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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ob er im Ganzen dabey gewinne, oder verliehre,
können wir hier nicht untersuchen.

Demnach bleibet der Tanzkunst gegenwärtig kaum
ein andrer öffentlicher Gebrauch übrig, als auf der
Schaubühne. Was für großer Verbesserung sie
aber auch da fähig wäre, haben wir bereits erin-
nert. (*) Man kann, nach der Natur der Sachen,
von dem Balletmeister mit Recht fodern, daß er in
Ansehung des Werths und der Würde dessen, was
er uns sehen und hören läßt, mit dem dramatischen
Dichter, um den Vorzug streite.

Zwar wollten wir nicht, daß die alten pantomi-
mischen Tänze in ihrem ganzen Umfange wieder auf-
kämen. Eine tragische, oder komische Handlung,
so vollständig, wie der Dichter sie vorstellt, schiket
sich für den Tanz nicht. Das Drama, das ohne
Reden vorgestellt wird, ist in Ansehung der Ausführ-
lichkeit nothwendig enger eingeschränkt, als das poe-
tische Drama, und diese Einschränkung muß der
Balletmeister nicht aus den Augen sezen. Wir ha-
ben in dem Artikel Ballet, sie einigermaaßen zu be-
stimmen versucht.

Daß die Tanzkunst und die Musik aller Wahr-
scheinlichkeit nach, die beyden ältesten Künste seyen,
ist bereits erinnert worden. Wir wissen auch aus
verschiedenen Nachrichten, daß bey Griechen und
andern Völkern alter Zeit, der Tanz nicht blos zum
gesellschaftlichen Ergözen, sondern bey allen öffent-
lichen Festen der Religion und des Staates gebraucht
worden. Wir halten es um so viel unnöthiger uns
hierüber weitläuftig einzulassen, da wir die Abhand-
lung des Cahüsac über die alte und neue Tanzkunst,
nachdem sie auch in einer deutschen Uebersezung erschie-
nen ist, in den Händen der meisten unsrer Leser zu
seyn glauben. Wie weit es die Alten, besonders die
Griechen in dieser Kunst gebracht haben, läßt sich,
da ihre Tänze für uns verlohren sind, nicht sagen.
Daß aber die alten Tänzer, wenigstens in den spä-
thern Zeiten, nämlich unter der Regierung des Au-
gustus, und auch schon etwas früher, das wesent-
liche der Kunst, nämlich den sittlichen und leiden-
schaftlichen Ausdruk gar sehr in ihrer Gewalt gehabt
haben, läßt sich aus vielen bekannten Erzählungen
mit Gewißheit schließen. Jch will nur eine Anek-
dote hievon anführen. Der Cyniker Demetrius
hatte das pantomimische Tanzen, das er nie gesehen,
verachtet, und geglaubt, die Bewundrung, mit
der man davon sprach, rühre mehr von der Musik,
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als vom Tanz her. Ein damaliger Tänzer, unter
dem Kayser Nero, bath ihn, er möchte ihn nur
einmal sehen. Dieses geschah, der Tänzer hieß die
Musik schweigen und stellte durch sein stilles Ballet
die bekannte Liebesgeschichte des Mars und der Ve-
nus vor. Der Philosoph kam für Vergnügen fast
außer sich, und rufte dem Tänzer laut zu: "ich
höre was du vorstellst, ich seh es nicht blos; denn
du scheinest mir mit den Händen zu sprechen."

