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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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XI. Versuch. Ueber die Grundkraft
als es einer ist, Feuer und Licht zu gebrauchen. Man
suchet die Grundbeschaffenheiten seiner Natur, den Keim,
wovon die sichtbaren Unterscheidungszeichen aussprießen.

3.

Zu diesem Grundcharakter der Menschheit haben
die Philosophen bald diese, bald jene von den angeführ-
ten Eigenheiten für schicklich gehalten. Diejenigen ha-
ben ein näheres Recht hiezu, die sich auf die übrigen so
beziehen, daß sie alle, oder doch die mehresten aus ih-
nen gefolgert werden können. Jede von diesen stellet
Eine besondere Seite des ganzen Charakters dar, aber
auch jede für sich allein genommen giebt gewöhnlicher
Weise nur eine einseitige Jdee, und ist zu unbestimmt.
Die vornehmsten, die man als Grundmerkmale ge-
braucht hat, will ich anführen, und meine Gedanken
darüber sagen. Solche Art von Kritiken sind nicht un-
nütz, wenn es gleich noch nützlicher wäre, es besser zu
machen. Aber es versteht sich auch, daß es nicht nütz-
lich sey, bey der Anzeige, wo andere stehen geblieben
sind, es zu vergessen, wie groß das Verdienst war, bis
dahin fortgerücket zu seyn.

Hr. Rousseau nahm die Perfektibilität (Ver-
vollkommlichkeit) des Menschen, die ihn in einem so
vorzüglich hohen Grade vor andern empfindenden Wesen
zukommt, als ein bestimmtes Grundmerkmal der
Menschheit an. Sie findet sich überall, wo sich die
Menschheit findet. Das neugebohrne Kind, der Wald-
mensch, der Schafmensch, der Bärmensch sind nicht
entwickelt, nicht vervollkommet, wie es ein Mensch wer-
den kann, aber die Möglichkeit, die Anlage dazu war
in ihnen.

Mich deucht, dieser Charakter ist noch zu unbe-
stimmt. Von der Perfektibilität der Seelenfähig-
keiten
soll nur die Rede seyn, nicht von den Körper-

kräften.

XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
als es einer iſt, Feuer und Licht zu gebrauchen. Man
ſuchet die Grundbeſchaffenheiten ſeiner Natur, den Keim,
wovon die ſichtbaren Unterſcheidungszeichen ausſprießen.

3.

Zu dieſem Grundcharakter der Menſchheit haben
die Philoſophen bald dieſe, bald jene von den angefuͤhr-
ten Eigenheiten fuͤr ſchicklich gehalten. Diejenigen ha-
ben ein naͤheres Recht hiezu, die ſich auf die uͤbrigen ſo
beziehen, daß ſie alle, oder doch die mehreſten aus ih-
nen gefolgert werden koͤnnen. Jede von dieſen ſtellet
Eine beſondere Seite des ganzen Charakters dar, aber
auch jede fuͤr ſich allein genommen giebt gewoͤhnlicher
Weiſe nur eine einſeitige Jdee, und iſt zu unbeſtimmt.
Die vornehmſten, die man als Grundmerkmale ge-
braucht hat, will ich anfuͤhren, und meine Gedanken
daruͤber ſagen. Solche Art von Kritiken ſind nicht un-
nuͤtz, wenn es gleich noch nuͤtzlicher waͤre, es beſſer zu
machen. Aber es verſteht ſich auch, daß es nicht nuͤtz-
lich ſey, bey der Anzeige, wo andere ſtehen geblieben
ſind, es zu vergeſſen, wie groß das Verdienſt war, bis
dahin fortgeruͤcket zu ſeyn.

Hr. Rouſſeau nahm die Perfektibilitaͤt (Ver-
vollkommlichkeit) des Menſchen, die ihn in einem ſo
vorzuͤglich hohen Grade vor andern empfindenden Weſen
zukommt, als ein beſtimmtes Grundmerkmal der
Menſchheit an. Sie findet ſich uͤberall, wo ſich die
Menſchheit findet. Das neugebohrne Kind, der Wald-
menſch, der Schafmenſch, der Baͤrmenſch ſind nicht
entwickelt, nicht vervollkommet, wie es ein Menſch wer-
den kann, aber die Moͤglichkeit, die Anlage dazu war
in ihnen.

Mich deucht, dieſer Charakter iſt noch zu unbe-
ſtimmt. Von der Perfektibilitaͤt der Seelenfaͤhig-
keiten
ſoll nur die Rede ſeyn, nicht von den Koͤrper-

kraͤften.
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[742/0802] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft als es einer iſt, Feuer und Licht zu gebrauchen. Man ſuchet die Grundbeſchaffenheiten ſeiner Natur, den Keim, wovon die ſichtbaren Unterſcheidungszeichen ausſprießen. 3. Zu dieſem Grundcharakter der Menſchheit haben die Philoſophen bald dieſe, bald jene von den angefuͤhr- ten Eigenheiten fuͤr ſchicklich gehalten. Diejenigen ha- ben ein naͤheres Recht hiezu, die ſich auf die uͤbrigen ſo beziehen, daß ſie alle, oder doch die mehreſten aus ih- nen gefolgert werden koͤnnen. Jede von dieſen ſtellet Eine beſondere Seite des ganzen Charakters dar, aber auch jede fuͤr ſich allein genommen giebt gewoͤhnlicher Weiſe nur eine einſeitige Jdee, und iſt zu unbeſtimmt. Die vornehmſten, die man als Grundmerkmale ge- braucht hat, will ich anfuͤhren, und meine Gedanken daruͤber ſagen. Solche Art von Kritiken ſind nicht un- nuͤtz, wenn es gleich noch nuͤtzlicher waͤre, es beſſer zu machen. Aber es verſteht ſich auch, daß es nicht nuͤtz- lich ſey, bey der Anzeige, wo andere ſtehen geblieben ſind, es zu vergeſſen, wie groß das Verdienſt war, bis dahin fortgeruͤcket zu ſeyn. Hr. Rouſſeau nahm die Perfektibilitaͤt (Ver- vollkommlichkeit) des Menſchen, die ihn in einem ſo vorzuͤglich hohen Grade vor andern empfindenden Weſen zukommt, als ein beſtimmtes Grundmerkmal der Menſchheit an. Sie findet ſich uͤberall, wo ſich die Menſchheit findet. Das neugebohrne Kind, der Wald- menſch, der Schafmenſch, der Baͤrmenſch ſind nicht entwickelt, nicht vervollkommet, wie es ein Menſch wer- den kann, aber die Moͤglichkeit, die Anlage dazu war in ihnen. Mich deucht, dieſer Charakter iſt noch zu unbe- ſtimmt. Von der Perfektibilitaͤt der Seelenfaͤhig- keiten ſoll nur die Rede ſeyn, nicht von den Koͤrper- kraͤften.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 742. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/802>, abgerufen am 26.04.2024.