Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
kann, die aus den Verhältnissen und Beziehungen ent-
springen, worinn jene Empfindungen und Vorstellungen
unter sich stehen, und die ihrer Beziehung auf den Zu-
stand der Seele gemäß sind. Jn so weit ist die Em-
pfindsamkeit nichts, als eine größere und feinere Modi-
fikabilität in dem Jnnern, nebst einem feinen Gefühl;
und ist für sich allein keine Wirkung der thätigen Kraft,
weder der vorstellenden noch der handelnden. Der Em-
pfindsame leidet, wenn er Empfindnisse hat; so viele
Thätigkeit der Seele auch vorher erfodert werden mag,
ehe er empfindsam geworden ist, das ist, eine solche Fein-
heit des Gefühls erlanget hat. Es ist blos Leiden und
Fühlen, wenn der Kenner von den feinern Schönheiten
eines Gedichts, einer Statue, eines Gemäldes u. s. f.
gerühret wird. Aber daß er dieses Gefühls fähig ist,
hat lebhafte Thätigkeiten, Vorstellungen und Ueberle-
gungen gekostet, durch welche die natürliche Trägheit und
Ungeschmeidigkeit der Seele gehoben werden müssen.
Denn aus einer trägen und todten Masse ist sie zu einem
lebenden, jedem Eindruck offenen, leicht beweglichen
gefühlvollen Wesen gemacht worden. Ueberdieß ist jed-
wedes Empfindniß ein Reiz zu neuen thätigen Aeuße-
rungen, die den Unempfindlichen nicht anwandeln. Diese
fernern mittelbaren Folgen der Empfindsamkeit muß man
eben so, wie ihre vorhergehende entfernte Ursache abrech-
nen; dann bleibet für sie selbst nichts mehr, als ein hö-
herer Grad der innern Empfänglichkeit
und des
Empfindungsvermögens
übrig. *)

Das Wort Wille wird noch selten anders gebraucht,
als da, wo die Seele sich selbst nach schon vorhande-
nen Vorstellungen zu ihrer Kraftäußerung bestimmet.
Wenn der Wille für das ganze Vermögen, thätig zu
seyn, -- Vorstellungen machen und Denken abgerech-
net, -- genommen wird, so können für die drey Grund-

vermögen
*) Zweeter Versuch III. 3. V. 1.

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
kann, die aus den Verhaͤltniſſen und Beziehungen ent-
ſpringen, worinn jene Empfindungen und Vorſtellungen
unter ſich ſtehen, und die ihrer Beziehung auf den Zu-
ſtand der Seele gemaͤß ſind. Jn ſo weit iſt die Em-
pfindſamkeit nichts, als eine groͤßere und feinere Modi-
fikabilitaͤt in dem Jnnern, nebſt einem feinen Gefuͤhl;
und iſt fuͤr ſich allein keine Wirkung der thaͤtigen Kraft,
weder der vorſtellenden noch der handelnden. Der Em-
pfindſame leidet, wenn er Empfindniſſe hat; ſo viele
Thaͤtigkeit der Seele auch vorher erfodert werden mag,
ehe er empfindſam geworden iſt, das iſt, eine ſolche Fein-
heit des Gefuͤhls erlanget hat. Es iſt blos Leiden und
Fuͤhlen, wenn der Kenner von den feinern Schoͤnheiten
eines Gedichts, einer Statue, eines Gemaͤldes u. ſ. f.
geruͤhret wird. Aber daß er dieſes Gefuͤhls faͤhig iſt,
hat lebhafte Thaͤtigkeiten, Vorſtellungen und Ueberle-
gungen gekoſtet, durch welche die natuͤrliche Traͤgheit und
Ungeſchmeidigkeit der Seele gehoben werden muͤſſen.
Denn aus einer traͤgen und todten Maſſe iſt ſie zu einem
lebenden, jedem Eindruck offenen, leicht beweglichen
gefuͤhlvollen Weſen gemacht worden. Ueberdieß iſt jed-
wedes Empfindniß ein Reiz zu neuen thaͤtigen Aeuße-
rungen, die den Unempfindlichen nicht anwandeln. Dieſe
fernern mittelbaren Folgen der Empfindſamkeit muß man
eben ſo, wie ihre vorhergehende entfernte Urſache abrech-
nen; dann bleibet fuͤr ſie ſelbſt nichts mehr, als ein hoͤ-
herer Grad der innern Empfaͤnglichkeit
und des
Empfindungsvermoͤgens
uͤbrig. *)