Man kann überhaupt anmerken, daß die Alten
den Begriff der Tanzkunst weiter ausgedähnt haben,
als man in den neuern Zeiten zu thun gewohnt ist.
Es läßt sich aus einem Vers in der Jlias (*), und
besonders aus einer Anmerkung, die Lucian in sei-
nem Gespräch von der Tanzkunst darüber macht, ab-
nehmen, daß auch Leibesübungen, die mit unsrer
Fechtkunst übereinkommen, darunter begriffen ge-
wesen; und so wol aus der vorher angeführten
Anekdote, als aus viel andern Nachrichten, kann
man schließen, daß überhaupt das, was wir izt das
stumme Spiehl der Schauspiehler nennen, bey den
Römern zum Tanzen gerechnet worden. Ueberdem
ist bekannt, daß die Alten gar ofte besondere Cha-
raktere berühmter mythologischer Personen und auch
einiger Helden, durch Solotänze geschildert haben:
von solchen Schilderungen aber wissen unsre heu-
tige Tänzer wenig. Man findet so gar, daß sie ab-
strakte Begriffe durch Tänze vorgestellt haben, wie
z. B. die Freyheit. Sextus der Empiriker erzählt,
daß der Tänzer Sostratus, der bey dem König An-
tiochus in Diensten war, sich geweigert habe, auf
Befehl seines Herrn die Freyheit zu tanzen, weil
dieser des Tänzers Vaterstadt Priene sich unterwür-
fig gemacht hatte. Der Grund der Weigerung
macht diesem alten Tänzer keine Schande. "Es ste-
het mir nicht an, sagte er, die Freyheit zu tanzen,
die meine Vaterstadt verlohren hat" (*). Sie
haben aber auch solche Tänze gehabt, bey denen es
hauptsächlich auf seltsame Sprünge und höchst
schweere Gebehrdungen ankommt; denn Crato sagt
beym Lucian, es sey schändlich einem Menschen zu-
zusehen, der sich über alle Maaße die Glieder ver-
drähe (*)

Jn den neuern Zeiten haben die Jtaliäner den
Tanz wieder auf die Schaubühne gebracht, und
dieses scheinet bey Gelegenheit der Opern geschehen
zu seyn (*). Jn dem leztverwichenen Jahrhundert
aber hat man hauptsächlich in Frankreich auf die

theatra-
(*) S.
Ballet;
Tanz.
(*) Il.
II. vs.
617.
(*) Sext.
Empir.
advers.
Mathem.
L. I.
(*) [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]is
ou'dei de[unleserliches Material - 2 Zeichen fehlen]
katakl[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]-
meno.
(*) S.
Opera.
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Ob er im Ganzen dabey gewinne, oder verliehre,
koͤnnen wir hier nicht unterſuchen.

Demnach bleibet der Tanzkunſt gegenwaͤrtig kaum
ein andrer oͤffentlicher Gebrauch uͤbrig, als auf der
Schaubuͤhne. Was fuͤr großer Verbeſſerung ſie
aber auch da faͤhig waͤre, haben wir bereits erin-
nert. (*) Man kann, nach der Natur der Sachen,
von dem Balletmeiſter mit Recht fodern, daß er in
Anſehung des Werths und der Wuͤrde deſſen, was
er uns ſehen und hoͤren laͤßt, mit dem dramatiſchen
Dichter, um den Vorzug ſtreite.

Zwar wollten wir nicht, daß die alten pantomi-
miſchen Taͤnze in ihrem ganzen Umfange wieder auf-
kaͤmen. Eine tragiſche, oder komiſche Handlung,
ſo vollſtaͤndig, wie der Dichter ſie vorſtellt, ſchiket
ſich fuͤr den Tanz nicht. Das Drama, das ohne
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lichkeit nothwendig enger eingeſchraͤnkt, als das poe-
tiſche Drama, und dieſe Einſchraͤnkung muß der
Balletmeiſter nicht aus den Augen ſezen. Wir ha-
ben in dem Artikel Ballet, ſie einigermaaßen zu be-
ſtimmen verſucht.

