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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
den. Es ist niemals die Thätigkeit selbst, nie
das Bestreben selbst, welches wir unmittelbar
fühlen; es ist eine bleibende Folge von etwas,
das von unserer selbstthätigen Kraft nun nicht
hervorgebracht wird, sondern schon hervorge-
bracht worden ist, wenn es ein Objekt des Ge-
fühls ist;
eben so, wie der Körper zurückwirket, nicht ge-
gen seine eigene Thätigkeit, nicht auf das, was er wirket,
sondern gegen das, was er leidet. Dieß allgemeine
Gesetz bestätiget sich in allen Beobachtungen, die wir
mit klaren Bewußtseyn haben können. Aber ehe man
diese damit vergleichet, bereite man sich dazu mit eini-
gen Bemerkungen, die ich hinzufügen will.

4.

Es ist ein Unterschied zwischen Thun und Leiden
in der Seele, zwischen Veränderungen, wovon die Kraft
der Seele die thätige Ursache ist, und die durch ihre
Wirksamkeit hervorgebracht worden; und zwischen sol-
chen, die von fremden Ursachen außer uns entstehen,
oder die, wenn sie auch aus innern Ursachen in uns entstehen,
dennoch aus einem vorhergehenden Zustande, von selbst
entspringen, eben so wie die erstern, welche von außen
kommen, ohne daß weiter einige innere Kraftanwendung
der Seele sich dabey wirksam beweise. Der gemeine
Verstand hat diese Verschiedenheit bemerket. Sie muß
ihm recht lebhaft aufgefallen seyn, weil er sie in allen
Sprachen bezeichnet hat. Die Abtheilung ist dunkel
und noch in mancher Hinsicht unbestimmt; aber sie sey
es, und noch mehr, sie mag so gar als ein leerer Schein
bey einer genauern Entwickelung der Beschaffenheiten,
die wir Aktionen und Passionen nennen, verschwinden;
so kann doch nicht bestritten werden, daß die Beobach-
tung nicht auf einen solchen Unterschied hinführe. Und
wenn auch das schärfere Auge des Beobachters manches

für

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
den. Es iſt niemals die Thaͤtigkeit ſelbſt, nie
das Beſtreben ſelbſt, welches wir unmittelbar
fuͤhlen; es iſt eine bleibende Folge von etwas,
das von unſerer ſelbſtthaͤtigen Kraft nun nicht
hervorgebracht wird, ſondern ſchon hervorge-
bracht worden iſt, wenn es ein Objekt des Ge-
fuͤhls iſt;
eben ſo, wie der Koͤrper zuruͤckwirket, nicht ge-
gen ſeine eigene Thaͤtigkeit, nicht auf das, was er wirket,
ſondern gegen das, was er leidet. Dieß allgemeine
Geſetz beſtaͤtiget ſich in allen Beobachtungen, die wir
mit klaren Bewußtſeyn haben koͤnnen. Aber ehe man
dieſe damit vergleichet, bereite man ſich dazu mit eini-
gen Bemerkungen, die ich hinzufuͤgen will.

4.

Es iſt ein Unterſchied zwiſchen Thun und Leiden
in der Seele, zwiſchen Veraͤnderungen, wovon die Kraft
der Seele die thaͤtige Urſache iſt, und die durch ihre
Wirkſamkeit hervorgebracht worden; und zwiſchen ſol-
chen, die von fremden Urſachen außer uns entſtehen,
oder die, wenn ſie auch aus innern Urſachen in uns entſtehen,
dennoch aus einem vorhergehenden Zuſtande, von ſelbſt
entſpringen, eben ſo wie die erſtern, welche von außen
kommen, ohne daß weiter einige innere Kraftanwendung
der Seele ſich dabey wirkſam beweiſe. Der gemeine
Verſtand hat dieſe Verſchiedenheit bemerket. Sie muß
ihm recht lebhaft aufgefallen ſeyn, weil er ſie in allen
Sprachen bezeichnet hat. Die Abtheilung iſt dunkel
und noch in mancher Hinſicht unbeſtimmt; aber ſie ſey
es, und noch mehr, ſie mag ſo gar als ein leerer Schein
bey einer genauern Entwickelung der Beſchaffenheiten,
die wir Aktionen und Paſſionen nennen, verſchwinden;
ſo kann doch nicht beſtritten werden, daß die Beobach-
tung nicht auf einen ſolchen Unterſchied hinfuͤhre. Und
wenn auch das ſchaͤrfere Auge des Beobachters manches

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[174/0234] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, den. Es iſt niemals die Thaͤtigkeit ſelbſt, nie das Beſtreben ſelbſt, welches wir unmittelbar fuͤhlen; es iſt eine bleibende Folge von etwas, das von unſerer ſelbſtthaͤtigen Kraft nun nicht hervorgebracht wird, ſondern ſchon hervorge- bracht worden iſt, wenn es ein Objekt des Ge- fuͤhls iſt; eben ſo, wie der Koͤrper zuruͤckwirket, nicht ge- gen ſeine eigene Thaͤtigkeit, nicht auf das, was er wirket, ſondern gegen das, was er leidet. Dieß allgemeine Geſetz beſtaͤtiget ſich in allen Beobachtungen, die wir mit klaren Bewußtſeyn haben koͤnnen. Aber ehe man dieſe damit vergleichet, bereite man ſich dazu mit eini- gen Bemerkungen, die ich hinzufuͤgen will. 4. Es iſt ein Unterſchied zwiſchen Thun und Leiden in der Seele, zwiſchen Veraͤnderungen, wovon die Kraft der Seele die thaͤtige Urſache iſt, und die durch ihre Wirkſamkeit hervorgebracht worden; und zwiſchen ſol- chen, die von fremden Urſachen außer uns entſtehen, oder die, wenn ſie auch aus innern Urſachen in uns entſtehen, dennoch aus einem vorhergehenden Zuſtande, von ſelbſt entſpringen, eben ſo wie die erſtern, welche von außen kommen, ohne daß weiter einige innere Kraftanwendung der Seele ſich dabey wirkſam beweiſe. Der gemeine Verſtand hat dieſe Verſchiedenheit bemerket. Sie muß ihm recht lebhaft aufgefallen ſeyn, weil er ſie in allen Sprachen bezeichnet hat. Die Abtheilung iſt dunkel und noch in mancher Hinſicht unbeſtimmt; aber ſie ſey es, und noch mehr, ſie mag ſo gar als ein leerer Schein bey einer genauern Entwickelung der Beſchaffenheiten, die wir Aktionen und Paſſionen nennen, verſchwinden; ſo kann doch nicht beſtritten werden, daß die Beobach- tung nicht auf einen ſolchen Unterſchied hinfuͤhre. Und wenn auch das ſchaͤrfere Auge des Beobachters manches fuͤr

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/234>, abgerufen am 27.04.2024.