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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wah
liche, die Stelle des Würklichen vertreten könne,
zu überheben. Der unmittelbare Zwek des Künst-
lers ist allemal entweder die Vorstellungskraft, oder
die Empfindung lebhaft zu rühren. Hiezu ist das
Mögliche eben so schiklich, als das Würkliche. Klop-
stok will uns einen sehr lebhaften Begriff von der
Gemüthslage geben, in der sich Kaiphas, nach ei-
nem satanischen Traume befindet, und bedienet sich
dazu des Gleichnisses, eines in der Feldschlacht ster-
benden Gottesläugners:

-- -- Wie tief in der Feldschlacht
Sterbend ein Gottesläugner sich wälzt; u. s. f.(*)

Hier ist es völlig gleichgültig, ob jemals ein solcher
Fall würklich vorgekommen sey, oder nicht; genug,
daß das Bild gedenkbar und passend ist. Wäre
nie ein Atheist in der Welt gewesen, oder wäre nie
einer in diesen Umständen umgekommen, so dienet
dennoch das Bild, da wir es uns lebhaft vorstel-
len können, um das Gegenbild mit großer Lebhaf-
tigkeit darin zu erbliken. Zum Zwek des Dichters
war Möglichkeit und Würklichkeit völlig einerley.
Eben so verhält es sich, wenn Empfindungen zu er-
weken sind. Ob ein solcher Mann wie Homer den
Ulysses schildert, in der Welt vorhanden sey, oder
nicht; genug, daß wir uns ihn vorstellen können;
die bloße Vorstellung ist hinlänglich, unsre Bewun-
drung zu erweken. (*) Also können durch das blos
Mögliche Vorstellungskraft und Empfindung eben
so lebhaft, als durch das Würkliche gerührt werden.
Das Erdichtete ist so gar ofte weit schiklicher, als
das Würkliche; denn ofte ist dieses wegen Mangel
einiger Umstände, die darin verborgen bleiben, nicht
gedenkbar. Es geschehen bisweilen Dinge, die un-
möglich scheinen, da man seinen eigenen Augen
nicht traut, wo eine Würkung ohne Ursach scheinet.
Dergleichen Dinge, wenn sie auch noch so gewiß
wären, nihmt die Vorstellungskraft ungern an.
Darauf gründet sich die Vorschrift des Aristoteles,
daß der Künstler ofte das erdichtete Wahrscheinliche,
dem würklich Wahren, aber Unwahrscheinlichen
vorziehen soll.

Der Künstler hat demnach, ohne den mühesamen
Untersuchungen, die der Philosoph und der Ge-
schichtschreiber nothwendig vornehmen müssen, wenn
sie die Wahrheit finden wollen, nöthig zu haben,
nur diese einfache Regel zu beobachten: daß alles
was er vorstellt, in der Art, wie er vorstellt, würk-
lich gedenkbar sey. Er darf nur darauf Acht ha-
[Spaltenumbruch]

Wah
ben, daß in den Dingen, die er, als vorhanden
vorstellt, nichts wiedersprechendes, und in dem,
was er, als geschehen beschreibt, nichts ungegrün-
detes vorkomme. Es ist aber nicht genug, daß
die Sachen ihm selbst gedenkbar seyen, sie müssen
es auch für die seyn, für die er arbeitet. Deswe-
gen muß in der Darstellung der Sachen keine we-
sentliche Lüke bleiben. Man kann eine würklich
vorhandene, oder eine geschehene Sache, die man
selbst gesehen hat, folglich nicht nur als möglich,
sondern auch als würklich begreift, so beschreiben,
daß es andern unmöglich fällt, sie sich vorzustellen.
Dieses geschieht, wenn man aus Unachtsamkeit in
der Beschreibung, oder Erzählung einige wesent-
liche Dinge wegläßt, die man doch dabey gedacht
hat; oder wenn die Worte und andere Zeichen, de-
ren man sich bedienet, etwas anderes ausdrüken,
als wir haben ausdrüken wollen. Darum ist es
nothwendig, daß der Künstler, nachdem er sein
Werk entworfen hat, es hernach mit kalter Ueber-
legung betrachte, um zu entdeken, ob kein zur Faß-
lichkeit oder Glaubwürdigkeit nöthiger Umstand über-
gangen worden, und ob er jedes einzele würklich so
ausgedrükt habe, wie er es gedacht hat.

