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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Schr
Scene in die Begeisterung der Ode versezte, so würde
sein Stoff nicht der seyn, den die andern bearbei-
ten, und wir würden desto mehr Mühe haben, aus
Vergleichung seines Werks mit den übrigen, das
herauszufinden, was zur Schreibart gehört.

Hier können wir nun sogleich einiges bestimmen,
was offenbar zur Materie und nicht zur Schreibart
gehöret. Denn wenn wir zu dieser nur das zäh-
len, was von dem besondern Charakter des Verfas-
sers herrühret, so kann das Materielle, das dem
Orte, wo er gestanden hat, zuzuschreiben ist, nicht
hieher gehören. Der, welcher die ganze Scene über-
sehen hat, konnte mehr davon sagen, als der sie nur
halb gesehen hat. Daß dieser die Sache nicht so
vollständig, als jener erzählt, kommt nicht von sei-
nem Charakter, sondern von seiner Stellung her;
und der erstere, der nun ausführlich ist, würde es
auch nicht seyn, wenn er, auch mit Beybehaltung
seines Charakters, an dem Plaz des andern gestan-
den hätte.

Diese und mehr ähnliche Umstände, die man sich
an dem zum Beyspiehl gewählten Bilde geschwinder
vorstellen kann, als sie sich beschreiben lassen, füh-
ren uns auf die Spuhr, was man zu überlegen
habe, um von dem Materiellen, oder von den Ge-
danken das, was zum Wesentlichen der Sache und
das was blos zur Schreibart gehöret, richtig zu
unterscheiden.

Es ist kaum möglich hierüber besondere Grund-
säze anzugeben; und wir müssen uns mit einem ein-
zigen allgemeinen begnügen, davon doch nur die
scharfsinnigsten Beurtheiler einen sichern Gebrauch
machen können, weil die Sache an sich selbst
schweer ist.

Wer also bey jedem Schriftsteller das, was zu
seiner Schreibart gehört, es liege in den Gedanken,
oder in dem Ausdruk, von dem, was nicht Schreib-
art ist, unterscheiden will, der suche vor allen Din-
gen die Art des Jnhalts, die Absicht des Verfas-
sers, folglich auch den Standort und Gesichtspunkt
aus denen er seinen Stoff angesehen hat, genau zu
fassen. Hernach überlege er bey jedem Gedan-
ken und Ausdruk, ob er so wesentlich zur Sache
gehöre, oder so natürlich damit verbunden sey, daß
jeder Schriftsteller von Genie, Nachdenken und
richtiger Urtheilskraft (dann diese werden bey jedem
vorausgesezt) der jene Absicht gehabt, und aus je-
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Schr
nem Standorte die Sache angesehen hätte, ihn
würde haben finden oder bemerken können, oder ob
er natürlicher Weise nur dem scherzhaften, oder
dem wizigen, oder dem etwas boshaften, dem kalt-
blütigen, oder dem hizigen Mann; kurz ob er nur
dem Schriftsteller von irgend einem besonders aus-
gezeichneten Charakter, oder einer besondern Laune,
habe einfallen können. Alles, was zum leztern
Falle gehöret, rechne er zur Schreibart; was aber
zu diesem besondern nicht gehöret, das rechne er
zum Wesentlichen der Materie.

Wenn wir uns vorstellen Xenophon, Livius und
Tacitus hätten einerley Stoff, die Erzählung von
irgend einer Staatsveränderung zu behandeln, sich
vorgenommen, und jeder hätte dabey die Hauptab-
sicht gehabt, seinen Lesern eine wahre und richtige
Vorstellung von dem Vorfall und den Ursachen des-
selben zu geben; so werden wir leicht begreifen, daß
jeder dieser drey Männer, nicht nur in seiner Art
zu erzählen, sondern auch in Anordnung der Mate-
rien, in der Wahl der Umstände, in Einführung
oder Weglassung der Personen, in Erzählung ihrer
Handlungen, und Anführung ihrer Reden, seinem
besondern Charakter gemäß, würde zu Werke ge-
gangen seyn. Xenophon würde nur das Nöthige
zum klaren und einfachen Begriff der Sache, und
der natürlichsten Vorstellung derselben, ohne Leiden-
schaft, ohne uns für, oder gegen die Sache einzu-
nehmen, erzählen. Livius würde seinem ernsthaf-
ten, pathetischen und mit altrömischer Würde beklei-
deten Charakter zufolge, die Sache von der großen,
wichtigen Seite vorgestellt, manchen kleinern Um-
stand weggelassen, manches ernsthafte Wort, seinen
handelnden Personen in Mund gelegt haben; so,
daß wir überall an den handelnden Personen, die
Patrioten, oder die schlecht und eigennüzig gesinnten
Bürger, würden erblikt haben. Tacitus hätte außer
den wesentlichsten Hauptsachen, vornehmlich solche
Umstände gewählt, die uns tief in die Herzen der han-
delnden Personen hätten hineinsehen lassen, nicht um
sie in ihrem öffentlichen Charakter, als Patrioten,
oder Aufrührer, sondern, als gute oder schlechte
Menschen zu erkennen; er würde einen Ausdruk ge-
wählt haben, der uns gefließentlich für, oder ge-
gen die Personen hätte einnehmen sollen u. s. f. Also
würden wir sowol in der Materie, als in der Form
und in dem Ausdruk dieser drey Geschichtschreiber
eines jeden besondern Charakter haben erkennen kön-

