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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wah
schikliche Weise, das was zur Begreiflichkeit der
Sache dienet, irgendwo einmischen, und so die
Glaubwürdigkeit der Sache vorbereiten. Jn einem
Trauerspiehl retten sich zwey Personen durch
Schwimmen aus einem Schiffbruch; die eine frägt
die andere, ob sie auch ihre Schäze gerettet habe:
ja; antwortet sie, da sie nur in Juweelen bestehen,
so hab ich sie in Busen gestekt.
Durch Erwäh-
nung der Juweelen wollte der Dichter die Rettung
des Schazes begreiflich machen. Aber er hätte die-
ses Umstandes eher, an einem schiklichern Orte und
überhaupt auf eine natürliche Weise erwähnen sol-
len. Denn so, wie er es hier thut, ist die Sache
völlig unnatürlich.
Wenn die Erzählung oder Vorstellung einer
Handlung in völliger Wahrscheinlichkeit erscheinen
soll, so muß man die Veranlassung, die Charaktere
der Personen, das Jnteresse jeder derselben, und
überhaupt alles, was als würkende Ursach dabey
seyn kann, genau kennen. Der epische Dichter
kann uns gar leicht und schiklich von allen diesen
Dingen unterrichten, aber dem dramatischen wird
dieses ofte sehr schweer. Daher entstehen die wich-
tigsten Fehler gegen die Wahrscheinlichkeit. Es ist
höchst anstößig, wenn Personen, die in wichtigen
Angelegenheiten handeln, Reden in den Mund ge-
legt werden, die blos für den Zuschauer dienen.
Denn sie führen den offenbaresten Wiederspruch mit
sich; wir sollen einen Menschen für den Orestes,
oder Agamemnon halten, und seine Reden verra-
then einen Schauspiehler! Man lasse lieber den
Zuschauer in einigem Zweifel über die Gründe und
Ursachen dessen, was er sieht oder hört, als daß
man auf eine so sehr unschikliche Weise, die Zweifel
hebt. Man muß sich durch die Sorge wahrschein-
lich zu seyn, nicht zu der größten Unwahrscheinlich-
keit verleiten lassen. Der Dichter muß dem Zu-
schauer zutrauen, daß er verschiedenes von selbst
einsehen und begreiffen werde. Verschiedene dra-
matische Dichter beweisen darin eine so übertriebene
Sorgfalt, daß sie gar oft, wenn eine neue Scene
bevorsteht, auf die unnatürlichste Weise uns durch
die handelnden Personen sagen lassen, wer der sey,
der nun erscheinen wird.
4. Mangel an Erfahrung und Kenntnis der
Welt, ist auch eine der Quellen des Unwahrschein-
lichen. Eine blos philosophische, oder phychologi-
[Spaltenumbruch]
Wah
sche Kenntnis des Menschen, ist nicht hinreichend
Personen von allerley Stand und Lebensart nach
ihrer besondern Art zu denken und zu handeln, na-
türlich zu schildern. Keine Theorie ist dazu hinrei-
chend. Nur durch langen Umgang mit solchen
Menschen gelanget man dazu. Jeder Stand, je-
des Land, jedes Zeitalter hat seine eigene Begriffe,
Vorurtheile, Maximen und Handlungsart; Wer
sie nicht genau kennt, muß nothwendig in manchem
Stük unwahrscheinlich werden.
Wechselnoten.
(Musik.)

Dieses Wort ist eine Uebersezung des italiänischen
Ausdruks note cambiate und bedeutet die Noten
oder Töne, die den unregelmäßigen Durchgang
machen, wovon an seinem Orte gesprochen wor-
den. (*) Es scheinet, man habe durch diesen Aus-
druk anzeigen wollen, daß diese Töne des unregel-
mäßigen Durchganges mit andern verwechselt wor-
den, oder die Stelle andrer Töne einnehmen. Man
kann sie als Vorhalte der gleich darauf folgenden
Töne ansehen. Aber von den eigentlichen Vorhal-
ten, denen wir den Namen der zufälligen Disso-
nanzen gegeben haben, sind sie doch sehr verschie-
den. Denn die Wechselnoten müssen auf der Zeit
des Takts, auf der sie vorkommen, in die Töne
übergehen, an deren Stelle sie gestanden haben,
da die eigentlichen Vorhalte erst auf der folgenden
Zeit aufgelöset werden. Denn können die Wechsel-
noten frey angeschlagen werden, da die wahren Vor-
halte nothwendig vorher müssen gelegen haben;
und endlich können die Wechselnoten sowol auf
guten, als schlechten Taktzeiten vorkommen, da
die Vorhalte nur an die gute Zeit allein gebun-
den sind.