Man sollte denken, daß kein verständiger Mensch,
und ein Künstler, muß doch nothwendig ein solcher
seyn, etwas vortragen, oder schildern werde, das
er selbst nicht begreift, oder das so, wie er es vor-
trägt, nicht begreiflich ist. Es scheinet demnach
ganz unnöthig zu seyn, dem Künstler weitläuftig
von der Beobachtung des Wahrscheinlichen zu sagen,
das so leicht zu beurtheilen ist. Da es aber auch
dem verständigsten Künstler aus mehr, als einer
Ursache begegnen kann, daß er unwahrscheinliche
Dinge vorträgt, so scheinet es uns wichtig genug,
daß wir vier Hauptquellen dieses Fehlers anzeigen.

1. Jn der Hize der Arbeit versäumet man gar
ofte, gewisse Dinge zu bemerken, wodurch eine
Sache unmöglich, oder unwahrschemlich wird, und
man glaubt etwas zu begreiffen, das andere nicht
annehmen können; weil ihnen Zweifel dagegen ent-
stehen, die der Künstler in der Hize der Einbildungs-
kraft, übersehen hat. Wir finden beym Plautus
gar ofte, daß Sclaven ihre Herren auf eine völlig
unwahrscheinliche Art betrügen; und es ist uns un-
möglich die Aufführung dieser Leuthe zu begreiffen.
Denn da es ihnen nothwendig das Leben kosten
müßte, wenn der Betrug an den Tag käme, dabey
aber
(*) Meßias
IV. Ges.
(*) S.
Täuschung

[Spaltenumbruch]

Wah
liche, die Stelle des Wuͤrklichen vertreten koͤnne,
zu uͤberheben. Der unmittelbare Zwek des Kuͤnſt-
lers iſt allemal entweder die Vorſtellungskraft, oder
die Empfindung lebhaft zu ruͤhren. Hiezu iſt das
Moͤgliche eben ſo ſchiklich, als das Wuͤrkliche. Klop-
ſtok will uns einen ſehr lebhaften Begriff von der
Gemuͤthslage geben, in der ſich Kaiphas, nach ei-
nem ſataniſchen Traume befindet, und bedienet ſich
dazu des Gleichniſſes, eines in der Feldſchlacht ſter-
benden Gotteslaͤugners:

— — Wie tief in der Feldſchlacht
Sterbend ein Gotteslaͤugner ſich waͤlzt; u. ſ. f.(*)

Hier iſt es voͤllig gleichguͤltig, ob jemals ein ſolcher
Fall wuͤrklich vorgekommen ſey, oder nicht; genug,
daß das Bild gedenkbar und paſſend iſt. Waͤre
nie ein Atheiſt in der Welt geweſen, oder waͤre nie
einer in dieſen Umſtaͤnden umgekommen, ſo dienet
dennoch das Bild, da wir es uns lebhaft vorſtel-
len koͤnnen, um das Gegenbild mit großer Lebhaf-
tigkeit darin zu erbliken. Zum Zwek des Dichters
war Moͤglichkeit und Wuͤrklichkeit voͤllig einerley.
Eben ſo verhaͤlt es ſich, wenn Empfindungen zu er-
weken ſind. Ob ein ſolcher Mann wie Homer den
Ulyſſes ſchildert, in der Welt vorhanden ſey, oder
nicht; genug, daß wir uns ihn vorſtellen koͤnnen;
die bloße Vorſtellung iſt hinlaͤnglich, unſre Bewun-
drung zu erweken. (*) Alſo koͤnnen durch das blos
Moͤgliche Vorſtellungskraft und Empfindung eben
ſo lebhaft, als durch das Wuͤrkliche geruͤhrt werden.
Das Erdichtete iſt ſo gar ofte weit ſchiklicher, als
das Wuͤrkliche; denn ofte iſt dieſes wegen Mangel
einiger Umſtaͤnde, die darin verborgen bleiben, nicht
gedenkbar. Es geſchehen bisweilen Dinge, die un-
moͤglich ſcheinen, da man ſeinen eigenen Augen
nicht traut, wo eine Wuͤrkung ohne Urſach ſcheinet.
Dergleichen Dinge, wenn ſie auch noch ſo gewiß
waͤren, nihmt die Vorſtellungskraft ungern an.
Darauf gruͤndet ſich die Vorſchrift des Ariſtoteles,
daß der Kuͤnſtler ofte das erdichtete Wahrſcheinliche,
dem wuͤrklich Wahren, aber Unwahrſcheinlichen
vorziehen ſoll.

