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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
7.
Wirkungsgesetze der Dichtkraft, wenn sie
neue einfache Vorstellungen bildet.

Man darf dieß Verfahren der Dichtkraft nur etwas
genauer in den erwähnten Wirkungen ansehen, so erge-
ben sich folgende allgemeine Regeln, wornach sie ver-
fährt, wenn sie neue einfache Vorstellungen durch die
Vermischung oder durch die Auflösung machet.

Erstes Gesetz. "Mehrere einfache Vorstellun-
"gen, die sich ähnlich oder einerley sind, fallen entwe-
"der von selbst zusammen, oder werden durch eine Thä-
"tigkeit der vorstellenden Kraft in Eine vereiniget."
Dieß Produkt von ihr ist zusammengesetzt. Es hat et-
was eigenes an sich, das in seinen Jngredienzen einzeln
genommen nicht vorhanden ist, und ist in so weit eine
neue Vorstellung; aber doch einfach für uns, weil wir
eben so wenig etwas vielfaches in ihm unterscheiden, als
in den Bestandtheilen, woraus es gemacht ist.

Die Dichtkraft vergrößert und verkleinert, und ma-
chet dadurch neue Vorstellungen, in welchen sich nicht
mehr unterscheiden lässet, als in denen, womit sie die
Veränderung vornahm. Sie häufet das Aehnliche und
das Einerley auf, oder vermindert es, und machet Grö-
ßen, Grade, Stufen, die über oder unter den Größen
der Empfindung sind. Sie schaffet Broddingnacks
und Lilliputier, Meilenlange Teufel u. s. w. Hier be-
hält sie die Formen, die sie in den Empfindungsvorstel-
lungen antrift und schaffet neue Größen in ihnen: Dieß
letztere ist nur ein besonderer Fall von der allgemeinen
Regel.

Zweytes Gesetz. "Laß zwey oder mehrere Em-
"pfindungsvorstellungen nicht völlig einerley seyn, aber
"doch Aehnlichkeiten haben, in denen sie zusammenfal-
"len; wenn dieß ist, so kann die Vorstellungskraft, in-

"dem
I. Verſuch. Ueber die Natur
7.
Wirkungsgeſetze der Dichtkraft, wenn ſie
neue einfache Vorſtellungen bildet.

Man darf dieß Verfahren der Dichtkraft nur etwas
genauer in den erwaͤhnten Wirkungen anſehen, ſo erge-
ben ſich folgende allgemeine Regeln, wornach ſie ver-
faͤhrt, wenn ſie neue einfache Vorſtellungen durch die
Vermiſchung oder durch die Aufloͤſung machet.

Erſtes Geſetz. „Mehrere einfache Vorſtellun-
„gen, die ſich aͤhnlich oder einerley ſind, fallen entwe-
„der von ſelbſt zuſammen, oder werden durch eine Thaͤ-
„tigkeit der vorſtellenden Kraft in Eine vereiniget.
Dieß Produkt von ihr iſt zuſammengeſetzt. Es hat et-
was eigenes an ſich, das in ſeinen Jngredienzen einzeln
genommen nicht vorhanden iſt, und iſt in ſo weit eine
neue Vorſtellung; aber doch einfach fuͤr uns, weil wir
eben ſo wenig etwas vielfaches in ihm unterſcheiden, als
in den Beſtandtheilen, woraus es gemacht iſt.

Die Dichtkraft vergroͤßert und verkleinert, und ma-
chet dadurch neue Vorſtellungen, in welchen ſich nicht
mehr unterſcheiden laͤſſet, als in denen, womit ſie die
Veraͤnderung vornahm. Sie haͤufet das Aehnliche und
das Einerley auf, oder vermindert es, und machet Groͤ-
ßen, Grade, Stufen, die uͤber oder unter den Groͤßen
der Empfindung ſind. Sie ſchaffet Broddingnacks
und Lilliputier, Meilenlange Teufel u. ſ. w. Hier be-
haͤlt ſie die Formen, die ſie in den Empfindungsvorſtel-
lungen antrift und ſchaffet neue Groͤßen in ihnen: Dieß
letztere iſt nur ein beſonderer Fall von der allgemeinen
Regel.

Zweytes Geſetz. „Laß zwey oder mehrere Em-
„pfindungsvorſtellungen nicht voͤllig einerley ſeyn, aber
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„len; wenn dieß iſt, ſo kann die Vorſtellungskraft, in-

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[136/0196] I. Verſuch. Ueber die Natur 7. Wirkungsgeſetze der Dichtkraft, wenn ſie neue einfache Vorſtellungen bildet. Man darf dieß Verfahren der Dichtkraft nur etwas genauer in den erwaͤhnten Wirkungen anſehen, ſo erge- ben ſich folgende allgemeine Regeln, wornach ſie ver- faͤhrt, wenn ſie neue einfache Vorſtellungen durch die Vermiſchung oder durch die Aufloͤſung machet. Erſtes Geſetz. „Mehrere einfache Vorſtellun- „gen, die ſich aͤhnlich oder einerley ſind, fallen entwe- „der von ſelbſt zuſammen, oder werden durch eine Thaͤ- „tigkeit der vorſtellenden Kraft in Eine vereiniget.“ Dieß Produkt von ihr iſt zuſammengeſetzt. Es hat et- was eigenes an ſich, das in ſeinen Jngredienzen einzeln genommen nicht vorhanden iſt, und iſt in ſo weit eine neue Vorſtellung; aber doch einfach fuͤr uns, weil wir eben ſo wenig etwas vielfaches in ihm unterſcheiden, als in den Beſtandtheilen, woraus es gemacht iſt. Die Dichtkraft vergroͤßert und verkleinert, und ma- chet dadurch neue Vorſtellungen, in welchen ſich nicht mehr unterſcheiden laͤſſet, als in denen, womit ſie die Veraͤnderung vornahm. Sie haͤufet das Aehnliche und das Einerley auf, oder vermindert es, und machet Groͤ- ßen, Grade, Stufen, die uͤber oder unter den Groͤßen der Empfindung ſind. Sie ſchaffet Broddingnacks und Lilliputier, Meilenlange Teufel u. ſ. w. Hier be- haͤlt ſie die Formen, die ſie in den Empfindungsvorſtel- lungen antrift und ſchaffet neue Groͤßen in ihnen: Dieß letztere iſt nur ein beſonderer Fall von der allgemeinen Regel. Zweytes Geſetz. „Laß zwey oder mehrere Em- „pfindungsvorſtellungen nicht voͤllig einerley ſeyn, aber „doch Aehnlichkeiten haben, in denen ſie zuſammenfal- „len; wenn dieß iſt, ſo kann die Vorſtellungskraft, in- „dem

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/196>, abgerufen am 26.04.2024.