Das Dissoniren der Wechselnoten wird bey der
Bezifferung nicht angedeutet, und sie werden in dem
begleitenden Generalbaß nicht mitgespiehlt. Ueber
den Gebrauch der Wechselnoten und die dabey zu
beobachtende Vorsichtigkeit, empfehlen wir den An-
fängern das 14 und 15 Capitel in Murschhausers
hohen Schule der Composition, nachzulesen, da wir
kein Buch kennen, darin das, was von richtiger
Behandlung der Dissonanzen zu beobachten ist,
besser, als in diesem angezeiget und ausgeführt
würde.

(*) S.
Durch-
gang.
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Wah
ſchikliche Weiſe, das was zur Begreiflichkeit der
Sache dienet, irgendwo einmiſchen, und ſo die
Glaubwuͤrdigkeit der Sache vorbereiten. Jn einem
Trauerſpiehl retten ſich zwey Perſonen durch
Schwimmen aus einem Schiffbruch; die eine fraͤgt
die andere, ob ſie auch ihre Schaͤze gerettet habe:
ja; antwortet ſie, da ſie nur in Juweelen beſtehen,
ſo hab ich ſie in Buſen geſtekt.
Durch Erwaͤh-
nung der Juweelen wollte der Dichter die Rettung
des Schazes begreiflich machen. Aber er haͤtte die-
ſes Umſtandes eher, an einem ſchiklichern Orte und
uͤberhaupt auf eine natuͤrliche Weiſe erwaͤhnen ſol-
len. Denn ſo, wie er es hier thut, iſt die Sache
voͤllig unnatuͤrlich.
Wenn die Erzaͤhlung oder Vorſtellung einer
Handlung in voͤlliger Wahrſcheinlichkeit erſcheinen
ſoll, ſo muß man die Veranlaſſung, die Charaktere
der Perſonen, das Jntereſſe jeder derſelben, und
uͤberhaupt alles, was als wuͤrkende Urſach dabey
ſeyn kann, genau kennen. Der epiſche Dichter
kann uns gar leicht und ſchiklich von allen dieſen
Dingen unterrichten, aber dem dramatiſchen wird
dieſes ofte ſehr ſchweer. Daher entſtehen die wich-
tigſten Fehler gegen die Wahrſcheinlichkeit. Es iſt
hoͤchſt anſtoͤßig, wenn Perſonen, die in wichtigen
Angelegenheiten handeln, Reden in den Mund ge-
legt werden, die blos fuͤr den Zuſchauer dienen.
Denn ſie fuͤhren den offenbareſten Wiederſpruch mit
ſich; wir ſollen einen Menſchen fuͤr den Oreſtes,
oder Agamemnon halten, und ſeine Reden verra-
then einen Schauſpiehler! Man laſſe lieber den
Zuſchauer in einigem Zweifel uͤber die Gruͤnde und
Urſachen deſſen, was er ſieht oder hoͤrt, als daß
man auf eine ſo ſehr unſchikliche Weiſe, die Zweifel
hebt. Man muß ſich durch die Sorge wahrſchein-
lich zu ſeyn, nicht zu der groͤßten Unwahrſcheinlich-
keit verleiten laſſen. Der Dichter muß dem Zu-
ſchauer zutrauen, daß er verſchiedenes von ſelbſt
einſehen und begreiffen werde. Verſchiedene dra-
matiſche Dichter beweiſen darin eine ſo uͤbertriebene
Sorgfalt, daß ſie gar oft, wenn eine neue Scene
bevorſteht, auf die unnatuͤrlichſte Weiſe uns durch
die handelnden Perſonen ſagen laſſen, wer der ſey,
der nun erſcheinen wird.