nen.

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Schr
Scene in die Begeiſterung der Ode verſezte, ſo wuͤrde
ſein Stoff nicht der ſeyn, den die andern bearbei-
ten, und wir wuͤrden deſto mehr Muͤhe haben, aus
Vergleichung ſeines Werks mit den uͤbrigen, das
herauszufinden, was zur Schreibart gehoͤrt.

Hier koͤnnen wir nun ſogleich einiges beſtimmen,
was offenbar zur Materie und nicht zur Schreibart
gehoͤret. Denn wenn wir zu dieſer nur das zaͤh-
len, was von dem beſondern Charakter des Verfaſ-
ſers herruͤhret, ſo kann das Materielle, das dem
Orte, wo er geſtanden hat, zuzuſchreiben iſt, nicht
hieher gehoͤren. Der, welcher die ganze Scene uͤber-
ſehen hat, konnte mehr davon ſagen, als der ſie nur
halb geſehen hat. Daß dieſer die Sache nicht ſo
vollſtaͤndig, als jener erzaͤhlt, kommt nicht von ſei-
nem Charakter, ſondern von ſeiner Stellung her;
und der erſtere, der nun ausfuͤhrlich iſt, wuͤrde es
auch nicht ſeyn, wenn er, auch mit Beybehaltung
ſeines Charakters, an dem Plaz des andern geſtan-
den haͤtte.

Dieſe und mehr aͤhnliche Umſtaͤnde, die man ſich
an dem zum Beyſpiehl gewaͤhlten Bilde geſchwinder
vorſtellen kann, als ſie ſich beſchreiben laſſen, fuͤh-
ren uns auf die Spuhr, was man zu uͤberlegen
habe, um von dem Materiellen, oder von den Ge-
danken das, was zum Weſentlichen der Sache und
das was blos zur Schreibart gehoͤret, richtig zu
unterſcheiden.

Es iſt kaum moͤglich hieruͤber beſondere Grund-
ſaͤze anzugeben; und wir muͤſſen uns mit einem ein-
zigen allgemeinen begnuͤgen, davon doch nur die
ſcharfſinnigſten Beurtheiler einen ſichern Gebrauch
machen koͤnnen, weil die Sache an ſich ſelbſt
ſchweer iſt.

Wer alſo bey jedem Schriftſteller das, was zu
ſeiner Schreibart gehoͤrt, es liege in den Gedanken,
oder in dem Ausdruk, von dem, was nicht Schreib-
art iſt, unterſcheiden will, der ſuche vor allen Din-
gen die Art des Jnhalts, die Abſicht des Verfaſ-
ſers, folglich auch den Standort und Geſichtspunkt
aus denen er ſeinen Stoff angeſehen hat, genau zu
faſſen. Hernach uͤberlege er bey jedem Gedan-
ken und Ausdruk, ob er ſo weſentlich zur Sache
gehoͤre, oder ſo natuͤrlich damit verbunden ſey, daß
jeder Schriftſteller von Genie, Nachdenken und
richtiger Urtheilskraft (dann dieſe werden bey jedem
vorausgeſezt) der jene Abſicht gehabt, und aus je-
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Schr
nem Standorte die Sache angeſehen haͤtte, ihn
wuͤrde haben finden oder bemerken koͤnnen, oder ob
er natuͤrlicher Weiſe nur dem ſcherzhaften, oder
dem wizigen, oder dem etwas boshaften, dem kalt-
bluͤtigen, oder dem hizigen Mann; kurz ob er nur
dem Schriftſteller von irgend einem beſonders aus-
gezeichneten Charakter, oder einer beſondern Laune,
habe einfallen koͤnnen. Alles, was zum leztern
Falle gehoͤret, rechne er zur Schreibart; was aber
zu dieſem beſondern nicht gehoͤret, das rechne er
zum Weſentlichen der Materie.