Daß die Tanzkunſt und die Muſik aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach, die beyden aͤlteſten Kuͤnſte ſeyen,
iſt bereits erinnert worden. Wir wiſſen auch aus
verſchiedenen Nachrichten, daß bey Griechen und
andern Voͤlkern alter Zeit, der Tanz nicht blos zum
geſellſchaftlichen Ergoͤzen, ſondern bey allen oͤffent-
lichen Feſten der Religion und des Staates gebraucht
worden. Wir halten es um ſo viel unnoͤthiger uns
hieruͤber weitlaͤuftig einzulaſſen, da wir die Abhand-
lung des Cahuͤſac uͤber die alte und neue Tanzkunſt,
nachdem ſie auch in einer deutſchen Ueberſezung erſchie-
nen iſt, in den Haͤnden der meiſten unſrer Leſer zu
ſeyn glauben. Wie weit es die Alten, beſonders die
Griechen in dieſer Kunſt gebracht haben, laͤßt ſich,
da ihre Taͤnze fuͤr uns verlohren ſind, nicht ſagen.
Daß aber die alten Taͤnzer, wenigſtens in den ſpaͤ-
thern Zeiten, naͤmlich unter der Regierung des Au-
guſtus, und auch ſchon etwas fruͤher, das weſent-
liche der Kunſt, naͤmlich den ſittlichen und leiden-
ſchaftlichen Ausdruk gar ſehr in ihrer Gewalt gehabt
haben, laͤßt ſich aus vielen bekannten Erzaͤhlungen
mit Gewißheit ſchließen. Jch will nur eine Anek-
dote hievon anfuͤhren. Der Cyniker Demetrius
hatte das pantomimiſche Tanzen, das er nie geſehen,
verachtet, und geglaubt, die Bewundrung, mit
der man davon ſprach, ruͤhre mehr von der Muſik,
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als vom Tanz her. Ein damaliger Taͤnzer, unter
dem Kayſer Nero, bath ihn, er moͤchte ihn nur
einmal ſehen. Dieſes geſchah, der Taͤnzer hieß die
Muſik ſchweigen und ſtellte durch ſein ſtilles Ballet
die bekannte Liebesgeſchichte des Mars und der Ve-
nus vor. Der Philoſoph kam fuͤr Vergnuͤgen faſt
außer ſich, und rufte dem Taͤnzer laut zu: „ich
hoͤre was du vorſtellſt, ich ſeh es nicht blos; denn
du ſcheineſt mir mit den Haͤnden zu ſprechen.„

Man kann uͤberhaupt anmerken, daß die Alten
den Begriff der Tanzkunſt weiter ausgedaͤhnt haben,
als man in den neuern Zeiten zu thun gewohnt iſt.
Es laͤßt ſich aus einem Vers in der Jlias (*), und
beſonders aus einer Anmerkung, die Lucian in ſei-
nem Geſpraͤch von der Tanzkunſt daruͤber macht, ab-
nehmen, daß auch Leibesuͤbungen, die mit unſrer
Fechtkunſt uͤbereinkommen, darunter begriffen ge-
weſen; und ſo wol aus der vorher angefuͤhrten
Anekdote, als aus viel andern Nachrichten, kann
man ſchließen, daß uͤberhaupt das, was wir izt das
ſtumme Spiehl der Schauſpiehler nennen, bey den
Roͤmern zum Tanzen gerechnet worden. Ueberdem
iſt bekannt, daß die Alten gar ofte beſondere Cha-
raktere beruͤhmter mythologiſcher Perſonen und auch
einiger Helden, durch Solotaͤnze geſchildert haben:
von ſolchen Schilderungen aber wiſſen unſre heu-
tige Taͤnzer wenig. Man findet ſo gar, daß ſie ab-
ſtrakte Begriffe durch Taͤnze vorgeſtellt haben, wie
z. B. die Freyheit. Sextus der Empiriker erzaͤhlt,
daß der Taͤnzer Soſtratus, der bey dem Koͤnig An-
tiochus in Dienſten war, ſich geweigert habe, auf
Befehl ſeines Herrn die Freyheit zu tanzen, weil
dieſer des Taͤnzers Vaterſtadt Priene ſich unterwuͤr-
fig gemacht hatte. Der Grund der Weigerung
macht dieſem alten Taͤnzer keine Schande. „Es ſte-
het mir nicht an, ſagte er, die Freyheit zu tanzen,
die meine Vaterſtadt verlohren hat„ (*). Sie
haben aber auch ſolche Taͤnze gehabt, bey denen es
hauptſaͤchlich auf ſeltſame Spruͤnge und hoͤchſt
ſchweere Gebehrdungen ankommt; denn Crato ſagt
beym Lucian, es ſey ſchaͤndlich einem Menſchen zu-
zuſehen, der ſich uͤber alle Maaße die Glieder ver-
draͤhe (*)