4. Mangel an Erfahrung und Kenntnis der
Welt, iſt auch eine der Quellen des Unwahrſchein-
lichen. Eine blos philoſophiſche, oder phychologi-
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Wah
ſche Kenntnis des Menſchen, iſt nicht hinreichend
Perſonen von allerley Stand und Lebensart nach
ihrer beſondern Art zu denken und zu handeln, na-
tuͤrlich zu ſchildern. Keine Theorie iſt dazu hinrei-
chend. Nur durch langen Umgang mit ſolchen
Menſchen gelanget man dazu. Jeder Stand, je-
des Land, jedes Zeitalter hat ſeine eigene Begriffe,
Vorurtheile, Maximen und Handlungsart; Wer
ſie nicht genau kennt, muß nothwendig in manchem
Stuͤk unwahrſcheinlich werden.
Wechſelnoten.
(Muſik.)

Dieſes Wort iſt eine Ueberſezung des italiaͤniſchen
Ausdruks note cambiate und bedeutet die Noten
oder Toͤne, die den unregelmaͤßigen Durchgang
machen, wovon an ſeinem Orte geſprochen wor-
den. (*) Es ſcheinet, man habe durch dieſen Aus-
druk anzeigen wollen, daß dieſe Toͤne des unregel-
maͤßigen Durchganges mit andern verwechſelt wor-
den, oder die Stelle andrer Toͤne einnehmen. Man
kann ſie als Vorhalte der gleich darauf folgenden
Toͤne anſehen. Aber von den eigentlichen Vorhal-
ten, denen wir den Namen der zufaͤlligen Diſſo-
nanzen gegeben haben, ſind ſie doch ſehr verſchie-
den. Denn die Wechſelnoten muͤſſen auf der Zeit
des Takts, auf der ſie vorkommen, in die Toͤne
uͤbergehen, an deren Stelle ſie geſtanden haben,
da die eigentlichen Vorhalte erſt auf der folgenden
Zeit aufgeloͤſet werden. Denn koͤnnen die Wechſel-
noten frey angeſchlagen werden, da die wahren Vor-
halte nothwendig vorher muͤſſen gelegen haben;
und endlich koͤnnen die Wechſelnoten ſowol auf
guten, als ſchlechten Taktzeiten vorkommen, da
die Vorhalte nur an die gute Zeit allein gebun-
den ſind.

Das Diſſoniren der Wechſelnoten wird bey der
Bezifferung nicht angedeutet, und ſie werden in dem
begleitenden Generalbaß nicht mitgeſpiehlt. Ueber
den Gebrauch der Wechſelnoten und die dabey zu
beobachtende Vorſichtigkeit, empfehlen wir den An-
faͤngern das 14 und 15 Capitel in Murſchhauſers
hohen Schule der Compoſition, nachzuleſen, da wir
kein Buch kennen, darin das, was von richtiger
Behandlung der Diſſonanzen zu beobachten iſt,
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wuͤrde.

(*) S.
Durch-
gang.
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[1266[1248]/0695] Wah Wah ſchikliche Weiſe, das was zur Begreiflichkeit der Sache dienet, irgendwo einmiſchen, und ſo die Glaubwuͤrdigkeit der Sache vorbereiten. Jn einem Trauerſpiehl retten ſich zwey Perſonen durch Schwimmen aus einem Schiffbruch; die eine fraͤgt die andere, ob ſie auch ihre Schaͤze gerettet habe: ja; antwortet ſie, da ſie nur in Juweelen beſtehen, ſo hab ich ſie in Buſen geſtekt. Durch Erwaͤh- nung der Juweelen wollte der Dichter die Rettung des Schazes begreiflich machen. Aber er haͤtte die- ſes Umſtandes eher, an einem ſchiklichern Orte und uͤberhaupt auf eine natuͤrliche Weiſe erwaͤhnen ſol- len. Denn ſo, wie er es hier thut, iſt die Sache voͤllig unnatuͤrlich. Wenn die Erzaͤhlung oder Vorſtellung einer Handlung in voͤlliger Wahrſcheinlichkeit erſcheinen ſoll, ſo muß man die Veranlaſſung, die Charaktere der Perſonen, das Jntereſſe jeder derſelben, und uͤberhaupt alles, was als wuͤrkende Urſach dabey ſeyn kann, genau kennen. Der epiſche Dichter kann uns gar leicht und ſchiklich von allen dieſen Dingen unterrichten, aber dem dramatiſchen wird dieſes ofte