Wenn wir uns vorſtellen Xenophon, Livius und
Tacitus haͤtten einerley Stoff, die Erzaͤhlung von
irgend einer Staatsveraͤnderung zu behandeln, ſich
vorgenommen, und jeder haͤtte dabey die Hauptab-
ſicht gehabt, ſeinen Leſern eine wahre und richtige
Vorſtellung von dem Vorfall und den Urſachen deſ-
ſelben zu geben; ſo werden wir leicht begreifen, daß
jeder dieſer drey Maͤnner, nicht nur in ſeiner Art
zu erzaͤhlen, ſondern auch in Anordnung der Mate-
rien, in der Wahl der Umſtaͤnde, in Einfuͤhrung
oder Weglaſſung der Perſonen, in Erzaͤhlung ihrer
Handlungen, und Anfuͤhrung ihrer Reden, ſeinem
beſondern Charakter gemaͤß, wuͤrde zu Werke ge-
gangen ſeyn. Xenophon wuͤrde nur das Noͤthige
zum klaren und einfachen Begriff der Sache, und
der natuͤrlichſten Vorſtellung derſelben, ohne Leiden-
ſchaft, ohne uns fuͤr, oder gegen die Sache einzu-
nehmen, erzaͤhlen. Livius wuͤrde ſeinem ernſthaf-
ten, pathetiſchen und mit altroͤmiſcher Wuͤrde beklei-
deten Charakter zufolge, die Sache von der großen,
wichtigen Seite vorgeſtellt, manchen kleinern Um-
ſtand weggelaſſen, manches ernſthafte Wort, ſeinen
handelnden Perſonen in Mund gelegt haben; ſo,
daß wir uͤberall an den handelnden Perſonen, die
Patrioten, oder die ſchlecht und eigennuͤzig geſinnten
Buͤrger, wuͤrden erblikt haben. Tacitus haͤtte außer
den weſentlichſten Hauptſachen, vornehmlich ſolche
Umſtaͤnde gewaͤhlt, die uns tief in die Herzen der han-
delnden Perſonen haͤtten hineinſehen laſſen, nicht um
ſie in ihrem oͤffentlichen Charakter, als Patrioten,
oder Aufruͤhrer, ſondern, als gute oder ſchlechte
Menſchen zu erkennen; er wuͤrde einen Ausdruk ge-
waͤhlt haben, der uns gefließentlich fuͤr, oder ge-
gen die Perſonen haͤtte einnehmen ſollen u. ſ. f. Alſo
wuͤrden wir ſowol in der Materie, als in der Form
und in dem Ausdruk dieſer drey Geſchichtſchreiber
eines jeden beſondern Charakter haben erkennen koͤn-

