hieraus nun, laͤßt ſich auch abnehmen, was bey
einem ſolchen Werk in Anſehung des Planes zu thun
ſey. Weil hier das Materielle des Stoffs die Haupt-
ſach iſt, ſo wird zuerſt an den Plan zu denken ſeyn,
wodurch die Erzaͤhlung, oder Vorſtellung Wahrheit
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Kuͤnſtler muß nachdenken, wie alles einzurichten ſey,

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[906[888]/0324] Pla Pla tern Theorie, Plan, Kunſtregel, Kunſtrichter eine ſchimpfliche Bedeutung zu geben. Wir muͤſſen dieſes unter die uͤbrigen Suͤnden unſrer Zeit rechnen, die allemal von Leuten begangen werden, die zwar zu viel Gefuͤhl und Nachdenken haben, um, wie der ge- meine Haufe, ſich an gewoͤhnliche Formulare zu bin- den; aber ſich zu wenig Muͤhe geben, bis auf den wahren Grund der Dinge einzudringen, um von dort aus, als aus dem einzigen zuverlaͤßigen Au- genpunkt, die Sachen zu uͤberſehen. Wer ſagt, daß ein Kuͤnſtler, der im Stand iſt, wie etwa Shakeſpear, durch die große Wichtigkeit der Materie zu intereßiren, alle Kunſtregeln verach- ten muͤſſe, ſpricht ohne die Sachen genugſam uͤber- legt zu haben. Nach ſeiner Maxime muͤßte er noth- wendig die neueren Mahler vermahnen, etwas ſo ſteifes und kunſtmaͤßiges, als die Perſpektiv iſt, zu verachten und wegzuwerfen, weil die Alten, die ſie nicht beobachtet haben, einzele Figuren weit ſchoͤner und nachdruͤklicher gezeichnet haben, als die Neueren. Er muͤßte behaupten, daß es in vielen Antiken, wo alle zum Jnhalt des Gemaͤhldes gehoͤrige Figu- ren, ohne andere Verbindung und Gruppirung auf einer geraden Linie neben einander geſtellt ſind, eine Schoͤnheit mehr iſt, daß alle blos auf die Kunſt ge- hende Regeln in ſolchen Stuͤken uͤbertreten ſind. Er muͤßte ſagen, daß in der Muſik eine Phantaſie, von einem Bach, oder Haͤndel, mehr werth ſey, als jedes andre Werk derſelben Virtuoſen, wo die Regeln des Takts und des Rhythmus, auf das ſorg- faͤltigſte beobachtet ſind. Er muͤßte endlich auch be- haupten, daß ein gothiſches Gebaͤude, das durch Kuͤhnheit und Groͤße in Verwundrung ſezet, mehr werth ſey, als die Rotonda, oder der Tempel des Theſeus in Athen. Dieſe Folgen ſind unvermeid- lich, ſo bald man Werke von großer materieller Kraft, von allen Banden der ſchoͤnen Kunſt frey- ſprechen will. Aber es iſt Zeit, daß wir auf die naͤhere Betrach- tung des Plans ſolcher Werke kommen. Laßt uns ſezen, ein Kuͤnſtler habe in der Geſchicht eine Bege- benheit, oder eine Handlung ſehr merkwuͤrdiger Art angetroffen, wobey Perſonen von großer Sinnesart, Anſchlaͤge, Thaten und Unternehmungen von großer Kuͤhnheit, und andre ſehr wichtige Dinge von ſittli- cher und leidenſchaftlicher Art, vorkommen, und dieſen wichtigen Stoff habe er gewaͤhlt, um ein Trauerſpiehl, eine Epopoͤe, oder ein großes hiſtori- ſches Gemaͤhlde daraus zu machen. Hier entſtehet alſo die Frage, was er in Abſicht auf den Plan dabey zu uͤberlegen habe. Das erſte wird wol ſeyn, daß er ſuchen wird, ſich ſelbſt uͤber alles was er bey der Sache fuͤhlt, ſo viel als moͤglich iſt, Rechenſchaft zu geben, alles darin ſo klar, als moͤglich, zu beſtimmen; die naͤchſten Urſa- chen der Wuͤrkung der Dinge auf ſich zu erforſchen, und denn auf den Charakter des Gegenſtandes uͤber- haupt Achtung zu geben; ob er ſchlechthin groß ſey, und nichts, als Bewundrung erweke, oder ob er bey der Groͤße eine Hauptvorſtellung des Guten, oder des Boͤſen mit ſich fuͤhre; ob er vorzuͤglich den Verſtand, oder das Herz angreife, oder nur die Phantaſie reize. Dergleichen Ueberlegungen helfen den Hauptbe- griff und die Hauptabſicht des Werks etwas naͤher zu beſtimmen; denn es wird ſich dabey bald zeigen, ob aus dieſem Stoff ein Werk zu machen ſey, darin das Pathetiſche, das Zaͤrtliche, das Wunderbare das den Verſtand, oder die Phantaſie, oder die Em- pfindung ergreift, oder irgend ein andrer Hauptcha- rakter herrſchen werde. Nachdem nun ein Haupt- charakter beſtimmt worden, wird ſich auch die Ab- ſicht des ganzen Werks daher beſtimmen laſſen. Der Kuͤnſtler wird finden, daß eine Art des Eindruks darin herrſchend ſeyn ſoll; daher wird er ſehen, wenn ſein Stoff eine Handlung iſt, daß am Ende derſelben der Eindruk befeſtiget und dauerhaft bleiben muͤſſe. Und ſo wird ein wahrhaftig verſtaͤndiger Kuͤnſtler, nicht eben, wie einige vom Heldendichter gefodert haben, eine Lehre, die durch die Handlung, wie durch eine Allegorie erkennt wird, aber doch eine andere, nach Beſchaffenheit des Stoffs mehr oder weniger beſtimmte Hauptwuͤrkung zur Abſicht machen. Außer dieſer aber muß er nothwendig die allen Werken der Kunſt gemeine Abſicht haben, daß das was er vorſtellt ſo klar, als moͤglich, gefaßt werde, daß nirgend etwas den allgemeinen Geſchmak beleidigendes darin vorkomme, wodurch die Auf- merkſamkeit gehemmt werden koͤnnte. Hieraus nun, laͤßt ſich auch abnehmen, was bey einem ſolchen Werk in Anſehung des Planes zu thun ſey. Weil hier das Materielle des Stoffs die Haupt- ſach iſt, ſo wird zuerſt an den Plan zu denken ſeyn, wodurch die Erzaͤhlung, oder Vorſtellung Wahrheit und natuͤrlichen Zuſammenhang bekommt. Der Kuͤnſtler muß nachdenken, wie alles einzurichten ſey, daß

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 906[888]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/324>, abgerufen am 27.04.2024.