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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
machten zusammengesetzten Ausdrücken geben sie die ein-
zelen Züge an, aus denen das Gemälde bestehet, aber
selbst die Art, wie sie diese Wörter hervorbringen, be-
weiset, daß die bezeichneten Züge in der Phantasie, wie
die vermischten Farben, in einander hineingetrieben und
mit einander vermischt sind.

4.

Es giebt indessen eine Gränze, über welche hinaus die
mächtigste Dichtkraft unvermögend ist, diese Vereinigung
von Empfindungsvorstellungen zu bewerkstelligen. Wenn
die Empfindungen, deren Phantasmate zu einer Fiktion
vermischt sind, selbst in der Empfindung zu Einer neuen
einfachen Empfindung vermischt sind, und dann davon ein
Phantasma genommen wird; so ist dieß letztere lebhafter
und fester, als die selbstgemachte Fiktion hat seyn können.
Hier ist die Grenzlinie. "Die Dichtkraft kann keine
"einfache neue Scheine hervorbringen, die so voll und
"lebhaft sind, als die Wiedervorstellungen von vermisch-
"ten Empfindungen." Aber es scheinet doch, als wenn
sie in einigen Fällen auf die äußerste dieser Grenze hin-
komme, zumal alsdenn, wenn die neue Fiktion mit ei-
nem einfachen Wort hat bezeichnet werden können; denn
dadurch werden ihre vereinigten Theile unzertrennbarer
und die ganze Vorstellung in der Phantasie wird inniger
und fester vereiniget.

Solche Vermischungen einfacher Phantasmate in
Eine neue dem Gefühl nach einfache Vorstellung, entste-
hen auch in uns ohne Selbstthätigkeit aus Schwäche
der Phantasie. Die deutlich gewesene Empfindungs-
vorstellungen verlieren ihre Helligkeit, und die Zeit al-
lein schwächet sie, wenn sie nicht dann und wann wieder-
um erneuret werden. Es verlieren sich also die klei-
nern Zwischenzüge, die zur Deutlichkeit des Ganzen, und
zu dem Unterscheiden der Theile von einander erforderlich

waren.

I. Verſuch. Ueber die Natur
machten zuſammengeſetzten Ausdruͤcken geben ſie die ein-
zelen Zuͤge an, aus denen das Gemaͤlde beſtehet, aber
ſelbſt die Art, wie ſie dieſe Woͤrter hervorbringen, be-
weiſet, daß die bezeichneten Zuͤge in der Phantaſie, wie
die vermiſchten Farben, in einander hineingetrieben und
mit einander vermiſcht ſind.

4.

Es giebt indeſſen eine Graͤnze, uͤber welche hinaus die
maͤchtigſte Dichtkraft unvermoͤgend iſt, dieſe Vereinigung
von Empfindungsvorſtellungen zu bewerkſtelligen. Wenn
die Empfindungen, deren Phantasmate zu einer Fiktion
vermiſcht ſind, ſelbſt in der Empfindung zu Einer neuen
einfachen Empfindung vermiſcht ſind, und dann davon ein
Phantasma genommen wird; ſo iſt dieß letztere lebhafter
und feſter, als die ſelbſtgemachte Fiktion hat ſeyn koͤnnen.
Hier iſt die Grenzlinie. „Die Dichtkraft kann keine
„einfache neue Scheine hervorbringen, die ſo voll und
„lebhaft ſind, als die Wiedervorſtellungen von vermiſch-
„ten Empfindungen.“ Aber es ſcheinet doch, als wenn
ſie in einigen Faͤllen auf die aͤußerſte dieſer Grenze hin-
komme, zumal alsdenn, wenn die neue Fiktion mit ei-
nem einfachen Wort hat bezeichnet werden koͤnnen; denn
dadurch werden ihre vereinigten Theile unzertrennbarer
und die ganze Vorſtellung in der Phantaſie wird inniger
und feſter vereiniget.

Solche Vermiſchungen einfacher Phantasmate in
Eine neue dem Gefuͤhl nach einfache Vorſtellung, entſte-
hen auch in uns ohne Selbſtthaͤtigkeit aus Schwaͤche
der Phantaſie. Die deutlich geweſene Empfindungs-
vorſtellungen verlieren ihre Helligkeit, und die Zeit al-
lein ſchwaͤchet ſie, wenn ſie nicht dann und wann wieder-
um erneuret werden. Es verlieren ſich alſo die klei-
nern Zwiſchenzuͤge, die zur Deutlichkeit des Ganzen, und
zu dem Unterſcheiden der Theile von einander erforderlich

waren.
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[126/0186] I. Verſuch. Ueber die Natur machten zuſammengeſetzten Ausdruͤcken geben ſie die ein- zelen Zuͤge an, aus denen das Gemaͤlde beſtehet, aber ſelbſt die Art, wie ſie dieſe Woͤrter hervorbringen, be- weiſet, daß die bezeichneten Zuͤge in der Phantaſie, wie die vermiſchten Farben, in einander hineingetrieben und mit einander vermiſcht ſind. 4. Es giebt indeſſen eine Graͤnze, uͤber welche hinaus die maͤchtigſte Dichtkraft unvermoͤgend iſt, dieſe Vereinigung von Empfindungsvorſtellungen zu bewerkſtelligen. Wenn die Empfindungen, deren Phantasmate zu einer Fiktion vermiſcht ſind, ſelbſt in der Empfindung zu Einer neuen einfachen Empfindung vermiſcht ſind, und dann davon ein Phantasma genommen wird; ſo iſt dieß letztere lebhafter und feſter, als die ſelbſtgemachte Fiktion hat ſeyn koͤnnen. Hier iſt die Grenzlinie. „Die Dichtkraft kann keine „einfache neue Scheine hervorbringen, die ſo voll und „lebhaft ſind, als die Wiedervorſtellungen von vermiſch- „ten Empfindungen.“ Aber es ſcheinet doch, als wenn ſie in einigen Faͤllen auf die aͤußerſte dieſer Grenze hin- komme, zumal alsdenn, wenn die neue Fiktion mit ei- nem einfachen Wort hat bezeichnet werden koͤnnen; denn dadurch werden ihre vereinigten Theile unzertrennbarer und die ganze Vorſtellung in der Phantaſie wird inniger und feſter vereiniget. Solche Vermiſchungen einfacher Phantasmate in Eine neue dem Gefuͤhl nach einfache Vorſtellung, entſte- hen auch in uns ohne Selbſtthaͤtigkeit aus Schwaͤche der Phantaſie. Die deutlich geweſene Empfindungs- vorſtellungen verlieren ihre Helligkeit, und die Zeit al- lein ſchwaͤchet ſie, wenn ſie nicht dann und wann wieder- um erneuret werden. Es verlieren ſich alſo die klei- nern Zwiſchenzuͤge, die zur Deutlichkeit des Ganzen, und zu dem Unterſcheiden der Theile von einander erforderlich waren.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/186>, abgerufen am 26.04.2024.