Jn den neuern Zeiten haben die Jtaliaͤner den
Tanz wieder auf die Schaubuͤhne gebracht, und
dieſes ſcheinet bey Gelegenheit der Opern geſchehen
zu ſeyn (*). Jn dem leztverwichenen Jahrhundert
aber hat man hauptſaͤchlich in Frankreich auf die

theatra-
(*) S.
Ballet;
Tanz.
(*) Il.
II. vs.
617.
(*) Sext.
Empir.
adverſ.
Mathem.
L. I.
(*) [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ις
ȣ᾽δει δε[unleserliches Material – 2 Zeichen fehlen]
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μενω.
(*) S.
Opera.
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[1143[1125]/0572] Tan Tan Ob er im Ganzen dabey gewinne, oder verliehre, koͤnnen wir hier nicht unterſuchen. Demnach bleibet der Tanzkunſt gegenwaͤrtig kaum ein andrer oͤffentlicher Gebrauch uͤbrig, als auf der Schaubuͤhne. Was fuͤr großer Verbeſſerung ſie aber auch da faͤhig waͤre, haben wir bereits erin- nert. (*) Man kann, nach der Natur der Sachen, von dem Balletmeiſter mit Recht fodern, daß er in Anſehung des Werths und der Wuͤrde deſſen, was er uns ſehen und hoͤren laͤßt, mit dem dramatiſchen Dichter, um den Vorzug ſtreite. Zwar wollten wir nicht, daß die alten pantomi- miſchen Taͤnze in ihrem ganzen Umfange wieder auf- kaͤmen. Eine tragiſche, oder komiſche Handlung, ſo vollſtaͤndig, wie der Dichter ſie vorſtellt, ſchiket ſich fuͤr den Tanz nicht. Das Drama, das ohne Reden vorgeſtellt wird, iſt in Anſehung der Ausfuͤhr- lichkeit nothwendig enger eingeſchraͤnkt, als das poe- tiſche Drama, und dieſe Einſchraͤnkung muß der Balletmeiſter nicht aus den Augen ſezen. Wir ha- ben in dem Artikel Ballet, ſie einigermaaßen zu be- ſtimmen verſucht. Daß die Tanzkunſt und die Muſik aller Wahr- ſcheinlichkeit nach, die beyden aͤlteſten Kuͤnſte ſeyen, iſt bereits erinnert worden. Wir wiſſen auch aus verſchiedenen Nachrichten, daß bey Griechen und andern Voͤlkern alter Zeit, der Tanz nicht blos zum geſellſchaftlichen Ergoͤzen, ſondern bey allen oͤffent- lichen Feſten der Religion und des Staates gebraucht worden. Wir halten es um ſo viel unnoͤthiger uns hieruͤber weitlaͤuftig einzulaſſen, da wir die Abhand- lung des Cahuͤſac uͤber die alte und neue Tanzkunſt, nachdem ſie auch in einer deutſchen Ueberſezung erſchie- nen iſt, in den Haͤnden der meiſten unſrer Leſer zu ſeyn glauben. Wie weit es die Alten, beſonders die Griechen in dieſer Kunſt gebracht haben, laͤßt ſich, da ihre Taͤnze fuͤr uns verlohren ſind, nicht ſagen. Daß aber die alten Taͤnzer, wenigſtens in den ſpaͤ- thern Zeiten, naͤmlich unter der Regierung des Au- guſtus, und auch ſchon etwas fruͤher, das weſent- liche der Kunſt, naͤmlich den ſittlichen und leiden- ſchaftlichen Ausdruk gar ſehr in ihrer Gewalt gehabt haben, laͤßt ſich aus vielen bekannten Erzaͤhlungen mit Gewißheit ſchließen. Jch will nur eine Anek- dote hievon anfuͤhren. Der