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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
und moralischen Empfindnisse für sich selbst nichts an
sich haben, was sie so reizend macht. Jn jedem Fall
soll eine angenehme äußerliche körperliche Empfindung,
entweder in der Phantasie oder in der Empfindung, mit
den innern Gefühlen vergesellschaftet seyn, oft ohne daß
wir diese gewahrnehmen, und dadurch sollen sie das An-
ziehende erhalten, das uns mit einer Art von Leidenschaft
gegen sie erfüllet. Die körperlichen Vergnügungen sind
der Nervensaft, der alle übrige Empfindungen und Vor-
stellungen belebet, ohne welche diese nichts als eine todte
Masse seyn würde.

Die dieser entgegengesetzte Hypothese ist edler. Die-
ser zufolge hat jedwede Art von Veränderungen und Thä-
tigkeiten, die uns ein Gefühl unserer Realität gewähren,
eine eigene ursprünglich rührende Kraft in sich. Ein
ungehindertes Denken ohne Gefühl von Schwäche, ein
mächtiges Wollen und Wirken ist allein für sich ein ur-
sprünglich angenehmer Zustand, ohne Rücksicht auf die
begleitende Empfindungen oder Vorstellungen, die ohne
Zweifel ihre bewegende Kraft mit jener ihren vereinigen.
Nach dem ersten System sind es blos die thierische;
nach dieser letztern auch die geistigen Modifikationes, wel-
che zu der ganzen Masse des Wohls und der Glückse-
ligkeit in der Seele ihren Antheil beytragen.

3.

Ohne mich in das weitläuftige Besondere der Be-
obachtungen hierüber einzulassen, will ich nur einige all-
gemeine Anmerkungen hinzufügen, die meine jetzige Ab-
sicht zulässet und zum Theil erfodert.

Die erst erwähnte Meinung ist einer andern theoreti-
schen Hypothese einiger Philosophen von dem Ursprung
aller Vorstellungen aus den äußern Sinnen ähnlich,
und beruhet auch eben so, wie diese letztere, auf einseitigen
Beobachtungen und auf unbestimmten Begriffen. Man

sehe

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
und moraliſchen Empfindniſſe fuͤr ſich ſelbſt nichts an
ſich haben, was ſie ſo reizend macht. Jn jedem Fall
ſoll eine angenehme aͤußerliche koͤrperliche Empfindung,
entweder in der Phantaſie oder in der Empfindung, mit
den innern Gefuͤhlen vergeſellſchaftet ſeyn, oft ohne daß
wir dieſe gewahrnehmen, und dadurch ſollen ſie das An-
ziehende erhalten, das uns mit einer Art von Leidenſchaft
gegen ſie erfuͤllet. Die koͤrperlichen Vergnuͤgungen ſind
der Nervenſaft, der alle uͤbrige Empfindungen und Vor-
ſtellungen belebet, ohne welche dieſe nichts als eine todte
Maſſe ſeyn wuͤrde.

Die dieſer entgegengeſetzte Hypotheſe iſt edler. Die-
ſer zufolge hat jedwede Art von Veraͤnderungen und Thaͤ-
tigkeiten, die uns ein Gefuͤhl unſerer Realitaͤt gewaͤhren,
eine eigene urſpruͤnglich ruͤhrende Kraft in ſich. Ein
ungehindertes Denken ohne Gefuͤhl von Schwaͤche, ein
maͤchtiges Wollen und Wirken iſt allein fuͤr ſich ein ur-
ſpruͤnglich angenehmer Zuſtand, ohne Ruͤckſicht auf die
begleitende Empfindungen oder Vorſtellungen, die ohne
Zweifel ihre bewegende Kraft mit jener ihren vereinigen.
Nach dem erſten Syſtem ſind es blos die thieriſche;
nach dieſer letztern auch die geiſtigen Modifikationes, wel-
che zu der ganzen Maſſe des Wohls und der Gluͤckſe-
ligkeit in der Seele ihren Antheil beytragen.

3.

Ohne mich in das weitlaͤuftige Beſondere der Be-
obachtungen hieruͤber einzulaſſen, will ich nur einige all-
gemeine Anmerkungen hinzufuͤgen, die meine jetzige Ab-
ſicht zulaͤſſet und zum Theil erfodert.

Die erſt erwaͤhnte Meinung iſt einer andern theoreti-
ſchen Hypotheſe einiger Philoſophen von dem Urſprung
aller Vorſtellungen aus den aͤußern Sinnen aͤhnlich,
und beruhet auch eben ſo, wie dieſe letztere, auf einſeitigen
Beobachtungen und auf unbeſtimmten Begriffen. Man

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[226/0286] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, und moraliſchen Empfindniſſe fuͤr ſich ſelbſt nichts an ſich haben, was ſie ſo reizend macht. Jn jedem Fall ſoll eine angenehme aͤußerliche koͤrperliche Empfindung, entweder in der Phantaſie oder in der Empfindung, mit den innern Gefuͤhlen vergeſellſchaftet ſeyn, oft ohne daß wir dieſe gewahrnehmen, und dadurch ſollen ſie das An- ziehende erhalten, das uns mit einer Art von Leidenſchaft gegen ſie erfuͤllet. Die koͤrperlichen Vergnuͤgungen ſind der Nervenſaft, der alle uͤbrige Empfindungen und Vor- ſtellungen belebet, ohne welche dieſe nichts als eine todte Maſſe ſeyn wuͤrde. Die dieſer entgegengeſetzte Hypotheſe iſt edler. Die- ſer zufolge hat jedwede Art von Veraͤnderungen und Thaͤ- tigkeiten, die uns ein Gefuͤhl unſerer Realitaͤt gewaͤhren, eine eigene urſpruͤnglich ruͤhrende Kraft in ſich. Ein ungehindertes Denken ohne Gefuͤhl von Schwaͤche, ein maͤchtiges Wollen und Wirken iſt allein fuͤr ſich ein ur- ſpruͤnglich angenehmer Zuſtand, ohne Ruͤckſicht auf die begleitende Empfindungen oder Vorſtellungen, die ohne Zweifel ihre bewegende Kraft mit jener ihren vereinigen. Nach dem erſten Syſtem ſind es blos die thieriſche; nach dieſer letztern auch die geiſtigen Modifikationes, wel- che zu der ganzen Maſſe des Wohls und der Gluͤckſe- ligkeit in der Seele ihren Antheil beytragen. 3. Ohne mich in das weitlaͤuftige Beſondere der Be- obachtungen hieruͤber einzulaſſen, will ich nur einige all- gemeine Anmerkungen hinzufuͤgen, die meine jetzige Ab- ſicht zulaͤſſet und zum Theil erfodert. Die erſt erwaͤhnte Meinung iſt einer andern theoreti- ſchen Hypotheſe einiger Philoſophen von dem Urſprung aller Vorſtellungen aus den aͤußern Sinnen aͤhnlich, und beruhet auch eben ſo, wie dieſe letztere, auf einſeitigen Beobachtungen und auf unbeſtimmten Begriffen. Man ſehe

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/286>, abgerufen am 26.04.2024.