Das Wort Wille wird noch ſelten anders gebraucht,
als da, wo die Seele ſich ſelbſt nach ſchon vorhande-
nen Vorſtellungen zu ihrer Kraftaͤußerung beſtimmet.
Wenn der Wille fuͤr das ganze Vermoͤgen, thaͤtig zu
ſeyn, — Vorſtellungen machen und Denken abgerech-
net, — genommen wird, ſo koͤnnen fuͤr die drey Grund-

vermoͤgen
*) Zweeter Verſuch III. 3. V. 1.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0686" n="626"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
kann, die aus den Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en und Beziehungen ent-<lb/>
&#x017F;pringen, worinn jene Empfindungen und Vor&#x017F;tellungen<lb/>
unter &#x017F;ich &#x017F;tehen, und die ihrer Beziehung auf den Zu-<lb/>
&#x017F;tand der Seele gema&#x0364;ß &#x017F;ind. Jn &#x017F;o weit i&#x017F;t die Em-<lb/>
pfind&#x017F;amkeit nichts, als eine gro&#x0364;ßere und feinere Modi-<lb/>
fikabilita&#x0364;t in dem Jnnern, neb&#x017F;t einem feinen Gefu&#x0364;hl;<lb/>
und i&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ich allein keine Wirkung der tha&#x0364;tigen Kraft,<lb/>
weder der vor&#x017F;tellenden noch der handelnden. Der Em-<lb/>
pfind&#x017F;ame <hi rendition="#fr">leidet,</hi> wenn er Empfindni&#x017F;&#x017F;e hat; &#x017F;o viele<lb/>
Tha&#x0364;tigkeit der Seele auch vorher erfodert werden mag,<lb/>
ehe er empfind&#x017F;am geworden i&#x017F;t, das i&#x017F;t, eine &#x017F;olche Fein-<lb/>
heit des Gefu&#x0364;hls erlanget hat. Es i&#x017F;t blos <hi rendition="#fr">Leiden</hi> und<lb/>
Fu&#x0364;hlen, wenn der Kenner von den feinern Scho&#x0364;nheiten<lb/>
eines Gedichts, einer Statue, eines Gema&#x0364;ldes u. &#x017F;. f.<lb/>
geru&#x0364;hret wird. Aber daß er die&#x017F;es Gefu&#x0364;hls fa&#x0364;hig i&#x017F;t,<lb/>
hat lebhafte Tha&#x0364;tigkeiten, Vor&#x017F;tellungen und Ueberle-<lb/>
gungen geko&#x017F;tet, durch welche die natu&#x0364;rliche Tra&#x0364;gheit und<lb/>
Unge&#x017F;chmeidigkeit der Seele gehoben werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Denn aus einer tra&#x0364;gen und todten Ma&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t &#x017F;ie zu einem<lb/>
lebenden, jedem Eindruck offenen, leicht beweglichen<lb/>
gefu&#x0364;hlvollen We&#x017F;en gemacht worden. Ueberdieß i&#x017F;t jed-<lb/>
wedes Empfindniß ein Reiz zu neuen tha&#x0364;tigen Aeuße-<lb/>
rungen, die den Unempfindlichen nicht anwandeln. Die&#x017F;e<lb/>
fernern mittelbaren Folgen der Empfind&#x017F;amkeit muß man<lb/>
eben &#x017F;o, wie ihre vorhergehende entfernte Ur&#x017F;ache abrech-<lb/>
nen; dann bleibet fu&#x0364;r &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t nichts mehr, als ein <hi rendition="#fr">ho&#x0364;-<lb/>
herer Grad der innern Empfa&#x0364;nglichkeit</hi> und <hi rendition="#fr">des<lb/>