Cyniker Demetrius hatte das pantomimiſche Tanzen, das er nie geſehen, verachtet, und geglaubt, die Bewundrung, mit der man davon ſprach, ruͤhre mehr von der Muſik, als vom Tanz her. Ein damaliger Taͤnzer, unter dem Kayſer Nero, bath ihn, er moͤchte ihn nur einmal ſehen. Dieſes geſchah, der Taͤnzer hieß die Muſik ſchweigen und ſtellte durch ſein ſtilles Ballet die bekannte Liebesgeſchichte des Mars und der Ve- nus vor. Der Philoſoph kam fuͤr Vergnuͤgen faſt außer ſich, und rufte dem Taͤnzer laut zu: „ich hoͤre was du vorſtellſt, ich ſeh es nicht blos; denn du ſcheineſt mir mit den Haͤnden zu ſprechen.„ Man kann uͤberhaupt anmerken, daß die Alten den Begriff der Tanzkunſt weiter ausgedaͤhnt haben, als man in den neuern Zeiten zu thun gewohnt iſt. Es laͤßt ſich aus einem Vers in der Jlias (*), und beſonders aus einer Anmerkung, die Lucian in ſei- nem Geſpraͤch von der Tanzkunſt daruͤber macht, ab- nehmen, daß auch Leibesuͤbungen, die mit unſrer Fechtkunſt uͤbereinkommen, darunter begriffen ge- weſen; und ſo wol aus der vorher angefuͤhrten Anekdote, als aus viel andern Nachrichten, kann man ſchließen, daß uͤberhaupt das, was wir izt das ſtumme Spiehl der Schauſpiehler nennen, bey den Roͤmern zum Tanzen gerechnet worden. Ueberdem iſt bekannt, daß die Alten gar ofte beſondere Cha- raktere beruͤhmter mythologiſcher Perſonen und auch einiger Helden, durch Solotaͤnze geſchildert haben: von ſolchen Schilderungen aber wiſſen unſre heu- tige Taͤnzer wenig. Man findet ſo gar, daß ſie ab- ſtrakte Begriffe durch Taͤnze vorgeſtellt haben, wie z. B. die Freyheit. Sextus der Empiriker erzaͤhlt, daß der Taͤnzer Soſtratus, der bey dem Koͤnig An- tiochus in Dienſten war, ſich geweigert habe, auf Befehl ſeines Herrn die Freyheit zu tanzen, weil dieſer des Taͤnzers Vaterſtadt Priene ſich unterwuͤr- fig gemacht hatte. Der Grund der Weigerung macht dieſem alten Taͤnzer keine Schande. „Es ſte- het mir nicht an, ſagte er, die Freyheit zu tanzen, die meine Vaterſtadt verlohren hat„ (*). Sie haben aber auch ſolche Taͤnze gehabt, bey denen es hauptſaͤchlich auf ſeltſame Spruͤnge und hoͤchſt ſchweere Gebehrdungen ankommt; denn Crato ſagt beym Lucian, es ſey ſchaͤndlich einem Menſchen zu- zuſehen, der ſich uͤber alle Maaße die Glieder ver- draͤhe (*) Jn den neuern Zeiten haben die Jtaliaͤner den Tanz wieder auf die Schaubuͤhne gebracht, und dieſes ſcheinet bey Gelegenheit der Opern geſchehen zu ſeyn (*). Jn dem leztverwichenen Jahrhundert aber hat man hauptſaͤchlich in Frankreich auf die theatra- (*) S. Ballet; Tanz. (*) Il. II. vs. 617. (*) Sext. Empir. adverſ. Mathem. L. I. (*) _ις ȣ᾽δει δε__ κατακλ_- μενω. (*) S. Opera. C c c c c c c 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1143[1125]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/572>, abgerufen am 26.04.2024.