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[1048[1030]/0477] Schr Schr Scene in die Begeiſterung der Ode verſezte, ſo wuͤrde ſein Stoff nicht der ſeyn, den die andern bearbei- ten, und wir wuͤrden deſto mehr Muͤhe haben, aus Vergleichung ſeines Werks mit den uͤbrigen, das herauszufinden, was zur Schreibart gehoͤrt. Hier koͤnnen wir nun ſogleich einiges beſtimmen, was offenbar zur Materie und nicht zur Schreibart gehoͤret. Denn wenn wir zu dieſer nur das zaͤh- len, was von dem beſondern Charakter des Verfaſ- ſers herruͤhret, ſo kann das Materielle, das dem Orte, wo er geſtanden hat, zuzuſchreiben iſt, nicht hieher gehoͤren. Der, welcher die ganze Scene uͤber- ſehen hat, konnte mehr davon ſagen, als der ſie nur halb geſehen hat. Daß dieſer die Sache nicht ſo vollſtaͤndig, als jener erzaͤhlt, kommt nicht von ſei- nem Charakter, ſondern von ſeiner Stellung her; und der erſtere, der nun ausfuͤhrlich iſt, wuͤrde es auch nicht ſeyn, wenn er, auch mit Beybehaltung ſeines Charakters, an dem Plaz des andern geſtan- den haͤtte. Dieſe und mehr aͤhnliche Umſtaͤnde, die man ſich an dem zum Beyſpiehl gewaͤhlten Bilde geſchwinder vorſtellen kann, als ſie ſich beſchreiben laſſen, fuͤh- ren uns auf die Spuhr, was man zu uͤberlegen habe, um von dem Materiellen, oder von den Ge- danken das, was zum Weſentlichen der Sache und das was blos zur Schreibart gehoͤret, richtig zu unterſcheiden. Es iſt kaum moͤglich hieruͤber beſondere Grund- ſaͤze anzugeben; und wir muͤſſen uns mit einem ein- zigen allgemeinen begnuͤgen, davon doch nur die ſcharfſinnigſten Beurtheiler einen ſichern Gebrauch machen koͤnnen, weil die Sache an ſich ſelbſt ſchweer iſt. Wer alſo bey jedem Schriftſteller das, was zu ſeiner Schreibart gehoͤrt, es liege in den Gedanken, oder in dem Ausdruk, von dem, was nicht Schreib- art iſt, unterſcheiden will, der ſuche vor allen Din- gen die Art des Jnhalts, die Abſicht des Verfaſ- ſers, folglich auch den Standort und Geſichtspunkt aus denen er ſeinen Stoff angeſehen hat, genau zu faſſen. Hernach uͤberlege er bey jedem Gedan- ken und Ausdruk, ob er ſo weſentlich zur Sache gehoͤre, oder ſo natuͤrlich damit verbunden ſey, daß jeder Schriftſteller von Genie, Nachdenken und richtiger Urtheilskraft (dann dieſe werden bey jedem vorausgeſezt) der jene Abſicht gehabt, und aus je- nem Standorte die Sache angeſehen haͤtte, ihn wuͤrde haben finden oder bemerken koͤnnen, oder ob er natuͤrlicher Weiſe nur dem ſcherzhaften, oder dem wizigen, oder dem etwas boshaften, dem kalt- bluͤtigen, oder dem hizigen Mann; kurz ob er nur dem Schriftſteller von irgend einem beſonders aus- gezeichneten Charakter, oder einer beſondern Laune, habe einfallen koͤnnen. Alles, was zum leztern Falle gehoͤret, rechne er zur Schreibart; was aber zu dieſem beſondern nicht gehoͤret, das rechne er zum Weſentlichen der Materie. Wenn wir uns vorſtellen Xenophon, Livius und Tacitus haͤtten einerley Stoff, die Erzaͤhlung von irgend einer Staatsveraͤnderung zu behandeln, ſich vorgenommen, und jeder haͤtte dabey die Hauptab- ſicht gehabt, ſeinen Leſern eine wahre und richtige Vorſtellung von dem Vorfall und den Urſachen deſ- ſelben zu geben; ſo werden wir leicht begreifen, daß jeder dieſer drey Maͤnner, nicht nur in ſeiner Art zu erzaͤhlen, ſondern auch in Anordnung der Mate- rien, in der Wahl der Umſtaͤnde, in Einfuͤhrung oder Weglaſſung der Perſonen, in Erzaͤhlung ihrer Handlungen, und Anfuͤhrung ihrer Reden, ſeinem beſondern Charakter gemaͤß, wuͤrde zu Werke ge- gangen ſeyn. Xenophon wuͤrde nur das Noͤthige zum klaren und einfachen Begriff der Sache, und der natuͤrlichſten Vorſtellung derſelben, ohne Leiden- ſchaft, ohne uns fuͤr, oder gegen die Sache einzu- nehmen, erzaͤhlen. Livius wuͤrde ſeinem ernſthaf- ten, pathetiſchen und mit altroͤmiſcher Wuͤrde beklei- deten Charakter zufolge, die Sache von der großen, wichtigen Seite vorgeſtellt, manchen kleinern Um- ſtand weggelaſſen, manches ernſthafte Wort, ſeinen handelnden Perſonen in Mund gelegt haben; ſo, daß wir uͤberall an den handelnden Perſonen, die Patrioten, oder die ſchlecht und eigennuͤzig geſinnten Buͤrger, wuͤrden erblikt haben. Tacitus haͤtte außer den weſentlichſten Hauptſachen, vornehmlich ſolche Umſtaͤnde gewaͤhlt, die uns tief in die Herzen der han- delnden Perſonen haͤtten hineinſehen laſſen, nicht um ſie in ihrem oͤffentlichen Charakter, als Patrioten, oder Aufruͤhrer, ſondern, als gute oder ſchlechte Menſchen zu erkennen; er wuͤrde einen Ausdruk ge- waͤhlt haben, der uns gefließentlich fuͤr, oder ge- gen die Perſonen haͤtte einnehmen ſollen u. ſ. f. Alſo wuͤrden wir ſowol in der Materie, als in der Form und in dem Ausdruk dieſer drey Geſchichtſchreiber eines jeden beſondern Charakter haben erkennen koͤn- nen.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1048[1030]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/477>, abgerufen am 26.04.2024.