Empfindungsvermo&#x0364;gens</hi> u&#x0364;brig. <note place="foot" n="*)">Zweeter <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch</hi> <hi rendition="#aq">III. 3. V.</hi> 1.</note></p><lb/>
            <p>Das Wort <hi rendition="#fr">Wille</hi> wird noch &#x017F;elten anders gebraucht,<lb/>
als da, wo die Seele <hi rendition="#fr">&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi> nach &#x017F;chon vorhande-<lb/>
nen Vor&#x017F;tellungen zu ihrer Krafta&#x0364;ußerung be&#x017F;timmet.<lb/>
Wenn der Wille fu&#x0364;r das ganze Vermo&#x0364;gen, tha&#x0364;tig zu<lb/>
&#x017F;eyn, &#x2014; Vor&#x017F;tellungen machen und Denken abgerech-<lb/>
net, &#x2014; genommen wird, &#x017F;o ko&#x0364;nnen fu&#x0364;r die drey Grund-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vermo&#x0364;gen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[626/0686] X. Verſuch. Ueber die Beziehung kann, die aus den Verhaͤltniſſen und Beziehungen ent- ſpringen, worinn jene Empfindungen und Vorſtellungen unter ſich ſtehen, und die ihrer Beziehung auf den Zu- ſtand der Seele gemaͤß ſind. Jn ſo weit iſt die Em- pfindſamkeit nichts, als eine groͤßere und feinere Modi- fikabilitaͤt in dem Jnnern, nebſt einem feinen Gefuͤhl; und iſt fuͤr ſich allein keine Wirkung der thaͤtigen Kraft, weder der vorſtellenden noch der handelnden. Der Em- pfindſame leidet, wenn er Empfindniſſe hat; ſo viele Thaͤtigkeit der Seele auch vorher erfodert werden mag, ehe er empfindſam geworden iſt, das iſt, eine ſolche Fein- heit des Gefuͤhls erlanget hat. Es iſt blos Leiden und Fuͤhlen, wenn der Kenner von den feinern Schoͤnheiten eines Gedichts, einer Statue, eines Gemaͤldes u. ſ. f. geruͤhret wird. Aber daß er dieſes Gefuͤhls faͤhig iſt, hat lebhafte Thaͤtigkeiten, Vorſtellungen und Ueberle- gungen gekoſtet, durch welche die natuͤrliche Traͤgheit und Ungeſchmeidigkeit der Seele gehoben werden muͤſſen. Denn aus einer traͤgen und todten Maſſe iſt ſie zu einem lebenden, jedem Eindruck offenen, leicht beweglichen gefuͤhlvollen Weſen gemacht worden. Ueberdieß iſt jed- wedes Empfindniß ein Reiz zu neuen thaͤtigen Aeuße- rungen, die den Unempfindlichen nicht anwandeln. Dieſe fernern mittelbaren Folgen der Empfindſamkeit muß man eben ſo, wie ihre vorhergehende entfernte Urſache abrech- nen; dann bleibet fuͤr ſie ſelbſt nichts mehr, als ein hoͤ- herer Grad der innern Empfaͤnglichkeit und des Empfindungsvermoͤgens uͤbrig. *) Das Wort Wille wird noch ſelten anders gebraucht, als da, wo die Seele ſich ſelbſt nach ſchon vorhande- nen Vorſtellungen zu ihrer Kraftaͤußerung beſtimmet. Wenn der Wille fuͤr das ganze Vermoͤgen, thaͤtig zu ſeyn, — Vorſtellungen machen und Denken abgerech- net, — genommen wird, ſo koͤnnen fuͤr die drey Grund- vermoͤgen *) Zweeter Verſuch III. 3. V. 1.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/686
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/686>, abgerufen am 26.04.2024.