Der Kuͤnſtler hat demnach, ohne den muͤheſamen
Unterſuchungen, die der Philoſoph und der Ge-
ſchichtſchreiber nothwendig vornehmen muͤſſen, wenn
ſie die Wahrheit finden wollen, noͤthig zu haben,
nur dieſe einfache Regel zu beobachten: daß alles
was er vorſtellt, in der Art, wie er vorſtellt, wuͤrk-
lich gedenkbar ſey. Er darf nur darauf Acht ha-
[Spaltenumbruch]

Wah
ben, daß in den Dingen, die er, als vorhanden
vorſtellt, nichts wiederſprechendes, und in dem,
was er, als geſchehen beſchreibt, nichts ungegruͤn-
detes vorkomme. Es iſt aber nicht genug, daß
die Sachen ihm ſelbſt gedenkbar ſeyen, ſie muͤſſen
es auch fuͤr die ſeyn, fuͤr die er arbeitet. Deswe-
gen muß in der Darſtellung der Sachen keine we-
ſentliche Luͤke bleiben. Man kann eine wuͤrklich
vorhandene, oder eine geſchehene Sache, die man
ſelbſt geſehen hat, folglich nicht nur als moͤglich,
ſondern auch als wuͤrklich begreift, ſo beſchreiben,
daß es andern unmoͤglich faͤllt, ſie ſich vorzuſtellen.
Dieſes geſchieht, wenn man aus Unachtſamkeit in
der Beſchreibung, oder Erzaͤhlung einige weſent-
liche Dinge weglaͤßt, die man doch dabey gedacht
hat; oder wenn die Worte und andere Zeichen, de-
ren man ſich bedienet, etwas anderes ausdruͤken,
als wir haben ausdruͤken wollen. Darum iſt es
nothwendig, daß der Kuͤnſtler, nachdem er ſein
Werk entworfen hat, es hernach mit kalter Ueber-
legung betrachte, um zu entdeken, ob kein zur Faß-
lichkeit oder Glaubwuͤrdigkeit noͤthiger Umſtand uͤber-
gangen worden, und ob er jedes einzele wuͤrklich ſo
ausgedruͤkt habe, wie er es gedacht hat.

Man ſollte denken, daß kein verſtaͤndiger Menſch,
und ein Kuͤnſtler, muß doch nothwendig ein ſolcher
ſeyn, etwas vortragen, oder ſchildern werde, das
er ſelbſt nicht begreift, oder das ſo, wie er es vor-
traͤgt, nicht begreiflich iſt. Es ſcheinet demnach
ganz unnoͤthig zu ſeyn, dem Kuͤnſtler weitlaͤuftig
von der Beobachtung des Wahrſcheinlichen zu ſagen,
das ſo leicht zu beurtheilen iſt. Da es aber auch
dem verſtaͤndigſten Kuͤnſtler aus mehr, als einer
Urſache begegnen kann, daß er unwahrſcheinliche
Dinge vortraͤgt, ſo ſcheinet es uns wichtig genug,
daß wir vier Hauptquellen dieſes Fehlers anzeigen.

1. Jn der Hize der Arbeit verſaͤumet man gar
ofte, gewiſſe Dinge zu bemerken, wodurch eine
Sache unmoͤglich, oder unwahrſchemlich wird, und
man glaubt etwas zu begreiffen, das andere nicht
annehmen koͤnnen; weil ihnen Zweifel dagegen ent-
ſtehen, die der Kuͤnſtler in der Hize der Einbildungs-
kraft, uͤberſehen hat. Wir finden beym Plautus
gar ofte, daß Sclaven ihre Herren auf eine voͤllig
unwahrſcheinliche Art betruͤgen; und es iſt uns un-
moͤglich die Auffuͤhrung dieſer Leuthe zu begreiffen.
Denn da es ihnen nothwendig das Leben koſten
muͤßte, wenn der Betrug an den Tag kaͤme, dabey
aber
(*) Meßias
IV. Geſ.
(*) S.
Taͤuſchung
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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1264[1246]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/693>, abgerufen am 26.04.2024.