ſehr ſchweer. Daher entſtehen die wich- tigſten Fehler gegen die Wahrſcheinlichkeit. Es iſt hoͤchſt anſtoͤßig, wenn Perſonen, die in wichtigen Angelegenheiten handeln, Reden in den Mund ge- legt werden, die blos fuͤr den Zuſchauer dienen. Denn ſie fuͤhren den offenbareſten Wiederſpruch mit ſich; wir ſollen einen Menſchen fuͤr den Oreſtes, oder Agamemnon halten, und ſeine Reden verra- then einen Schauſpiehler! Man laſſe lieber den Zuſchauer in einigem Zweifel uͤber die Gruͤnde und Urſachen deſſen, was er ſieht oder hoͤrt, als daß man auf eine ſo ſehr unſchikliche Weiſe, die Zweifel hebt. Man muß ſich durch die Sorge wahrſchein- lich zu ſeyn, nicht zu der groͤßten Unwahrſcheinlich- keit verleiten laſſen. Der Dichter muß dem Zu- ſchauer zutrauen, daß er verſchiedenes von ſelbſt einſehen und begreiffen werde. Verſchiedene dra- matiſche Dichter beweiſen darin eine ſo uͤbertriebene Sorgfalt, daß ſie gar oft, wenn eine neue Scene bevorſteht, auf die unnatuͤrlichſte Weiſe uns durch die handelnden Perſonen ſagen laſſen, wer der ſey, der nun erſcheinen wird. 4. Mangel an Erfahrung und Kenntnis der Welt, iſt auch eine der Quellen des Unwahrſchein- lichen. Eine blos philoſophiſche, oder phychologi- ſche Kenntnis des Menſchen, iſt nicht hinreichend Perſonen von allerley Stand und Lebensart nach ihrer beſondern Art zu denken und zu handeln, na- tuͤrlich zu ſchildern. Keine Theorie iſt dazu hinrei- chend. Nur durch langen Umgang mit ſolchen Menſchen gelanget man dazu. Jeder Stand, je- des Land, jedes Zeitalter hat ſeine eigene Begriffe, Vorurtheile, Maximen und Handlungsart; Wer ſie nicht genau kennt, muß nothwendig in manchem Stuͤk unwahrſcheinlich werden. Wechſelnoten. (Muſik.) Dieſes Wort iſt eine Ueberſezung des italiaͤniſchen Ausdruks note cambiate und bedeutet die Noten oder Toͤne, die den unregelmaͤßigen Durchgang machen, wovon an ſeinem Orte geſprochen wor- den. (*) Es ſcheinet, man habe durch dieſen Aus- druk anzeigen wollen, daß dieſe Toͤne des unregel- maͤßigen Durchganges mit andern verwechſelt wor- den, oder die Stelle andrer Toͤne einnehmen. Man kann ſie als Vorhalte der gleich darauf folgenden Toͤne anſehen. Aber von den eigentlichen Vorhal- ten, denen wir den Namen der zufaͤlligen Diſſo- nanzen gegeben haben, ſind ſie doch ſehr verſchie- den. Denn die Wechſelnoten muͤſſen auf der Zeit des Takts, auf der ſie vorkommen, in die Toͤne uͤbergehen, an deren Stelle ſie geſtanden haben, da die eigentlichen Vorhalte erſt auf der folgenden Zeit aufgeloͤſet werden. Denn koͤnnen die Wechſel- noten frey angeſchlagen werden, da die wahren Vor- halte nothwendig vorher muͤſſen gelegen haben; und endlich koͤnnen die Wechſelnoten ſowol auf guten, als ſchlechten Taktzeiten vorkommen, da die Vorhalte nur an die gute Zeit allein gebun- den ſind. Das Diſſoniren der Wechſelnoten wird bey der Bezifferung nicht angedeutet, und ſie werden in dem begleitenden Generalbaß nicht mitgeſpiehlt. Ueber den Gebrauch der Wechſelnoten und die dabey zu beobachtende Vorſichtigkeit, empfehlen wir den An- faͤngern das 14 und 15 Capitel in Murſchhauſers hohen Schule der Compoſition, nachzuleſen, da wir kein Buch kennen, darin das, was von richtiger Behandlung der Diſſonanzen zu beobachten iſt, beſſer, als in dieſem angezeiget und ausgefuͤhrt wuͤrde. (*) S. Durch- gang.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1266[1248]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/695>, abgerufen am 26.04.2024.